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Sophie fühlte sich noch immer müde und zerschlagen, als sie eine halbe Stunde später als üblich die Augen aufschlug. Sie hatte schlecht geschlafen. Die halbe Nacht hatte sie die Geschehnisse der vergangenen Tage wider Willen Revue passieren lassen. Und auch in ihren Träumen tauchten Laura und der entstellte Victor Rubens auf. Sophie rappelte sich hoch und beschloss, das Joggen ausfallen zu lassen. Auch die auffordernden Augen der kleinen Hundedame motivierten sie nicht. Es war ohnehin zu spät. Mit Ronja im Schlepptau schlich sie in den Wintergarten und öffnete die Tür. Ronja stürmte nach draußen und tobte über den Rasen. Sophie setzte sich auf die Treppe und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es war schon wieder richtig warm. Sie beschloss, den Morgen mit einem Kaffee und der Tageszeitung auf der Liege im Garten zu starten. Vielleicht sollte sie sogar den ganzen Tag dort verbringen und das schöne Wetter genießen. Etwas Entspannung würde ihr guttun. Ben hatte sicher recht. Lauras Tod setzte ihr mehr zu als vermutet. Gestern waren einfach ihre Nerven mit ihr durchgegangen. Jetzt kam sie sich selbst lächerlich vor, dass sie Maris Verhalten als persönliche Drohung gegen sich empfunden hatte. Natürlich war der Mann sauer. Er war pünktlich zu einem Interview erschienen und bekam fast nur unprofessionelle Fragen zu seinem früheren Privatleben gestellt. Sie war diejenige, die sich eigentlich entschuldigen musste. Sophie schlurfte im Pyjama aus der Haustür zum Briefkasten, der an der Pforte am Ende der Einfahrt angebracht war. Sie griff sich das Hamburger Abendblatt und blickte gähnend auf die Titelseite.
Sascha Richter! Tödlicher Balkonsturz!
*
Robert Feller hatte seine Joggingrunde beendet. Unentschlossen spazierte er am Elbstrand entlang. Er hatte gehofft, wieder auf Sophie zu treffen, aber sie ließ sich leider nicht blicken. Eigentlich musste er sich beeilen. Spätestens in einer halben Stunde sollte er im Wagen sitzen und auf dem Weg ins Präsidium sein. Robert beschloss, noch fünf Minuten zu warten. Vielleicht hatte sie nur verschlafen. Der dumme Alexander blickte jaulend zu ihm hoch. Zumindest hechelte er nicht mehr so furchtbar. Die Kondition des Königspudels besserte sich von Tag zu Tag. Robert stellte überrascht fest, dass er Alexander schon ein bisschen mochte. Vielleicht sollte er den Hund immer zum Joggen mitnehmen, selbst wenn seine Mutter wieder auf dem Damm war. Er könnte dann jeden Morgen mit Sophie und Ronja laufen und sie würden sich besser kennenlernen … Das Klingeln seines Handys holte ihn zurück in die Realität. Stefan!
»Robert, wo steckst du?«, bellte die Stimme seines Chefs aus dem kleinen Telefon.
»Ich wünsche dir auch einen guten Morgen. Ich bin gleich auf dem Weg. Wie war die Obduktion?«
»Ich bin noch bei Franck. Wir haben noch gar nicht richtig angefangen. Trotzdem gibt es bereits besorgniserregende Neuigkeiten.« Sperber machte eine kurze Pause. »Rubens wurde erschossen.«
»Was? Ich verstehe gerade nicht …«
»Lutz ist sich sicher und mich hat er mit seinen Argumenten überzeugt. Lutz wird natürlich auch nach Schmauchspuren auf Rubens’ Händen suchen, doch es ist leider ziemlich unwahrscheinlich, dass er welche finden wird. Ich erkläre dir alles später.«
»Wow.« Robert versuchte gerade, diese neuen Informationen einzuordnen, als Stefan ihn mit einer weiteren Neuigkeit überraschte.
»Und Sascha Richter ist anscheinend auch tot. Steht schon in der Zeitung.«
»Richter? Tot? Jetzt wird es aber langsam unheimlich.«
Am anderen Ende der Leitung wurde geschwiegen, doch Robert hörte Stefan atmen. Er sah ihn regelrecht vor sich. Wahrscheinlich stand er vor dem Gebäude des Rechtsmedizinischen Instituts und rauchte eine Zigarette. Die Schultern waren hochgezogen und sein Gesicht ein einziger mürrischer Ausdruck. Stefan war ein chronisch schlecht gelaunter Mensch, aber Robert hatte gelernt, dass seine schlechte Laune sich nicht wirklich gegen Kollegen richtete. Stefan nahm seinen Job nur sehr ernst. Und das durfte ja auch gar nicht anders sein. Sie klärten Verbrechen auf und versuchten, die Verantwortlichen zu finden, damit sie vor Gericht gestellt wurden. Es ging Robert nur auf die Nerven, wenn Stefan ihn wie seinen persönlichen Assistenten behandelte.
»Was jetzt?«, fragte er vorsichtig.
»Wir müssen mehr über die Todesumstände im Fall Sascha Richter erfahren. Ich möchte, dass du die nötigen Informationen von den Hamburger Kollegen einholst. Ich will alle Details. Diese Dinnerrunde ist ein einziger Albtraum.«
*
Sophie rannte sich die Lunge aus dem Hals. Hoffentlich war Robert noch am Elbstrand. Sie hatte versucht, ihn anzurufen, doch es war besetzt gewesen. Ronja hatte sie zu Hause gelassen, weil sie ohne Hund schneller war. Da stand er ja. Erleichtert drosselte sie ihr Tempo und lief auf ihn zu. Robert klappte gerade sein Telefon zu und sah sie überrascht an. Alexander begrüßte sie schwanzwedelnd.
»Du bist spät dran. Ich wollte gerade gehen. Guten Morgen.«
Sophie nickte nur. Vollkommen außer Atem stützte sie sich auf die Knie.
»Hast du es schon gehört?«, fragte sie keuchend.
»Die Sache mit Richter? Ja. Stefan hat mich gerade angerufen. Wo hast du Ronja gelassen?«
»Ronja?« Sie sah ihn fassungslos an »Das ist hier kein Frühsport. Ich muss mit dir sprechen. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber …«
»Mein Herr und Meister war an der Strippe«, erklärte Robert lächelnd. Sophie nickte und stellte nebenbei wieder fest, wie gut Robert eigentlich aussah. Schnell konzentrierte sie sich auf das Wesentliche.
»Sascha Richter ist tot. Das muss doch sogar euch jetzt mal zu denken geben. Laura hat testamentarisch einen Brief hinterlegt, dass sie glaubt, jemand wolle sie töten. Und sie ist tot. Rubens hat einen Abschiedsbrief geschrieben und sich angeblich erschossen. Richter war auch bei dem Dinner. Selbstmord? Tragischer Unfall? Ich bitte dich! Das ist doch nie im Leben Zufall. Was, wenn ihn jemand vom Balkon gestoßen hat?«
»Wir wissen noch nichts über die genaueren Umstände, die zu Richters Tod geführt haben.«
»Jetzt quatsch nicht so ein Beamtendeutsch daher. Ich bin mir sicher, dass der Mörder unter den Dinnergästen zu finden ist. Upps! Von denen lebt ja nur noch einer. Das macht die Sache eigentlich gar nicht mal so schwierig.« Sie sah ihn auffordernd an. »Ich würde ja mal bei Mari vorbeifahren. Es sei denn, ihr glaubt noch immer, dass Laura an einem Medikamentencocktail gestorben ist, Richter im Suff vom Balkon gepurzelt ist …«
»… und Rubens sich erschossen hat.«
Sophie nickte, dann starrte sie Robert Feller fragend an. »Hat er nicht?«
Robert wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. »Wenn ich dir nichts sage, rufst du sowieso Dr. Franck an, oder?«
»Logisch.«
Robert atmete durch. »Stefan ist noch bei der Obduktion, aber Franck ist sich sicher, dass Rubens ermordet wurde.«