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Sonntag

 

Sophie Sturm rührte in dem Eimer Ochsenblut. Sie starrte in das Rot und stellte sich vor, wie es an den Wänden ihrer neuen Küche wirken würde. Ein paar Fliegen schwirrten umher. Sie hatte die Fenster weit geöffnet. Nach drei heißen Sommertagen lag endlich ein Gewitter in der Luft. Dunkle Wolken türmten sich auf und ein böiger Wind wehte. Sophie fummelte ein Zopfgummi aus ihrer Hosentasche und band sich das lange Haar im Nacken zusammen. Der Farbton Ochsenblut war ein echter Hingucker. Sie hatte sich die Wandfarbe extra anmischen lassen. Der matte Edelstahl ihrer Kochutensilien würde vor dem dunklen Rot großartig wirken. Auch wenn sie jetzt schon vier Wochen in ihrer neuen Wohnung in Othmarschen wohnte, sah es bei ihr aus, als wäre sie gerade erst eingezogen. Überall standen Umzugskisten herum und einige Wände warteten noch auf ihren Anstrich. Sie hatte keine Eile. Wichtig war nur, dass am Ende alles so war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jeden Abend knipste sie die Bauscheinwerfer an und renovierte mit dem einen oder anderen Glas Rotwein in ihrem neuen Zuhause herum. Nach den Ereignissen auf Fehmarn im vergangenen Jahr, die sie um ein Haar das Leben gekostet hätten, hatte sie beschlossen, aus Eppendorf wegzuziehen. Es hatte sich damals so viel in ihrem Leben geändert, dass es für sie unmöglich war, weiter in ihrer alten Wohnung zu bleiben. Zu viel erinnerte sie an die Vergangenheit. Sie wollte einen persönlichen Neustart und dabei war ein neues Heim in einem anderen Stadtteil die logische Konsequenz. Auf Fehmarn hatte sie die Weite und die Nähe zum Wasser lieben gelernt. Sie hatte sogar einen Augenblick darüber nachgedacht, aufs Land zu ziehen. Eppendorf war ihr plötzlich eng und hektisch vorgekommen. Ohne ihren geliebten Hund hatte sie auch keinen Grund mehr gesehen, durch die Parks zu spazieren, und um die Alster war sie schon unzählige Male gejoggt. Als sie im matschig nassen Hamburger Winter die Elbchaussee entlangfuhr, um von einer Promiveranstaltung im Hotel Louis C. Jacob zu berichten, fasste sie den Entschluss, an die Elbe zu ziehen. Sie hatte in der Zeitung und im Internet nach einer neuen Unterkunft gesucht. Am Ende war es Zufall gewesen, dass sie die perfekte Wohnung gefunden hatte. Die Freundin ihrer Großmutter hatte eine Bekannte, die eine Mieterin für die Hochparterrewohnung ihrer Villa suchte. Mrs. Hamilton lebte in Malaysia und war nur wenige Wochen im Jahr in ihrem Geburtshaus in Hamburg. Sie hatte ihre Wohnung im ersten Stock und wünschte sich eine zuverlässige Person, die ein bisschen nach dem Rechten sah. Sophie hatte die hellgelbe Villa und den Garten nur von außen gesehen und sofort zugesagt. Die Wohnung war ein Traum. Das schnuckelige Schlafzimmer mit angrenzendem Bad war bereits fertig. Das Wohnzimmer war riesig, hatte herrlichen Stuck an der Decke und einen alten Kachelofen. Durch eine großzügige Schiebetür kam man ins Esszimmer und in die angrenzende Küche. Vom Esszimmer ging es durch einen fantastischen Wintergarten ein paar Stufen hinunter in den Garten hinaus. Jetzt blühten die Kletterrosen und die Hortensien. Ein alter Gärtner kümmerte sich liebevoll um die Pflanzen und den Rasen. Sophie genoss jede Sekunde, die sie draußen sitzen konnte. Endlich hatte sie einen Garten. Für Pelle, ihren geliebten Labrador, hatte sie sich immer einen Garten gewünscht. Pelle war im letzten Jahr brutal erschlagen worden. Den Garten widmete sie ihm post mortem.

Sophie hatte gerade die Farbrolle in den Eimer getaucht und war die Leiter hinaufgestiegen, als ihr Handy klingelte. Fluchend kletterte sie wieder hinunter und warf die Rolle zurück in den Eimer. Sie gönnte sich noch einen Schluck Wein, während sie das Telefon aus ihrer Handtasche fingerte.

»Hallo, Sophie Sturm!«

»Sophie! Wie schön, deine Stimme zu hören!«

»Mit wem spreche ich bitte?«

»Ich bin’s, Laura Crown!«

Sophie riss die Augenbrauen hoch. Laura? Vor über zehn Jahren waren sie als Models für die gleichen Shows gebucht worden. Sie hatten sich auf eine oberflächliche Art gut verstanden und waren manchmal nach einer Modenschau zusammen noch etwas essen gegangen oder hatten einen Drink genommen und über Gott und die Welt geplaudert. Laura war außergewöhnlich gewesen mit ihrem langen, fast schwarzen Haar und den eisblauen Augen. Sie hatte später mit Erfolg ins Schauspielfach gewechselt und war vor ein paar Jahren tatsächlich nach Hollywood aufgebrochen. Seitdem waren sie sich nie wieder begegnet. Wenn überhaupt, hatten sie höchstens dreimal miteinander telefoniert.

»Laura.« Es kam nicht oft vor, dass Sophie die Worte fehlten, aber jetzt war sie wirklich baff. »Lange nichts von dir gehört.«

»Ich weiß, ich weiß! Sorry, Darling! Ich war echt schlimm busy. Aber stell dir vor, ich mache gerade eine kurze Pause von Hollywood.«

»Läuft es doch nicht so?«

»Ach, Quatsch! Es läuft super! Aber Deutschland hat mich anscheinend wiederentdeckt. Ich werde eine Serie machen. Stell dir vor, das Angebot kam vom alten Rubens! Immer noch der Erfolgsproduzent in Good Old Germany.«

Sophie staunte tatsächlich. An Victor Rubens kam man, was hochkarätige Fernsehproduktionen in Deutschland anging, nicht vorbei. Einer seiner unzähligen Filme hatte auch Laura vor sieben Jahren zum Publikumsliebling gemacht.

»Das freut mich für dich. Victor Rubens ist immer noch der Erfolgsgarant. Gratuliere! Wann kommst du nach Deutschland?«

»Süße, ich bin schon längst da! Und ich habe eine tolle Idee! Du wirst begeistert sein!«

»Ich wüsste nicht …«

»Na, ich habe zufällig erfahren, dass du jetzt bei diesem Magazin bist. ›Stars & Style‹. Ich habe mir gedacht, unserer alten Freundschaft wegen bin ich es dir ja schuldig, dass ich dir als Erste die Möglichkeit gebe, ein Interview mit mir zu machen.«

»Laura, wir …« Ein Blitz zuckte am Himmel. Fast zeitgleich donnerte es gewaltig.

»Ich dachte an eine Homestory«, erklärte Laura weiter. »Im Moment wohne ich zwar im Hotel Atlantic, aber ich habe ein Haus auf Fehmarn gemietet. Dort zeichnen sie mit mir die ›Dinnerparty‹ auf. Du weißt schon, diese Promikochsendung. Ihr könntet Fotos machen, wie ich meine Speisen zubereite und den Tisch dekoriere. Nebenbei gebe ich euch ein Interview und verrate euch meine neuen Pläne.«

Sophie lief es kalt den Rücken hinunter, als sie das Wort ›Fehmarn‹ hörte.

»Laura, jetzt halte bitte mal die Luft an! Ich weiß gar nicht, ob das für unser Magazin interessant ist. Wir haben A-Promis.«

»A-Promis? Na, dann wäre ein echter Hollywoodstar doch mal eine Abwechslung. Warum treffen wir uns nicht einfach zum Lunch und besprechen die Sache?«

Die ersten Regentropfen prasselten auf die Küchenfliesen. Sophie klemmte sich das Telefon unters Kinn und schloss die Fenster.

»Laura, das ist nicht so einfach. Ich muss den Chefredakteur von der Geschichte überzeugen und ehrlich gesagt …«

»Sophie, Darling, sei nicht sauer, aber ich muss los. Wir sehen uns ja bald. Ich freu mich.«

 

Laura hatte aufgelegt. Sophie fragte sich, wohin sie denn so plötzlich musste? Eine Promiveranstaltung mit Laura Crown auf der Gästeliste gab es heute nicht. Davon hätte sie erfahren. Was auch immer der Grund für das abrupte Ende des Telefonats war, egal. Es passte zu Laura. Sie war schon immer etwas seltsam gewesen.

Sophie entschied sich, die Küche heute nicht mehr zu streichen. Sie verschloss den Farbeimer gründlich, schenkte sich noch ein Glas Wein ein und ging in den Wintergarten. Der Regen prasselte heftig auf das Glasdach. Sie öffnete die Tür und setzte sich auf die Treppe unter das Vordach. Es war noch immer warm. Die Erde schien zu dampfen und roch wunderbar. Der Duft erinnerte sie an die schönen Stunden bei ihren Großeltern, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ihr Großvater hatte sich immer über diese Sommergewitter gefreut und ihr erklärt, wie dringend die Pflanzen den Regen brauchten. Sophie lächelte, als sie an ihren Opa dachte. Er hatte ihr, dem Stadtkind, die Augen für die Natur geöffnet. Plötzlich kam ihr Laura wieder in den Sinn. Sie sah sie genau vor sich. Laura hatte eine unheimlich starke Präsenz. Wenn sie einen Raum betrat, bekam das jeder mit. Sie hatte eine tiefe, rauchige Stimme und ein Lachen, das fast schon verrucht klang. Ihre Bewegungen waren dagegen anmutig. Wäre Laura ein Tier, dann wäre sie ein Panther. Und diese Augen. Sophie musste plötzlich grinsen, als sie sich erinnerte. Tina hatte einmal behauptet, dass diese Augen unnormal seien und sie sich durchaus vorstellen könnte, dass Laura eine Außerirdische sei. Natürlich hatte Tina das nicht wirklich ernst gemeint, aber sie hatten herzlich darüber gelacht und Laura nur noch ›das Alien‹ genannt. Tina war damals und auch jetzt ihre allerbeste Freundin. Seit den Ereignissen auf Fehmarn hielten sie engen Kontakt. Laura hatte sie ›Darling‹ genannt. Wahrscheinlich hatte sie es sich angewöhnt, jeden Darling zu nennen. In Hollywood machte man das so. Aber hier? Lächerlich! Sie war nie mit Laura befreundet gewesen. Bestenfalls würde sie Laura als eine alte Bekannte einstufen. Und eigentlich hatte sie die letzten Jahre nicht einmal mehr an Laura gedacht. Lauras Schauspielkarriere hatte sich damals rasant entwickelt. Sophie erinnerte sich wieder. Sie hatte das Biest in einer Daily Soap so überzeugend gespielt, dass weitere Angebote folgten. In kurzer Zeit hatte sie sich zu einer beliebten Darstellerin entwickelt. Ihre Hauptrolle in ›Die mexikanische Nanny‹ hatte sie deutschlandweit über Nacht bekannt gemacht. Ihr stand eine glanzvolle Zukunft bevor. Sie hatte sich in die Herzen der deutschen Wohnzimmer gespielt. Niemand hatte damals verstanden, warum Laura nicht damit zufrieden gewesen war, zur ersten Garde der deutschen Schauspielerinnen zu gehören. Sie hätte in wunderbaren Produktionen mitspielen und gutes Geld verdienen können. Laura war anscheinend größenwahnsinnig geworden. Sie war Knall auf Fall nach Amerika gegangen, obwohl in Hollywood niemand auf sie gewartet hatte. Die große Hollywoodkarriere war ihr bis jetzt noch nicht gelungen. Hatte Laura ihre Zelte drüben abgebrochen? Vielleicht brauchte sie Geld? Sophie rieb sich die Augen und versuchte, das Nachdenken für heute einzustellen. Laura wird ihre Gründe haben. Und früher oder später würde sie wissen, welche.

 

*

 

 

Laura Crown saß in ihrer Superior Suite im Hotel Atlantic, die sie nun schon seit drei Tagen bewohnte. Es war wundervoll hier. Ihre Räume waren in einem dunklen Rot gehalten und mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Durch die französischen Fenster hatte sie einen unglaublichen Blick auf die Außenalster. Die hundertjährige Geschichte des Grandhotels stand im krassen Gegensatz zu der künstlichen Welt von Los Angeles. Sie hatte sich in Amerika nie richtig zu Hause gefühlt, aber sie hätte sich eher den rechten Arm abhacken lassen, als das öffentlich zu gestehen. Das hier passte viel besser zu ihr. Ihr drehte sich nur der Magen um, wenn sie an die Kosten dachte. Zumindest ihre erste Woche in der Stadt war günstig gewesen. Um Geld zu sparen, hatte sie in einem billigen Kasten nahe der Reeperbahn gehaust. Seit zwei Tagen war bekannt, dass sie sich in der Stadt aufhielt. Sie hatte sich mit Victor Rubens und seinen Leuten getroffen, um den endgültigen Vertrag zu unterschreiben. Es würde bald eine Pressekonferenz folgen. Sie brauchte eine luxuriöse Adresse. Schließlich war sie ein Hollywoodstar. Zumindest war das ihr offizielles Image. Um sich weiterhin glaubhaft verkaufen zu können, musste sie ihre letzten Reserven zusammenkratzen und einen Standard leben, den sie sich schon lange nicht mehr erlauben konnte. In ein paar Tagen würde sie sich eine möblierte Wohnung suchen und erklären, dass sie das Leben in Hotels zwar sehr genoss, es aber auf Dauer keine Alternative zu einem echten Heim mit persönlichen Sachen sei. Die Hotelrechnung würde sie einfach an die Produktionsfirma schicken. Vielleicht würde der alte Rubens sie als Spesen verbuchen. Sie musste ihn nur ein bisschen um den Finger wickeln. Laura ging an die Minibar und nahm sich die Eiswürfel heraus. Die verlockenden kleinen Fläschchen rührte sie nicht an. Es wäre ihr zu peinlich, wenn das Personal merken würde, wie viel sie trank. Im Kleiderschrank hatte sie ganz hinten drei Liter Wodka gebunkert, die sie heute Morgen in einem Supermarkt gekauft hatte. Sie hatte sich mit Kopftuch und Sonnenbrille getarnt, doch wahrscheinlich war das sogar überflüssig gewesen. Wer kannte sie denn noch? Ihr großer Erfolg in Deutschland lag sieben Jahre zurück. Laura nahm sich ein Wasserglas, füllte es mit dem billigen Wodka und warf zwei Eiswürfel hinein. Langsam trank sie das erste Glas, ohne einmal abzusetzen. Sie füllte es sofort wieder auf. Bevor sie trank, griff sie in ihre Tasche. Sie nahm den Brief und las ihn zum wiederholten Male. Sie fing an zu zittern. Wer hasste sie so sehr? Sie griff wieder in ihre Tasche. Das Röhrchen Valium. Nur ein oder zwei Pillen. Es würde sie beruhigen. Die Tabletten gingen runter wie Öl. Sie spülte mit Wodka nach. Als sie glaubte, wieder genug Kraft zu haben, ging sie ins Bad. Ihr Glas nahm sie mit. Sie musste sich abschminken und ihre teuren Cremes auftragen. Zumindest äußerlich musste sie einfach tipptopp in Form sein. Ihre innere Verfassung musste sie geheim halten. Als Schauspielerin durfte das für sie kein Problem darstellen. Alles hing davon ab, wie sie sich jetzt in Deutschland verkaufte. Wenn sie sich clever anstellte, würde sie ein grandioses Comeback feiern können. Sie trank noch einen Schluck und blickte in den Spiegel. Was sie sah, machte ihr Angst. Wie ein gehetztes Tier! Laura brach in Tränen aus. Genau so sah sie aus. Wie ein zu Tode gehetztes Tier.

 

*

 

 

Er checkte noch einmal sein Spiegelbild. Nicht einmal seine eigene Mutter hätte ihn in dieser Verkleidung erkannt. Er konzentrierte sich und schlüpfte in die Rolle, die er sich antrainiert hatte. Er zog die Schultern hoch und senkte den Kopf. Seine Mundwinkel wanderten nach unten. Er ließ den Blick hektisch zu den Seiten wandern. Perfekt. Er tastete nach der Flasche in seiner Manteltasche. Mit einem leicht schlurfenden Gang verließ er das Haus. Sein Ziel war nicht weit entfernt. Er hätte es schnell zu Fuß erreichen können, doch er wollte vermeiden, in St. Georg gesehen zu werden. Er lief die kurze Strecke zum Taxistand und stieg in den nächstbesten Wagen.

»Reeperbahn. Ecke Königsstraße.«

Sein Fahrer nickte nur. Er hatte Glück. Ein geschwätziger Taxifahrer, der ihn in ein Gespräch hatte verwickeln wollen, wäre furchtbar gewesen, auch wenn er sich selbst für diesen Fall vorbereitet und sich einen Text überlegt hatte. An seinem Zwischenziel bezahlte er den Fahrer und winkte ein weiteres Taxi heran, das ihn zurück nach St. Georg bringen würde.

»Rostocker Straße!«, sagte er mit einer viel zu hohen leisen Stimme.

Er hatte lange recherchiert. Sein Opfer war nur ein menschliches Versuchskaninchen. Er hatte beschlossen, irgendeinen Stricher zu töten, den sowieso niemand vermissen würde. Die Sache war schwieriger, als er im ersten Moment gedacht hatte. Die Stricher in den Bars um den Hansaplatz tranken so gut wie keinen Alkohol. Die Droge würde aber nur bei einem Betrunkenen tödlich wirken. Die Schwulen in den Pornokinos waren nur an Sex vor Ort interessiert. Er würde sie nicht in ein billiges Stundenhotel locken können. Zu seinem Glück gab es in der Rostocker Straße die Kneipen, in denen er fündig werden konnte. Niemand war dort auch nur annähernd nüchtern. Die Stricher kamen aus Osteuropa. Für ein paar Euro würden sie alles machen. Und die Stundenhotels waren gleich um die Ecke.

Das Taxi hielt. Er reichte einen Schein nach vorne zum Fahrer und verließ den Wagen ohne Gruß. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals. Er betrat die schäbige Bar und setzte sich an die Theke. Er bestellte einen billigen Weinbrand und hoffte, dass das Zeug ihn nicht blind machen würde. Dann blickte er sich um. In einer anderen Ecke standen ein paar Typen. Sie sahen zu ihm herüber. Schnell traf er seine Wahl. Ein junger Dünner schwankte bereits. Er nickte und deutete auf sein Glas. Der Stricher kam rüber und setzte sich neben ihn. Der Wirt stellte ein zweites Glas Fusel auf die Theke. Er zahlte sofort.

»Gehen wir ins Hotel?«, fragte er mit seiner neuen Stimme.

Der Dünne nickte und leerte sein Glas mit einem Zug.

»15 Euro.«

 

Sie mussten nicht weit gehen. Der verschwitzte Mann an der Rezeption kassierte, ohne den Blick von seinem Pornoheft zu wenden. Perfekt. Das Zimmer war schmuddelig. Es roch muffig und er wollte gar nicht wissen, was für widerliche Sachen hier stattgefunden hatten. Zum Glück konnten die Flecken an den Wänden nicht reden. Er zog die Flasche aus der Tasche und tat so, als würde er einen ordentlichen Schluck davon nehmen. Dann reichte er sie dem Stricher. Er trank.

»Woher kommst du?«

»Warschau«, antwortete er mit starkem Akzent. Als er ihm die Flasche zurückgeben wollte, schüttelte er den Kopf.

»Nimm nur, ich hatte schon zu viel.«

Der Dünne trank den tödlichen Mix gierig. Dass der Wodka leicht salzig schmeckte, schien er nicht zu bemerken. Oder es störte ihn nicht. Wahrscheinlich hatte er schon genug selbstgebrannte Scheußlichkeiten zu sich genommen.

»Hier sind 20. Auch ’ne Kippe?« Er reichte ihm die Schachtel HB. Im wirklichen Leben würde er nie diese Marke rauchen.

»Alle nennen mich Wladi«, sagte der Stricher und zog kräftig an der Zigarette, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Das Geld hatte er in seine Hemdtasche gesteckt.

»Ach, ist das so?«

 

Schneller als erhofft, fiel sein neuer Freund Wladi ins Koma. Er würde ohne rasche Hilfe sterben. Und Hilfe gab es nun mal leider nicht.

Er fummelte den Geldschein wieder aus dem Hemd und steckte seine eigene Zigarettenkippe in die Hosentasche. Dann stand er auf, klopfte sich angewidert den Dreck von der Hose und verließ das Hotel ungesehen. Der Stricher tat ihm schon ein bisschen leid, aber dafür war zumindest die Generalprobe erfolgreich verlaufen. Wenn Laura doch nur ahnen könnte, was für eine Mühe er sich machte. Eigentlich hatte er sie nie wiedersehen wollen. Als er davon erfahren hatte, dass sie ein Comeback in Deutschland plante, war es ein Schock für ihn gewesen. Er hasste sie seit sieben Jahren. Er hatte mit den Briefen erreichen wollen, dass sie blieb, wo sie war, und ihm niemals wieder unter die Augen treten würde. Laura hatte sich nicht aufhalten lassen. Und da war ihm klar geworden, dass er eine Aufgabe hatte, die es zu erfüllen galt. Er würde nicht zulassen, dass diese Frau ein Leben führen würde, das sie nicht verdiente. Er gönnte ihr nicht das Schwarze unter den Nägeln. Wenn er darüber nachdachte, dass sie womöglich Fernsehpreise bekam und ein unbeschwertes Luxusleben führen durfte, wurde im übel. Er hatte keine Wahl. Er musste handeln. Und Laura musste mit ihrer Entscheidung leben, wenn auch nur für kurze Zeit. Sein Urteil hatte er gefällt und die einzig gerechte Strafe konnte nur der Tod sein. Es war Schicksal, dass er nun sogar eine großartige Chance bekam, sein Urteil zu vollstrecken. Es gab so viele Kochsendungen im Fernsehen. Langweilig eigentlich. Doch die ›Dinnerparty‹ mit Laura Crown als sterbender Gastgeberin würde etwas ganz Besonderes werden. Schade, dass sie wohl nie ausgestrahlt werden würde.

 

 

Montag

 

 

Sophie Sturm saß mit den anderen Redakteuren im Konferenzraum der ›Stars & Style‹. Die nächsten Ausgaben wurden besprochen. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Gedankenverloren starrte sie durch die Glasfront auf die Elbe. Hafenbarkassen und Fähren steuerten Touristen durch den sonnigen Vormittag. Nach dem nächtlichen Gewitter war der Himmel nun wieder strahlend blau und die Luft angenehm frisch. Sollte sie Laura wirklich als Star der Woche vorschlagen? Sophie trank noch einen Schluck ihres mittlerweile lauwarm gewordenen Kaffees und wünschte sich in ihren Garten.

»Aus dem Interview mit der Makatsch wird leider nichts«, erklärte eine Kollegin gerade. »Ihr Management hat vorhin angerufen. Irgendein Nachdreh. Was jetzt?«

Sophie war wieder bei der Sache.

»So ein Mist!«, fluchte der Chefredakteur. »Dann schieben wir das. Ich will die unbedingt. Jetzt zu Plan B. Wen haben wir in zweiter Reihe?«

»Wir hätten da doch noch …«

Der Chefredakteur knallte sein Wasserglas auf den Tisch. »Jetzt komm mir nicht wieder mit der Tante aus dieser Dschungel-WG. Das ist nun wirklich unter unserem Niveau.«

Sophie überlegte kurz. Wenn sie eine Geschichte über Laura vorschlagen konnte, dann jetzt.

»Ich könnte die Crown spontan kriegen.«

»Laura Crown?« Ihr Chefredakteur sah sie erstaunt an. »Die ist doch seit Jahren weg. ›Erfolglos in Hollywood‹? Oder welchen Titel wolltest du deinem Artikel geben?«

Sophie musste schmunzeln. Wenn Laura das hören würde.

»So schlimm wird es nicht. Als Laura Krone war sie in Deutschland ziemlich top.«

»Das ist eine Ewigkeit her«, gab ein Kollege zu bedenken.

»Zugegeben, aber sie ist zurück. Laura Crown wird eine Hauptrolle in einem Fünfteiler in den Öffentlich-Rechtlichen spielen. Eine Victor-Rubens-Produktion. Und schon übermorgen findet bei ihr die ›Dinnerparty‹ statt. Dafür hat sie extra ein Haus auf Fehmarn gemietet.«

»Diese Promikochsendung?« Ihr Chefredakteur zeigte sich nun doch interessiert. »Wer ist denn eingeladen?«

»Das ist geheim!« Sie sah ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Na, das ist doch der Gag! Ein Promi kocht für drei andere. Die Gäste sind prominente Menschen, die den Gastgeber persönlich kennen. Der Gastgeber, oder in diesem Fall eben Laura, hat jedoch keine Ahnung, wer an dem Abend vor der Tür stehen wird.«

»Was du nicht sagst!«, meinte ihr Chefredakteur wenig überzeugt.

»Wenn ich die Story machen soll, spiel ich natürlich Mäuschen bei der Produktionsgesellschaft.« Sophie setzte ein geheimnisvolles Lächeln auf. »Vielleicht ist die Mischung ganz explosiv. Laura war schließlich nicht wirklich beliebt unter den Schauspielkollegen.«

Dieses Argument schien auch die anderen zu überzeugen. Nach einer kurzen Diskussion stand die Sache fest.

»Also gut, Sophie. Vielleicht ist die Geschichte wirklich nicht so schlecht. Aber dann zieh die Story damit auf: Laura bei den Vorbereitungen zu der Show, Laura als Gastgeberin, ihre deutsche Fernsehvergangenheit bis Hollywood und schließlich das neue Projekt. Wir sollten ihr Menürezept mit abdrucken.«

Sophie nickte. Vielleicht war die Story wirklich interessanter, als sie gedacht hatte.

 

*

 

Tina ließ sich auf ihre Gartenliege plumpsen. Jetzt hatte sie endlich eine halbe Stunde Zeit, die Beine hochzulegen. Der kleine Finn machte seinen Mittagsschlaf, und Antonia und Paul spielten zufrieden im Planschbecken. Später würde sie mit den Kindern an den Strand fahren. So schön ihr Garten auch war, sie lebte schließlich auf der wunderbaren Insel Fehmarn. Und da war ein Bad in der Ostsee Pflicht bei so traumhaftem Wetter. Außerdem waren die Kinder immer herrlich müde nach einem Nachmittag am Strand und gingen ins Bett, ohne zu murren.

»Mama?«, brüllte Antonia plötzlich.

Tina knurrte leise.

»Mama hat jetzt 30 Minuten Pause! Ich habe euch das Planschbecken gefüllt und ihr lasst mich kurz in Ruhe. Hatten wir das so abgemacht?«

»Ist 30 Minuten lange?«, wollte Paul jetzt wissen.

»Das ist relativ.«

»Was ist denn ›relativ‹?«

Tina setzte sich auf und blickte ihre Tochter ernst an.

»Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Also, was möchtest du?«

»Ich wollte nur wissen, ob Tante Sophie uns diesen Sommer wieder besuchen kommt?«

Tina zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich könnte sie mal anrufen. Das geht aber nur …«

»Wenn wir dich nicht stören. Abgemacht.«

Sofort spielten die Kinder erstaunlich friedlich weiter. Tina ergriff das Telefon, das sie vorsichtshalber mit in den Garten genommen hatte. Sie wollte verhindern, dass Finn durch einen Anruf geweckt wurde. Sie tippte Sophies Handynummer ein. Sophie meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Tina. Schön, dass du anrufst.«

»Meine Kinder haben Sehnsucht nach dir. Ich soll dich fragen, wann du mal wieder zu Besuch kommst.«

»Echt? Das ist ja süß.«

»Liegst du in deinem schönen Garten?«

Tina hatte Sophies neue Bleibe bereits gesehen. Vor drei Wochen hatte sie Stefan mit den Kindern allein gelassen und hatte mit Sophie zwischen Umzugskisten und Farbeimern Wein getrunken und bis in die Nacht gequasselt. Es war fast wie früher gewesen. Nur ihre Kopfschmerzen am nächsten Morgen waren schlimmer.

»Ich sitze in der Redaktion. Du glaubst nicht, wer der Star der Woche sein wird: Laura.«

Tina schnappte nach Luft. »Unsere Laura? Aber die ist doch in Amerika.«

»Ne, jetzt nicht mehr. Sie dreht in Deutschland.«

»Ich fass es nicht. Wie sieht sie denn jetzt aus?«

»Ich habe sie noch nicht getroffen.« Im Hintergrund war plötzlich Gemurmel zu hören. »Tina, ich muss auflegen. Ich werde dir alles berichten. Und ich mach mir Gedanken, wann ich euch besuchen komme. Grüß alle.«

Tina ließ das Telefon sinken. Laura Crown, die Außerirdische. Sie hatte immer gedacht, dass Lauras Leben einen spannenden Verlauf nehmen würde. Dass sie am Ende doch noch einen Oscar gewinnt oder einen echten Filmstar heiratet. Aber Dreharbeiten in der alten Heimat? Das war nun wirklich nicht spektakulär.

 

*

 

 

Laura Crown lief in ihrer Suite auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Es war bereits früher Nachmittag. Sie hatte den ganzen Morgen mit höllischen Kopfschmerzen im Bett verbracht. Nach einem starken Schmerzmittel und drei Tassen Kaffee war es ihr zumindest so gut gegangen, dass sie ein Bad nehmen konnte. Angezogen war sie noch immer nicht. Ihr langes Haar war feucht und ungekämmt. Sie sah aus wie eine Vogelscheuche. Ihre Nerven fingen wieder an zu flattern, als sie zum Schreibtisch sah. Dieser verdammte Brief. Wie in einem schlechten Krimi waren die Buchstaben aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und aufgeklebt worden. Mit ein paar Metern Abstand sah er aus wie eine lustige Kinderbastelei. Doch der Text, den die bunten Buchstaben bildeten, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Laura überlegte gerade, ob sie sich einen Drink einschenken oder ein Valium nehmen sollte, als das Telefon klingelte. Sie konnte ihr eigenes Herz schlagen hören. Die Wände des Zimmers schienen auf sie zuzukommen. Auf ihrer Stirn bildete sich kalter Schweiß. Der Anruf könnte wichtig sein. Und wenn es ihr Feind war? Sie schluckte heftig. Jetzt brauchte sie sofort etwas zu trinken. Es blieb keine Zeit, die Wodkaflasche aus dem Kleiderschrank zu holen. Mit zitternden Händen öffnete sie die Minibar. Nur ein kleines Fläschchen. Hektisch schraubte sie den Deckel ab und ließ die wenigen Milliliter ihre Kehle hinabfließen. Das Telefon klingelte noch immer. Langsam näherte sie sich dem Apparat. Mit dem Ärmel ihres Bademantels wischte sie sich die Stirn ab und atmete tief durch. Ihre Hand zitterte, als sie endlich den Hörer abnahm.

»Laura Crown«, meldete sie sich mit rauchiger Stimme und amerikanischem Akzent.

»Laura! Na endlich! Hier ist Sophie. Wo hast du denn gesteckt? Ich wollte gerade auflegen und es später noch mal versuchen.«

Laura setzte sich auf den Schreibtischstuhl.

»Sophie! Wie schön, dass du anrufst. Hast du Neuigkeiten?«

Sie fühlte eine warme Welle der Erleichterung. Sie hatte sich im Griff. Ihre Stimme klang fest. Sie spielte ihre Rolle gut.

»Ja, habe ich. Wir machen die Story mit dir. Ich komme gerade von der Redaktionskonferenz.«

Lauras Augen füllten sich mit Tränen. Schnell räusperte sie sich. »Das ist doch wunderbar für uns alle!«, stellte sie mit der Stimme einer Geschäftsfrau fest.

»Das stimmt wahrscheinlich. Wir haben aber nicht viel Zeit. Die Sendung wird ja schon übermorgen aufgezeichnet. Ich erkläre dir, wie wir vorgehen. Ich schicke dir meine Interviewfragen per E-Mail. Entweder noch heute Abend oder morgen früh. Zu der Aufzeichnung der ›Dinnerparty‹ komme ich mit einem Fotografen vorbei. Wir machen da ein paar Fotos von dir und deinen Gästen und welche von dir in der Küche beim Kochen.«

»Alles klar.«

»Das eigentliche Shooting müssten wir auch so schnell wie möglich machen. Deine Geschichte soll in die übernächste Ausgabe. Hast du einen Wunsch oder eine Idee, wie und wo wir dich ablichten sollen?«

Laura sah auf die Binnenalster. Alles lief gut. Sie musste sich beruhigen und schnell nachdenken.

»Laura?«

»Ich bin noch da. Ich dachte gerade, dass wir die Fotostrecke vielleicht im Hamburger Hafen machen sollten. Die Serie erzählt die Geschichte einer Reederfamilie mit allen Höhen, Tiefen und natürlich auch Intrigen.«

»Großartige Idee. Wir gehen auf eines der Museumsschiffe. Cap San Diego oder Rickmer Rickmers. Das wird chic. Also lass es dir gut gehen. Wir sehen uns übermorgen.«

»Alles klar. Ich freu mich. Und danke.«

 

Laura legte das Telefon langsam auf den Schreibtisch. Auf Sophie war Verlass. Vielleicht würde alles gut werden. Ihr Blick fiel auf den Drohbrief. Zum ersten Mal verspürte sie Wut. Was, wenn die Drohung nur von einer Konkurrentin kam? Vielleicht machte sie sich hier nur wahnsinnig, weil eine andere Schauspielerin genau das wollte. Laura lachte laut auf. Sie hatte wieder Oberwasser bekommen. Noch war sie nicht ganz am Ende. Was für eine glückliche Fügung des Schicksals, dass sie sich vor ein paar Tagen ausgerechnet die ›Stars & Style‹ gekauft hatte. Im Impressum war sie über Sophies Namen gestolpert und hatte eine Chance gesehen, PR in eigener Sache machen zu können. Sie musste sich an jeden Strohhalm klammern, um wieder Fuß zu fassen im Business. An Sophie hatte sie ab und zu noch gedacht in den vergangenen Jahren. Sie hatte sie damals gemocht. Sophie war ein echter Kumpeltyp und keine Zicke, wie sie in der Model-Welt viel zu oft zu finden waren. Laura erinnerte sich, dass sie selbst eine gewesen war. Sie hätte Sophie gern zur Freundin gehabt, doch Sophie und diese Tina waren unzertrennlich gewesen. An Tinas Stelle hätte ich auch niemanden dazwischengelassen, dachte Laura. Eigentlich hatte sie nie eine wirkliche Freundin gehabt. Nicht so eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie nahm einen Bogen Briefpapier und schrieb an Sophie. Den Brief legte sie zusammen mit dem Drohbrief in einen Umschlag, den sie an ihren Notar adressierte. Dann lehnte sie sich erleichtert zurück. Sie war endlich zu einer Art Angriff übergegangen, anstatt wie ein Kaninchen den Fuchs zu fürchten. Sie hatte eine Versicherung abgeschlossen. Es war zwar keine Lebensversicherung, nein, eher eine Versicherung im Falle ihres Todes. Wenn ihr tatsächlich irgendetwas zustoßen sollte, würden es alle erfahren. Dafür würde Sophie ganz sicher sorgen.

 

*

 

Sophie saß in ihrem Wintergarten. Auf dem Teakholztisch standen ihr Notebook und ein Glas Weißwein. Die Tür zum Garten war weit geöffnet und sie hörte das abendliche Vogelgezwitscher. Eigentlich war das Wetter viel zu schön, um zu arbeiten. Lieber hätte sie draußen auf der Liege gelegen und sich in ein spannendes Buch vertieft, aber sie musste die Interviewfragen für Laura vorbereiten. Es blieb schließlich nicht mehr viel Zeit. Außerdem lief heute eine aktuelle Folge der ›Dinnerparty‹ im Fernsehen. Die wollte sie nicht verpassen. Sie musste sich noch mal das Gesamtkonzept der Show vor Augen führen. Sophie sah auf die Uhr. In fünf Minuten würde die Sendung beginnen. Sie nahm ihr Glas und ging ins Wohnzimmer. Sie schaltete das Gerät an und setzte sich mit Notizblock und Kugelschreiber bewaffnet auf die Couch. Gastgeber der Folge war ein Soapstar. Wie immer begann die Sendung in der Küche und zeigte den Gastgeber bei den Kochvorbereitungen. Wenig später kamen die Überraschungsgäste. Eine Schauspielerin, die vor Jahren aus der Soap ausgestiegen war, einer der Regisseure und ein alter WG-Freund, der mittlerweile bei einem Gameshow-Sender moderierte.

Es folgte das immer gleiche Prozedere. Alle freuten sich unglaublich, sich endlich mal wiederzusehen. Nach dem Aperitif wurden drei Gänge verspeist und der Zuschauer erfuhr das eine oder andere Private der verschiedenen Probanden. Nach 45 Minuten war die Sendung zu Ende und Sophie las sich den Abspann durch. Vielleicht kannte sie einen der Kameramänner von früher. Es wäre ein Vorteil, erst mit einem Insider zu sprechen und sich danach an die Produktionsfirma zu wenden. Nein, von den Kameramännern kannte sie niemanden. Die Sendung wurde von einer Firma namens ›Taka Tuka TV Productions‹ produziert. ›Producer Lasse Anderson‹, flackerte es über den Bildschirm.

»Lasse!«, Sophie klatschte vor Begeisterung in die Hände. Was für ein wunderbarer Zufall!

Vor Jahren hatte Sophie als Promiexpertin für einen Fernsehsender gearbeitet. Lasse war damals einer der Redakteure gewesen. Sie hatten sich prima verstanden und waren ab und zu nach der Aufzeichnung zusammen essen gegangen. Sophie sah ihn regelrecht vor sich. Lasse war ein Mann wie ein Baum. Schwede mit einem reizenden Akzent und tiefer Stimme. Natürlich war er blond. Er hatte die charmante Ader, nichts zu ernst zu nehmen, war immer eine Spur zu nachlässig angezogen, und wenn er lächelte, schmolzen die meisten weiblichen Wesen dahin.

»Lasse Anderson! Da bist du also noch in der Stadt«, plapperte Sophie vor sich hin, als sie zum Kühlschrank ging, um sich ihr Glas nachzufüllen. Wollte er nicht damals nach Schweden zurück? Sie hatten sich aus den Augen verloren, nachdem Sophie zur ›Stars & Style‹ gewechselt hatte. Sophie fragte sich, ob er noch seine alte Handynummer hatte. Die müsste sie eigentlich in ihrem Notebook gespeichert haben.

Sie ging in den Wintergarten und rief ihr Telefonregister auf. Tatsächlich! Lasse Anderson. Sie würde ihn sofort anrufen. Sophie war sich sicher, dass sie von ihm alle Hintergrundinformationen bekommen würde, die sie brauchte. Die heutige Sendung war ein bisschen langweilig gewesen. Belangloser Small Talk und gegenseitige Lobhudelei. Sie musste unbedingt wissen, wer zu Lauras Dinner erscheinen würde. Mit den richtigen Gästen konnte man sich auf einen spannenden Abend gefasst machen.

 

*

 

Lasse Anderson saß mit seinem Team in der ›Turnhalle‹, einem Restaurant in St. Georg. Sie hatten gerade ihr Essen bestellt. Seine Produktionsfirma hatte zwar keine eigene Technikcrew, aber er buchte immer dieselben Leute. Zwei Kameramänner, zwei Kameraassistenten, einen Toningenieur, zwei Tonassistenten, Kabelhilfen und einen Maskenbildner. Die heutige Produktion war gut gelaufen. Sie hatten pünktlich mit der Aufzeichnung angefangen, und um 21.30 Uhr hatten sie bereits alles im Kasten gehabt. So glatt lief es nicht immer. Es gab also einen guten Grund, das Team später auf einen Drink einzuladen. Es war ein lieb gewordenes Ritual, dass sie nach einer Aufzeichnung der ›Dinnerparty‹ noch zusammen einen Happen aßen und etwas tranken. Wenn sie in Hamburg drehten, gingen sie immer in die ›Turnhalle‹. Das über 100 Jahre alte Gebäude war damals tatsächlich die Turnhalle einer Mädchenschule gewesen. Heute erinnerten nur noch die von der Decke hängenden Ringe an den ursprünglichen Zweck des Gebäudes. Das Ambiente war schlicht und edel gehalten und die Küche gut. Außerdem gab es vier gemütliche Lounges, in die man sich nach dem Essen zurückziehen konnte. Dass das Restaurant nur ein paar Schritte von seinem Büro und seiner Wohnung entfernt lag, war ein zusätzlicher Pluspunkt. Die Kellnerin brachte gerade die Getränke, als sein Telefon klingelte. Er blickte auf das Display und traute seinen Augen nicht.

»Sophie?«

»Hallo, Lasse! Ja, ich bin’s, Sophie Sturm!«

»Das ist ja eine echte Überraschung! Ist eine ganze Weile her.«

»Wo bist du gerade?«

»In der ›Turnhalle‹. Wir …«

»Das Restaurant? Ich komme vorbei!«

»Ist alles okay?«

»Natürlich. Ich habe nur eben erfahren, dass du die ›Dinnerparty‹ produzierst.«

»Ja, und?«

»Ich bräuchte da mal ein paar Informationen. Für einen Artikel.«

»Ach, du willst über mein Format schreiben?«

»So ähnlich. Ich erkläre dir das alles gleich. Ich bin in einer halben Stunde da. Bis dann.«

»Bis dann«, murmelte Lasse. Sophie hatte bereits aufgelegt. Seit wann berichtete die ›Stars & Style‹ denn über TV-Produktionen? Das würde eine super Werbung geben! Oder ging es gar nicht um seine Produktion? Das Hochglanzmagazin schrieb doch sonst nur über echte Größen im Showbusiness. Er fuhr sich nachdenklich durch das Haar. Natürlich! Sophie hatte spitzgekriegt, dass die Crown eine ›Dinnerparty‹ geben würde! Die Folge würde in der Tat eine ganz besondere werden. Das wusste er ganz sicher!

 

*

 

Sophie fuhr in ihrem BMW-Cabriolet die zweite Runde um den Block. Warum hatte sie kein Taxi genommen? Es war so gut wie unmöglich, zu später Stunde in St. Georg einen Parkplatz zu finden. Sie überlegte gerade, ob sie einfach die Tiefgarage des Hotel Atlantic ansteuern sollte, als vor ihr ein Wagen aus einer Parklücke fuhr.

»Yes!«, schrie sie glücklich auf, parkte und verließ den BMW in Richtung ›Turnhalle‹.

Das Restaurant war gut besucht. Sophie sah sich um und erkannte Lasse. Er saß mit seiner Runde im hinteren Teil des Ladens. Sie schienen gerade mit dem Essen fertig zu sein. Lasse erkannte sie und winkte ihr zu. Sophie steuerte seinen Tisch an.

»Hey, schön, dich mal wiederzusehen!«, meinte Lasse. Er stand auf und küsste ihr die Wangen. »Siehst gut aus.«

»Danke. Ich kann das Kompliment nur zurückgeben.«

Lasse stellte sie den anderen vor.

»Sophie ist eine alte Freundin von mir. Sie schreibt für die ›Stars & Style‹. Und sie will anscheinend einen Artikel über unsere kleine ›Dinnerparty‹ bringen.«

»Ganz so einfach ist die Sache leider nicht.«

»Nein?« Lasse sah sie mit gespieltem Entsetzen an. »Dieser Haufen hier gehört zur Crew. Der Rest der Bande sitzt bereits in der Lounge-Ecke und betrinkt sich. Wir haben heute eine Sendung in Hamburg aufgezeichnet und uns gerade mit einem netten Essen belohnt.«

Sophie grüßte in die Runde.

»Wir wollten gerade nach hinten zu den anderen, noch was trinken. Komm doch mit.«

»Ich müsste dich unter vier Augen sprechen.«

Er lächelte sie an. »Nur wir beide und ein schönes Glas Rotwein? Ich warte seit Jahren auf meine Chance.«

Sophie grinste und rollte mit den Augen. Mit Lasse war es sofort wieder wie früher. Sie hatten immer geflirtet und dabei waren sie einfach nur gute Kumpel geblieben.

»Der Lounge-Bereich ist groß genug und meine Leute sind verschwiegen«, meinte Lasse augenzwinkernd. »Wir können aber auch an die Bar gehen.«

Sie setzten sich an den eleganten Tresen und bestellten. Nachdem der Barkeeper die Getränke gereicht hatte, nahm Lasse den Faden wieder auf.

»Du willst also über meine Sendung schreiben?«

Sophie nippte an ihrem Milchkaffee und schüttelte den Kopf.

»Nein, das nicht ganz«, gab sie zu. »Wir wollen eine Story über Laura Crown machen. Die ›Dinnerparty‹ und ihre neue Serie wären der Aufhänger.«

»Laura Crown? Die ist grauenhaft!«

»Weiß ich. Aber wir kennen uns von früher. Model-Kolleginnen. Sie ist dann Schauspielerin geworden, und das doch mit ziemlichem Erfolg. Sie war in Hollywood!«

»Ja, sonst hätten wir sie auch nicht für die Sendung genommen«, stellte Lasse nüchtern fest.

»Woher kennst du sie?«

Er sah sie irritiert an. »Ich? Ich kenne sie nicht. Ich habe nur mit ihr telefoniert, und das hat mir schon gereicht.«

Sophie konnte sich gut vorstellen, mit welch kühler Arroganz Laura ihn behandelt hatte.

»Sie war noch nie einfach. Jetzt zu meinem Problem. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Bevor ich für die Story endgültig grünes Licht bekomme, will mein Chef wissen, wer die anderen Dinnergäste sind.«

Lasse riss die Augen auf. »Ich soll dir unser großes Geheimnis verraten?«

»Ich fürchte, ja. Immerhin bekommst du eine Menge PR. Also, wer wird zu Lauras ›Dinnerparty‹ kommen?«

Lasse blickte sie ernst an. »Kein Sterbenswörtchen zu Laura. Das musst du mir versprechen. Ich kenne dich lange, ich mag dich und ich vertrau dir. Ich würde diese Informationen keiner anderen Redakteurin geben. Ich hoffe, du weißt das zu würdigen! Die Sendung lebt von diesem Überraschungsmoment. Vielleicht ist Laura tatsächlich eine gute Schauspielerin, aber ich persönlich trau ihr nicht zu, dass sie echte Überraschung vortäuschen kann. Dafür sind die Gäste zu gut.«

»Lasse! Ich platze gleich vor Neugier!«

»Also gut. Nummer eins ist Sascha Richter.«

»Sascha Richter? Dieser gebotoxte sonnenbankgebräunte …«

»Ja, genau der. Ist seit ein paar Jahren nicht mehr gut im Geschäft, aber damals spielte er in dem Film mit, der Laura den Durchbruch brachte.«

Sophie sah Sascha Richter genau vor sich. Sie verglich ihn immer mit Mickey Rourke, auch wenn Richter seinem Gesicht nicht ganz so viel zugemutet hatte.

»Weiter!«

»Marcello Mari.«

»Schicker Mann.«

»Du auch?« Lasse seufzte genervt. »Gibt es irgendeine Frau in Deutschland, die diesen geleckten Italiener nicht attraktiv findet? Was ist mit uns blonden Schweden?«

»Jetzt reg dich nicht auf.«

»Nicht aufregen? Er ist das genaue Gegenteil von mir. Dunkelhaarig, immer im Anzug, gepflegte Frisur …«

»Er ist einfach nur ein anderer Typ Mann. Auf meiner Skala von eins bis zehn habt ihr beide eine Acht.«

»Ach, und wer kriegt die zehn?«

»George Clooney. Wer ist der letzte Gast?«

Lasse lehnte sich zurück und lächelte zufrieden. »Ja, das ist der Oberknaller. Victor Rubens himself gibt sich die Ehre.«

»Der Victor Rubens?« Sophie konnte kaum glauben, dass der erfolgreichste TV-Produzent der Republik bei einer Kochsendung mitmachen würde.

»Abgefahren, oder? Ich hätte nie gedacht, dass er in unsere kleine Show kommen würde, aber er war sofort Feuer und Flamme, als er erfahren hat, dass er Lauras Überraschungsgast sein soll.«

»Das klingt ja nach einer echten Erfolgs-Show!«

»Kein Witz. Unsere Sendung läuft wirklich nicht schlecht, aber eine so interessante Runde hatten wir bis heute noch nicht. Das Spannende ist, dass wir vorher nie wissen können, wie die Leute sich tatsächlich verstehen. Meistens läuft es gut und alle freuen sich wirklich, sich mal wieder zu sehen, aber wir hatten auch schon Aufzeichnungen, bei denen ich mich wie ein Dompteur gefühlt habe. Bin gespannt, wie Lauras Dinner so verläuft. Nicht, dass die sich da noch an die Gurgel gehen.«

Sophie hatte alle Informationen, die sie brauchte. Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen, um im Internet nach Sascha Richter, Marcello Mari und Victor Rubens zu suchen. Sie musste möglichst viel über die Herren wissen. Doch sie wollte nicht unhöflich sein und aufspringen, solange Lasse sein Glas Wein noch nicht ausgetrunken hatte.

»Sag mal, Lasse, du bist doch eine alte Partybremse! Wo bleibst du denn?«, fragte plötzlich ein junger Typ. »Ich dachte, wir wollten noch ein bisschen feiern?«

Lasse grinste. »Schau mal lieber, wen ich hier habe! Die Sophie Sturm! Du erinnerst dich doch an Sophie?«

Sophie starrte den hübschen jungen Mann verwundert an.

»Ob ich mich an Sophie erinnere? Hallo? Seit wann machst du hier die Witze?«

»Ricky?«

»Ja! Ich bin es tatsächlich, meine Liebe! Ich dreh noch durch! Du siehst fantastisch aus! Wer macht dir die Haare?«

Sophie konnte kaum glauben, wie sehr sich der damals eher schüchterne Ricky verändert hatte.

»Stell dir vor, der kleine Ricky ist jetzt Maskenbildnerin! Ich mache sie alle hübsch für den Herd.«

»Ist eine Weile her«, lachte Sophie und stand auf, um Ricky zu küssen.

»Eine Weile her? Sag doch nicht so böse Sachen! Die paar Jährchen. Aber du hast natürlich recht. Aus mir, der Praktikantöse, ist jetzt ein ernsthafter Stylist geworden. Ich arbeite für Lasse, seit er die ›Dinnerparty‹ produziert. Er ist natürlich ein furchtbarer Chef und schon lange nicht mehr so nett und entspannt wie früher, aber das darf man ihn natürlich nicht wissen lassen.«

»Du bist gefeuert!«, grummelte Lasse und zwinkerte.

Sophie musste sich erst einmal sammeln. Als sie vor ein paar Jahren als Klatschtante für einen Fernsehsender über die Stars und Sternchen berichtet hatte, hatte Ricky ein Praktikum im Bereich Maske absolviert. Er hatte gerade seine Friseurlehre abgeschlossen. Damals wirkte er extrem introvertiert und schüchtern. Der junge Mann, der jetzt vor ihr stand, machte einen selbstsicheren Eindruck. Ricky hatte nie ein Geheimnis aus seiner Homosexualität gemacht, doch heute schien er endlich dazu zu stehen. Auch sein Äußeres unterschied sich deutlich. Jetzt war er bis zu den Schnürsenkeln geschmackvoll durchgestylt.

»Wir wollen gleich noch ein bisschen feiern! Du bist doch dabei?«, fragte Ricky und schwang die Hüften.

Sophie schüttelte den Kopf. »Ich würde gern! Aber ich bin mit dem Wagen hier und morgen wartet noch jede Menge Arbeit auf mich. Ihr wollt doch, dass der Artikel über Laura Crown einschlägt wie eine Bombe?«

Ricky verdrehte genervt die Augen. »Laura Crown! Mir schlottern jetzt schon die Knie! Wahrscheinlich wird sie 100 Sonderwünsche haben. Hollywood eben. Na ja, ich werde mein Bestes geben und am Ende wird sie natürlich wunderschön sein.«

Sophie unterdrückte ein Gähnen.

»Ihr Lieben. Ich muss jetzt wirklich los. Wir sehen uns übermorgen am Drehort. Die Zusammenstellung der Gäste lässt ja auf einen spannenden Abend hoffen. Da muss man sich wohl auf die eine oder andere Überraschung gefasst machen.«