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Sophie parkte den Wagen am Holzdamm in St. Georg. Ben hatte sich einverstanden erklärt, gemeinsam mit ihr Lasse Anderson aufzusuchen. Sie nahmen Ronja an die Leine und liefen die letzten Meter zu Lasses Büro. Es befand sich in der obersten Etage eines alten mehrstöckigen Hauses. Sie klingelten.

»Taka Tuka TV Productions. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir möchten zu Lasse Anderson. Ist er im Haus?«

»Kleinen Augenblick.«

»Sagen Sie ihm, dass Sophie Sturm ihn sprechen muss.«

Ein paar Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Sophie und Ben nahmen den Fahrstuhl ins Loft.

Lasse saß an seinem Schreibtisch. Die Beine lagen quer darüber.

»Sophie, was kann ich für dich tun? Willst du die Gäste der nächsten geplanten Sendung wissen? Oder noch besser, hast du nicht gleich ein paar Promis, mit denen wir sofort eine neue Sendung produzieren können? Ich habe hier nämlich ein echtes Problem.«

Sophie sah ihn wütend an. »Du hast ein Problem? Das tut mir sehr leid. Und ich bin mir sicher, dass Laura nicht tot umgefallen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass es dir Probleme bereitet.«

»Ach, scheiße, so habe ich das doch gar nicht gemeint. Kerstin, du kannst dann Feierabend machen.«

Die junge Frau nickte lächelnd und packte ihre Sachen zusammen.

»Kerstin ist meine einzige feste Mitarbeiterin. Sie macht die Disposition und die ganze Organisation. Ich habe noch zwei freie Redakteure, die sind aber heute nicht da.«

»Ich habe frischen Kaffee aufgesetzt. Ich bin dann weg.«

Kerstin verschwand im Fahrstuhl.

»Das ist übrigens Ben. Ein guter Freund von mir. Und das ist Ronja.«

Lasse klopfte der begeisterten Hündin den Rücken und gab Ben die Hand. Dann führte er sie zu einem großen Konferenztisch. Sie nahmen Platz.

»Schönes Büro«, stellte Sophie fest.

»Ich habe auch einen tollen Balkon. Du bist aber sicher nicht vorbeigekommen, um die Aussicht zu genießen!«

Sophie schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Lasse, du musst uns einen Gefallen tun.«

Lasse sah sie überrascht an. »Und der wäre?«

»Die aufgezeichneten Bänder von der Show. Die habt ihr doch noch?«

»Logisch. Ich hatte gehofft, ich könnte sie meistbietend verkaufen, aber kein Sender hat sich getraut, ein sterbendes Hollywoodsternchen zu zeigen.«

Sophie schluckte ihren Ärger hinunter. Dass Lasse einmal so weit gehen würde, hätte sie nicht gedacht.

»Wir müssen die Bänder sehen. Alle.«

»Was? Ihr wollt euch die Bänder ansehen? Warum das?«

»Lasse, bitte. Es ist wichtig.«

»Erst sagst du mir mal, worum es hier eigentlich geht! Und wenn ich euch das Material tatsächlich ansehen lasse, dann nur mit mir zusammen, klar? Also, was läuft hier?«

 

*

 

 

Lasse führte sie in sein Studio. Sophie hatte ihm nichts von den Briefen erzählen müssen. Es hatte schon gereicht, einen bloßen Verdacht zu äußern, um seine Neugier zu wecken. Der Raum war zugestellt mit technischem Gerät. Neben diversen professionellen Videorekordern, dem Schnittplatz, Computern und zwei großen Monitoren fand sich gerade noch Platz für ein kleines Sofa. Sophie und Ben setzten sich. Ronja rollte sich zu ihren Füßen ein und döste.

»Also gut. Das hier ist das Erste.« Lasse legte ein Tape ein und verdunkelte den Raum. »Da müssen Lauras Vorbereitungen in der Küche drauf sein«, erklärte er und startete das Band.

Sophie fröstelte. Es war schwer zu ertragen, Laura plötzlich wieder so lebendig vor sich zu sehen. Sie sah großartig aus. Es war nur schwer vorstellbar, dass diese Frau kurze Zeit später tot zusammengebrochen war. Wer hätte denn so etwas ahnen können? Sophie lief es kalt den Rücken hinunter. Eine Person hatte es sogar sicher gewusst.

 Tape: Laura in der Küche:

Laura stand an der Arbeitsfläche. Vor ihr lagen unter anderem Avocados, Tomaten, Staudensellerie und ein Stück Thunfisch. Sie wirkte sehr konzentriert. Ein Koch reichte ihr ein Messer und verriet ein paar Tipps. Lasse gab ihr die letzten Anweisungen, dann ging er aus dem Bild. »Ruhe. Wir drehen. Und bitte!«

Laura strahlte auf Kommando. »Ich schneide jetzt den Thunfisch für meine Vorspeise.«

Kein Zuschauer würde je erfahren, dass der Koch den ersten Gang bereits fertig zubereitet hatte. Laura würfelte die Zutaten nur für die Kamera. Sie stellte sich gar nicht ungeschickt an. Sie hackte Koriander und rührte die Tomatensauce an. Charmant beschrieb sie dabei die einzelnen Arbeitsschritte und immer wieder lächelte sie in die Kamera. Stolz präsentierte sie den ersten Teller.

»Voila! Das ist meine Vorspeise. ThunfischCeviche mit frischem Koriander.«

»Und danke«, hörte man Lasse aus dem Off.

Lauras Lächeln war sofort aus ihrem Gesicht gewischt.

»Wir machen jetzt noch ein paar Close-ups.«

Es folgten noch mehrere Einstellungen, die den fertig angerichteten Teller zeigten.

Lasse drückte die Pausetaste der Fernbedienung.

»Das haben wir ohne Laura aufgenommen. Sie befand sich schon wieder in der Maske. Sie hatte auf eine kurze Unterbrechung bestanden und wollte, dass Ricky ihr Make-up noch mal überprüft. Die Technikcrew hat in der Zeit die Kameras und Scheinwerfer umgebaut. Nach etwa 20 Minuten konnten wir weitermachen«, erklärte Lasse und ließ den Film weiterlaufen.

Als Nächstes sah man die geschlossene Haustür. Laura trat ins Bild. Sie wirkte angespannt.

»Jetzt kommen die Gäste«, flüsterte Lasse. Seine Stimme war auch auf dem Tape zu hören.

»Also gut, Laura. Wenn wir hier gleich so weit sind, wird es an der Tür klingeln. Wie immer werden die drei Gäste gleichzeitig eintreffen. Du gehst zur Tür und öffnest. Du begrüßt deine Gäste und bittest sie ins Wohnzimmer zum Aperitif. Wir unterbrechen dann nach etwa zehn Minuten und drehen in der Küche weiter. Dort kannst du dann berichten, wie du dich mit den Gästen fühlst, und dabei die Vorspeisenteller dekorieren. Alles klar?«

Laura nickte, atmete tief durch und setzte ihr Hollywoodlächeln auf.

»Also gut. Ruhe bitte, wir drehen. Und bitte!«

Es klingelte. Laura strich sich durchs Haar und stolzierte zur Tür. Als sie die Gäste sah, glaubte Sophie für den Bruchteil einer Sekunde fast Angst auf ihrem Gesicht entdecken zu können.

»Ich werde verrückt«, lachte Laura und fiel dem ersten Gast um den Hals, um ihn mit zwei Küsschen auf die Wangen zu begrüßen. »Sascha! Mein Gott, ist das lange her.« Sie erblickte den zweiten Gast und wurde noch euphorischer. »Marcello! Ich glaube es nicht. Du siehst fantastisch aus.«

»Und du bist schöner denn je«, schmachtete Marcello Mari und gab ihr einen formvollendeten Handkuss, bevor er ihr um den Hals fiel.

»Du bist und bleibst der perfekte Gentleman.«

»Alter vor Schönheit, heißt es doch!«, polterte Victor Rubens und schob sich ins Bild.

»Nein. Das ist wirklich eine Überraschung. Victor!«

Sophie konzentrierte sich auf Laura. Es war unmöglich zu beurteilen, ob sie sich tatsächlich freute.

»Gut, dass du dich entschlossen hast, auch wieder in Deutschland zu arbeiten.« Rubens lachte und tätschelte ihr den Rücken. »Wir haben nicht so viele Prachtmädchen deines Formats.«

»Alter Charmeur.« Laura löste sich und sah ihre drei Gäste an. »Darf ich euch einen Aperitif anbieten? Einen Martini-Cocktail. Er ist der Auftakt zu meinem Hollywooddinner.«

Die Herren nahmen die Gläser. Die vier stießen an, und es folgten ein paar Minuten seichter Plauderei, in der sich die Runde mit Komplimenten überschüttete.

»Ihr Lieben, bitte nehmt doch im Esszimmer Platz.« Lauras Wangen glühten. Sie schien aufgeregt wie ein junges Mädchen zu sein. »Ich hole schnell die Vorspeise und bin gleich wieder zurück. Nicht weglaufen.«

»Wir laufen bestimmt nicht weg. Wir haben doch alle viel zu lange auf einen Abend mit dir warten müssen«, erklärte Sascha Richter aufgesetzt. Sein Lachen wirkte viel zu künstlich, um ehrlich gemeint zu sein.

Lasse machte Licht, um das nächste Tape herauszusuchen.

»Das ist jetzt das Band der zweiten Kamera. Im Grunde genommen zeigt es nur die Gegenschüsse. Willst du das trotzdem sehen?«

Sophie schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.«

»Also gut, dann käme jetzt die Nummer drei. Laura in der Küche. Wie sie der Vorspeise den letzten Schliff gibt und ihre Meinung zu den Gästen kundtut. Vorher ist sie noch ausgeflippt. Ich weiß aber nicht mehr, ob die Kamera da mitgelaufen ist.«

»Ihr dreht nur mit zwei Kameras?«

»Nein. Mit drei. Die dritte ist allerdings unbesetzt. Sie zeigt nur eine Totale des Esstisches mit den Gästen, damit wir Schnittbilder haben. Wir lassen sie meistens die ganze Zeit durchlaufen.«

»Ihr habt sie laufen lassen?«, fragte Sophie aufgeregt nach. »Du meinst, die anderen Gäste wurden weitergefilmt, als ihr eigentlich mit Laura in der Küche gedreht habt?«

»Könnte sein.«

»Ich will das Band sehen! Ist doch interessant zu hören, was die Herren sich hinter Lauras Rücken zu erzählen hatten.«

 

Lasse löschte das Licht. Sophie hielt vor Spannung die Luft an. Das Band zeigte den Esstisch. Die drei Männer schenkten sich bereits Wein ein.

»Meine Herren, ihr entschuldigt mich? Ich muss mal austreten«, sagte Victor Rubens. Er schob den Stuhl zurück und verschwand aus dem Bild. Das Öffnen und Schließen einer Tür war zu hören. Er hatte das Esszimmer verlassen.

»Ich kann nicht glauben, dass man ausgerechnet uns drei ausgewählt hat«, meinte Sascha Richter und nippte am Wein.

»Du warst ja auch schon immer zu dämlich.« Marcello Mari lehnte sich zurück und streckte sich. »Die sind hier gar nicht an einem harmonischen Abend interessiert. Der Produktionsfirma wäre es doch am liebsten, wenn wir uns am Ende die Köpfe einschlagen. Einschaltquote.«

»Klar, dass du da nicht Nein sagen konntest«, giftete Richter. »Du würdest doch alles tun, um in die Presse zu kommen.«

»Das ist Teil des Berufs. Das kannst du natürlich nicht wissen. Als Schauspieler arbeitest du doch schon lange nicht mehr. Was mich ehrlich gesagt auch nicht wundert. Nach der armseligen Vorstellung. Die liebe Laura hat dich damals ganz schön alt aussehen lassen.«

»Du kannst mich nicht provozieren, Marcello. Mich hat sie nicht aus ihrem Bett geworfen.«

»Du warst ja auch nie drin in ihrem Bett. Du hast es nicht mal von Weitem gesehen.«

Sascha schenkte sich Wein nach.

»Darfst du eigentlich trinken?«, fragte Mari übertrieben besorgt. »Wundert mich. Es ist doch allgemein bekannt, dass du massivste Alkoholprobleme hast. Alkis sollten doch besser die Finger von dem Zeug lassen, oder?«

»Warum hältst du nicht deine arrogante Fresse?«

»Puh, nun sei mal nicht gekränkt. Ich denke, du solltest dir nur nicht die Chance verbauen, vielleicht doch noch mal irgendwo eine Nebenrolle spielen zu dürfen.« Er strahlte sein Gegenüber an und ließ sein perfektes Gebiss blitzen. Es wirkte eher wie eine Drohgebärde. »Deutschlands Erfolgsproduzent sitzt mit am Tisch. Wenn du dich gut hältst und lieb bitte bitte sagst, darfst du vielleicht den Pferdepfleger in seiner nächsten Schmalzette spielen.«

Selbst in der Totalen erkannte man, dass Sascha Richter bis ins Mark getroffen war. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

»Marcello, ich warne dich. Ich habe nicht das geringste Problem damit, einer großen deutschen Tageszeitung zu erzählen, was für ein Typ du wirklich bist. Mit den Leuten, die ganz unten sind, sollte man immer rechnen. Die haben nämlich nichts mehr zu verlieren!«