10
Lasse Anderson saß am Schreibtisch in seinem Büro in St. Georg. Er trank bereits den dritten Latte macchiato und rauchte Kette, um seine Nerven zu beruhigen. Der Qualm hing schwer in dem sonnendurchfluteten Loft. Er musste unbedingt Gäste für eine neue ›Dinnerparty‹ akquirieren. Die Aufzeichnungen mit Laura Crown waren nicht sendbar, das war ihm klar. Sein Vertrag mit dem ausstrahlenden Fernsehsender war knallhart. Wenn er keine Folge anbieten konnte, aus welchen Gründen auch immer, würde er nicht bezahlt werden. Trotzdem hatte er Kosten. Die Kameramänner, Assistenten, Tonleute und auch sein Maskenbildner würden selbstverständlich ihr Honorar verlangen. Wie sollte er die Leute bezahlen? Lasse öffnete die Balkontür, um endlich frische Luft hereinzulassen. Er brauchte Sauerstoff, um klar denken zu können. Warum war diese verfluchte Laura Crown nicht einfach nach dem Dessert zusammengebrochen? Er hatte einfach verdammtes Pech. Sicher hätte man dann darüber streiten können, ob es pietätlos wäre, die Folge auszustrahlen, aber er hätte dem Sender zumindest etwas anbieten können. Nur ein paar Gehminuten von seinem Büro entfernt lag die Außenalster. Bei diesem Wetter würden wieder unzählige weiße Segelbötchen durch die seichten Wellen dümpeln. Wie sehr er die Menschen beneidete, die diesen Tag einfach nur genießen konnten. Schlecht gelaunt wühlte er wieder in seinen Unterlagen. Ex-Big-Brother-Bewohner und zu früh gescheiterte Kandidaten diverser Castingshows bewarben sich ohne Ende. Aber wer wollte die schon kochen sehen? Er brauchte zumindest B-Prominenz. Er musste unbedingt noch mal bei den verschiedenen Produktionsfirmen der Soaps anrufen. Irgendein Seriensternchen müsste doch zu haben sein. Oder sollte er einfach noch ein paar Tage warten? Lauras Tod würde durch die Medien geistern. Vielleicht ging die Sache doch noch richtig gut für ihn aus. Wahrscheinlich war es egal, dass Laura einen Gang zu früh gestorben war. Seine Sendung würde genug Presse kriegen. Der Mensch war von Natur aus neugierig. Die Zuschauerquote würde in die Höhe schießen. Mit Sicherheit würde er sich vor prominenten Kandidaten gar nicht mehr retten können. Es war sich schließlich niemand zu schade, wenn die Einschaltquote stimmte. Und was war mit den Aufnahmen von Lauras ›Dinnerparty‹? Verkaufen konnte er die immer noch. Geschmacklos oder nicht. Man würde ihm viel Geld für die Todesszene bieten. Und jetzt sollte er unbedingt die Presse verständigen. Laura Crown war tot. Das musste die Öffentlichkeit doch wissen. Manchmal musste man eben über Leichen gehen.
*
Sophie hatte sofort alles stehen und liegen gelassen. Sie hatte Jeans und T-Shirt gegen ein seriöses Sommerkleid getauscht und war in ihren BMW gesprungen. Viel zu schnell fuhr sie durch die Stadt zu der Kanzlei in der Nähe der Außenalster. Sie platzte beinahe vor Neugier. Was zum Teufel hatte Laura ihr mitzuteilen? Was wollte sie ihr zukommen lassen? Der Notar hatte gesagt, Laura hätte verfügt, dass Sophie im Falle ihres Todes zu informieren sei. Hatte Laura geahnt, dass sie sterben würde? Sophie fröstelte. Warum? Laura war jung und stand kurz vor einem neuen Highlight ihrer Karriere. In einer solch positiven Lebensphase dachte man doch nicht an den eigenen Tod. Sophie parkte an der Rothenbaumchaussee und ging die letzten Meter zu Fuß zur Kanzlei Hansen. Die Kanzlei befand sich im Hochparterre eines alten Jugendstilstadthauses. Sie wurde eingelassen und sofort in ein beeindruckendes Büro geführt. Hinter dem gewaltigen Schreibtisch aus Eiche saß ein Mann um die 60. Er sprang auf und reichte ihr die Hand.
»Frau Sturm, es tut mir leid, dass wir uns unter so unglücklichen Umständen kennenlernen müssen. Bitte nehmen Sie Platz.« Er deutete auf eine antike Sitzgruppe.
Sophie setzte sich in einen braunen Ledersessel. Wie aus dem Nichts kam eine zierliche junge Frau mit einem Tablett herein und stellte Kaffee und Mineralwasser auf den Tisch.
»Ich verstehe nicht genau, warum ich hier bin«, erklärte Sophie.
Sigmund Hansen nickte und nahm ebenfalls Platz. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee?«
Sophie lehnte höflich ab. Sie wollte endlich wissen, was überhaupt los war.
»Frau Krone ist bereits seit vielen Jahren meine Mandantin, müssen Sie wissen. Ich habe schon damals ihre Verträge mit den jeweiligen Produktionsgesellschaften geprüft, bevor es zur Unterschrift kam. Als sie mich jetzt kontaktierte, ging es nicht um ein neues Filmprojekt. Frau Krone ließ verfügen, dass ich Sie als Erste verständige, falls ihr etwas zustoßen sollte.«
Sophie kam sich gerade selbst vor wie in einem schlechten Film.
»Ich nehme an, Sie waren befreundet. Mein Beileid, Frau Sturm.«
»Ich war dabei, als sie starb.«
Sigmund Hansen sah sie mitfühlend an. Dann räusperte er sich. »Ich händige Ihnen nun die Unterlagen aus.«
Der Notar reichte ihr einen braunen DIN-A4-Umschlag.
»Möchten Sie vielleicht doch eine Tasse Kaffee?«
»Nein, vielen Dank.« Sophie stand auf. Sigmund Hansen erhob sich ebenfalls. »Sie werden verstehen, dass ich jetzt nach Hause möchte, um den Brief in aller Ruhe zu lesen.«
Der Notar nickte. Sophie gab ihm zum Abschied die Hand und marschierte zu ihrem BMW. Sie setzte sich auf den Fahrersitz, öffnete den nichtssagenden Umschlag mit zitternden Fingern und entnahm den Inhalt. Ein weißes kleines Kuvert, in dem Sophie einen persönlichen Brief von Laura vermutete und zwei bunt beklebte Blätter Papier. Sie wirkten wie eine Bastelarbeit aus dem Kindergarten. Sophie sah genauer hin. Es handelte sich zwar um eine Bastelarbeit, aber mit Kindergarten hatte das rein gar nichts zu tun. Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Die ausgeschnittenen Buchstaben hatte ein Erwachsener arrangiert. Ein Erwachsener, der Laura bis aufs Blut gehasst haben musste.
*
Lutz Franck deckte Lauras Leiche ab und streifte sich die Gummihandschuhe von den Händen.
»Das war’s. Feierabend.«
Stefan seufzte. »Fassen wir zusammen: Keine unnatürliche Todesursache.«
»Eher ein unnatürlich ungesundes Leben, das so enden musste. Aber wir sollten selbstverständlich noch die Laborergebnisse abwarten. Ich kann erst dann etwas Genaueres sagen.«
»Ja«, stimmte Stefan ihm zu. Robert Feller sagte nichts. Er war wieder etwas blass um die Nase. Lutz konnte nicht dagegen an. Er freute sich jedes Mal, wenn dieses Gesicht dieselbe Farbe hatte wie das weiße Designerhemd, das der Dressman-Kommissar ständig trug.
»Ruf uns an, wenn das Labor fertig ist. Ihre Eltern warten auf die Freigabe der Leiche.«
Lutz nickte und führte die Herren zur Tür. »Und kümmere du dich um deinen Kollegen. Der braucht was für den Kreislauf. Ich würde ja einen anständigen Schnaps empfehlen, aber Robert will sicher lieber Prosecco!«
»Du mich auch«, zischte Feller und ging voraus zum Parkplatz.
»Muss das immer sein?«, fragte Stefan genervt.
Lutz hob unschuldig die Hände. »Es kommt einfach über mich. Es macht doch solchen Spaß.«
Stefan knurrte mürrisch, doch Lutz konnte sehen, dass er ein Grinsen gerade noch verkneifen konnte. In seinem Büro klingelte das Telefon.
»Geh mal lieber ran.«
Lutz nickte, schloss die Tür hinter Stefan und ging zu seinem Schreibtisch. Sophie! Entnervt riss er den Hörer von der Gabel. »Ich warte schon seit Stunden auf deinen Anruf!«, grüßte er gereizt.
»Jetzt werde nicht gleich ironisch. Ist doch klar, dass mir die Sache keine Ruhe lässt. Sie wurde vielleicht vergiftet.«
Lutz ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Warum hatte er das verdammte Telefon nicht einfach klingeln lassen?
»Jetzt komm mal runter. Giftmord vor laufender Kamera? Warum schreibst du keine Drehbücher? An Fantasie scheint es dir nicht zu mangeln.«
»Lutz, was ist los?«
Er hatte keine Wahl. Sie würde ihn so lange bearbeiten, bis er ihr etwas sagte. Spektakuläres hatte er sowieso nicht anzubieten. Lutz schloss ein Verbrechen aus. Er würde Sophie sagen, was er wusste. Dann hatte er wieder seine Ruhe vor ihr.
»Die Gute hatte echt einiges intus. Da stehen zwar noch ein paar Laboruntersuchungen aus, aber manches wissen wir schon jetzt. Die Toxikologen untersuchen den Kleinkram. Blut, Gewebe … Na, du weißt schon.«
»Was hatte sie intus?«
»Ich habe ihre Organe in der Hand gehabt. Sie trinkt schon länger. Ihre Nasenscheidewand ist ziemlich auf, wenn du kapierst, was ich meine. In ihrem Magen habe ich Reste von Tabletten gefunden. Ich bin mir sicher, dass das Labor von Psychopharmaka bis Valium alles Mögliche finden wird. Laura hat ihrem Körper einiges zugemutet.«
»Lutz, ich weiß, du hältst mich für das nervigste Ding unter der Sonne, aber könnte es nicht sein, dass sie zumindest an diesem Abend das ganze Zeug nicht freiwillig genommen hat?«
»Soll das ein Witz sein? Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie gezwungen wurde, etwas zu nehmen.«
»Wäre es nicht möglich, dass ihr jemand heimlich etwas ins Glas gegeben hat?«
»Was denn? Koks wird noch immer durch das Näschen konsumiert, soviel ich weiß. Das Valium oder sonst ein Medikament im Wein aufzulösen und sie vor ich weiß nicht wie vielen Fernsehkameras in ihr Glas zu geben, halte ich für eine eher gewagte Theorie.«
»Ja, du hast wahrscheinlich recht. Ich verstehe einfach nicht, dass sie so dumm war. Sie hatte jede Menge Pläne. Ihre Chancen, in Deutschland nicht nur wieder Fuß zu fassen, sondern eine ganz neue erfolgreiche Karriere zu starten, waren riesig.«
»Sophie, deine Freundin hat einfach übertrieben. Wahrscheinlich hat sie Antidepressiva, Beruhigungs- und Aufputschmittel konsumiert und das Ganze mit jeder Menge Alkohol zu sich genommen. Dazu hat sie gekokst. Sie war untergewichtig. Zu viel von allem. Es war ein tragischer Unfall. Ist ja nicht das erste Mal, dass ein Promi nach einem tödlichen Medikamentencocktail umkippt. Also, vergiss deine Mordtheorie. Wie gesagt, es stehen noch ein paar Untersuchungen im Labor aus, aber ich bin mir fast sicher, dass Laura Krone selbst schuld ist an ihrem frühen Tod.«