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Die junge Studentin wollte einfach nur schnell den Müll zum Container bringen. Sie musste sich noch umziehen und ein bisschen stylen. Heute fand in der Uni eine Party statt. In Gedanken ging sie ihre Garderobe durch und überlegte, welches Oberteil sie anziehen sollte. Mit dem Müllbeutel im Arm schlenderte sie über den Hof zu den Containern. Was für ein perfekter Tag. Sie freute sich schon seit Wochen auf die Party. Und bei diesem wunderbaren Wetter würde sie mit ihrer Clique sicher die ganze Sommernacht durchfeiern. Ach, scheiße, dachte sie plötzlich, als sie mit ihren Flipflops in eine Pfütze trat. Sie blickte nach unten auf ihre Füße und schrie auf. Blut. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Hektisch sah sie sich um. Keine Sekunde später entdeckte sie die Quelle. Der eigenartige Nachbar. Er lag merkwürdig verdreht neben dem Müllcontainer. Das Blut rann aus seinem Schädel. Sie blieb stocksteif stehen. Ihr wurde übel, wenn sie nur an ihren Fuß dachte, der mit dem Blut dieses Mannes besudelt war. Sie musste Hilfe holen. Hatte sie ihr Handy mitgenommen? Sie ließ den Müllsack zu Boden gleiten und tastete mit zitternden Fingern ihre Hosentaschen ab. Sie hatte kein Telefon dabei. Es musste oben in der Wohnung liegen. Sonst trug sie es immer bei sich. Warum nicht jetzt? Ihre Augen brannten. Sie musste irgendwas tun. Vielleicht lebte der Mann noch. Sie zwang sich, genauer hinzusehen. Wenn er noch am Leben war, musste er sofort in ein Krankenhaus. Erste Hilfe. Sie unterdrückte einen Würgereiz. Nein, sie war dazu nicht in der Lage. Sie konnte sich nicht in das Blut knien und diesen Alkoholiker beatmen. Er war der unangenehmste Nachbar, den sie sich überhaupt vorstellen konnte. Sie war ihm oft im Treppenhaus begegnet. Vormittags war er immer grußlos und grantig. Abends war er schlimmer. Mit lallender Zunge sprach er Komplimente aus und versuchte, sie zu berühren. Außerdem war sie außerstande, den Fuß zu heben. Da würde dieses Blut kleben. Wie würde sie das Blut nur wieder los? Sollte sie einbeinig zurück in ihre Wohnung hüpfen und es in ihrer Dusche abwaschen? Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Selten war sie sich so dumm und hilflos vorgekommen. Aber jemand musste etwas tun. Ihr blieb nichts anderes übrig, als um Hilfe zu schreien.

 

*

 

Lasse Anderson saß noch immer in seinem Büro am Schreibtisch. Er war überarbeitet und schrecklich müde. Trotzdem verspürte er große Erleichterung. Die Gäste für die nächste Produktion der ›Dinnerparty‹ standen endlich fest. Leider handelte es sich um echte C-Promis. Es war eben schwierig, wieder so eine prominente Runde zusammenzustellen. Die geplante Sendung hätte, wenn man sie hätte ausstrahlen dürfen, einen Zuschauerrekord versprochen. Laura Crown mit Marcello Mari, Sascha Richter und dem großen Rubens an einer Tafel zu beobachten, hätte den Zuschauern gefallen. Aber daraus würde ja nun nichts mehr werden. Lasse beschloss, dass er sich eine Nase Koks verdient hatte. Immerhin arbeitete er wie ein Irrer. Da konnte er sich ab und zu den illegalen Luxus leisten. Wieder ein bisschen wacher, beschloss er, noch einen Blick auf die sterbende Laura zu werfen. Die Szene war so unbeschreiblich cool. Wie die sexy Laura so dasteht und in den darauffolgenden Sekunden plötzlich zusammenbricht. Und dabei reißt sie die Decke vom Tisch und damit das ganze Geschirr. In diesem irren Geklapper von Gläsern und Tellern war sie einfach verendet. Gebannt starrte er auf den Bildschirm. Das Band lief weiter. Die Kamera schwenkte nach rechts und links. Lasse blickte angestrengt auf den Monitor. Der Kameramann musste die Situation richtig eingeschätzt haben. Hier war etwas Schlimmes passiert. Die schöne Laura brauchte Hilfe. Lasse sah sich den unkontrollierten Schwenk noch mal in Zeitlupe an. Man erkannte die unscharfen bestürzten Gesichter. Aber eines der Gesichter? Lasse lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er musste sich geirrt haben. Er spielte die Szene nochmals Bild für Bild ab. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Einer in der Runde konnte sich sein Grinsen kaum noch verkneifen.

 

*

 

 

Marcello Mari ertappte sich selbst dabei, wie er Sophie anstarrte. Mann, war das ein Weib! Sexy. Er winkte den Kellner heran. »Bringen Sie doch bitte noch eine Flasche von diesem wunderbaren Chardonnay.« Dann wandte er sich wieder Sophie zu. »Sie trinken doch Weißwein?«

»Ich bin mit dem Wagen da.«

»Na, ein oder zwei Gläschen dürfen Sie doch.«

Er sah ihr dabei zu, wie sie ihren Planer aus der Tasche nahm und einen teuren Kugelschreiber aufdrehte.

»Bevor wir mit dem Interview beginnen, wollte ich nur noch einmal erklären, wie großartig ich Sie fand. Sie wissen schon, an dem Abend. Sie haben als Einzige etwas getan. Wir Männer haben doch nur hilflos dagesessen.«

Sie lächelte ein bisschen. »Wissen Sie, ich habe mich in der Situation unendlich hilflos gefühlt. Und letztendlich habe ich ja auch nichts mehr für sie tun können«, erklärte sie einfach.

Der Kellner brachte die Flasche Wein und zwei Gläser. Mari roch am Korken und probierte den edlen Tropfen wie ein Mann von Welt.

»Ich glaube, niemand konnte ihr mehr helfen, aber du hast es zumindest versucht.«

Der Kellner schenkte ein. Mari erhob das Glas. »Meine Liebe. Auf dein Wohl!«

Sophie blickte ihn erstaunt an.

»Habe ich Sie jetzt geduzt? Sorry, alte Gewohnheit. Am Filmset duzen wir uns immer alle. Und nach dem, was wir zwei gemeinsam hinter uns haben …«

»Das ist schon in Ordnung.«

Glück gehabt. »Bitte nenn mich Marcello. Darf ich Sophie sagen?«

Sie nickte nur gelangweilt, stellte er unzufrieden fest. Es würde ein hartes Stück Arbeit sein, sie von seinen Qualitäten zu überzeugen. Marcello lehnte sich zurück und lächelte. »Ich finde es im Übrigen wunderbar, dass die ›Stars & Style‹ eine Geschichte mit mir machen will. Wir könnten die Fotos vielleicht auf meinem Segelboot machen.« Er sah sich schon auf den Hochglanzseiten. Braun gebrannt, weißes Hemd, lächelnd und unverschämt gut aussehend.

»Herr Mari, es handelt sich, wie bereits erwähnt, um ein erstes Vorgespräch.«

Vorgespräch? Er war doch kein Hampelmann mit unendlich viel Zeit für Probeinterviews.

»Hatten wir uns nicht gerade auf ein Du geeinigt?«

Sie nickte. »Hatten wir. Sorry, ich bin ein bisschen müde. Ich hatte einen harten Tag.«

Sie nippte nur kurz an ihrem Weinglas und sah dann wieder auf ihre Notizen. »Marcello, welche Projekte stehen denn bei dir an?«

»Nun, in zwei Monaten wird ›Mitsommernacht im Schwarzwald‹ ausgestrahlt. Ich spiele dort den Liebhaber der Hauptdarstellerin.«

»Wie immer.«

Mari überging den Kommentar. »Und schon im nächsten Monat beginnen die Dreharbeiten zu einer TV-Produktion für einen Privatsender. Ich spiele die Hauptrolle. Einen Großwildjäger, der versucht, die letzten wilden Tiere in Kenia zu schützen.«

»Das hört sich doch Erfolg versprechend an.« Zum ersten Mal lächelte sie begeistert. »Großwildjäger in Afrika. Klingt nach einer wirklich tollen Rolle. Ich gratuliere. Das wird unsere Leser natürlich interessieren. Ich habe da aber noch eine andere Frage. Sie ist allerdings etwas persönlich.«

Mari zuckte lässig mit den Schultern. »Kein Problem.«

»Wie verarbeitest du den tragischen Tod von Laura Crown? Sie war schließlich einmal deine Lebensgefährtin.«

Die Frage kam vollkommen überraschend. Eigentlich wollte er gerade von den exotischen Drehorten erzählen. »Lebensgefährtin? Das ist sicher übertrieben.«

Mari gefiel die Richtung nicht, in die dieses Gespräch driftete. Wozu wollte sie das wissen? Äußerlich ruhig, schenkte er Wein nach, um sich zu sammeln. »Weißt du, Sophie, Laura und ich hatten unsere Zeit. Das ist lange her. Sie spielte keine Rolle mehr in meinem Leben.«

»Es gibt aber viele Menschen, die sich an sie erinnern. Vielleicht sollten wir ihren Tod im Interview ansprechen. Denk darüber nach.«

Marcello nickte. Wahrscheinlich hatte sie recht. Er sollte die Situation für sich ausnutzen und eventuell doch ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern.

»Ich werde mir was überlegen«, versprach er einsichtig.

Sophie klappte den Planer zu und lächelte kühl. »Marcello, ich glaube, ich habe alle Informationen, die ich brauche. Wenn der Chefredakteur an der Story Interesse hat, dann setze ich mich wieder mit dir in Verbindung. Ich bin mir sicher, dass wir eine tolle Geschichte machen werden. Eine Sache interessiert mich allerdings noch ganz persönlich. Du musst mir die Frage natürlich nicht beantworten. War es damals sehr schlimm für dich, dass du die schöne Laura nicht ganz haben konntest? Sie hatte ja irgendwann mehr Interesse an Victor Rubens.«

Mari war egal, dass ihm die Gesichtszüge nun vollkommen entgleisten. Diese kleine Schlampe wollte ihn anscheinend zum Narren halten. Wütend griff er über den Tisch und packte ihren Arm. »Was soll das Theater? Hier geht es gar nicht um ein Interview. Willst du wissen, ob ich die Crown auf dem Gewissen habe?«

»Du tust mir weh.«

»Das kann schon sein. Am Ende kriegt jeder genau das, was er verdient!«

Sophie riss sich los und starrte ihn fassungslos an. »Fahr zur Hölle!«, zischte sie, bevor sie aus dem Restaurant stürmte. Marcello leerte wütend sein Weinglas. Er hatte sich den Abend ganz anders vorgestellt. Er winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Ihm musste dringend etwas einfallen. Wahrscheinlich musste er sich bei Sophie entschuldigen. Immerhin ging es nicht nur um das Hochglanzinterview. Warum war er auch nur so leicht reizbar? Sophie war ein Rohdiamant. Mit ihm würde sie zu einem hellen Stern werden, wenn sie sich vollkommen auf ihn einlassen würde. Sie würde ihn früher oder später verstehen. Eine weitere Niederlage würde er sich nicht antun.

 

*

 

 

Ben war froh, endlich Sophies Wagen in die Auffahrt fahren zu hören. Es war spät, und der Tag war lang und schrecklich gewesen. Er öffnete die Tür. Ronja sauste an ihm vorbei, um Sophie zu begrüßen. Sophie kuschelte kurz mit der jungen Hündin. Dann fiel sie ihm um den Hals und begann zu weinen.

»Hey! Komm erst mal rein.« Er streichelte ihr sanft den Kopf und führte sie in den Wintergarten auf einen Stuhl.

»Möchtest du ein Glas Wein?«

»Brandy!«

Ben nickte und kam nach einer Minute mit zwei Gläsern Cognac zurück. Sophie trank einen großen Schluck, streckte ihre Beine aus und atmete tief durch.

»Scheißtag!«

»Kann ich unterschreiben. Was war mit Mari?«

»Der Typ ist ein aalglattes Arschloch. Schleimig ohne Ende. Wir haben uns über seine aktuellen Projekte unterhalten. Plötzlich ist er aggressiv geworden. Ich glaube, er hat mir sogar gedroht.«

»Gedroht?«

»Ich habe kurz mal was wegen Laura gefragt.«

»Kurz mal eben. Ich verstehe.« Ben hätte am liebsten gebrüllt, dass sie nun endlich einmal zur Vernunft kommen sollte. »Was hat er denn gesagt?«

»Dass jeder am Ende bekommt, was er verdient.«

»Er wird Laura gemeint haben.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Er hat dabei meinen Arm festgehalten und mich wütend angestarrt.«

»Du musst dich jetzt echt mal ausruhen. Rubens hat den Mord gestanden. Wir haben den Brief doch gelesen. Der Fall ist erledigt. Er hat sie umgebracht. Er hat sie gehasst, weil sie ihn nicht liebte.«

Sophie sah ihn skeptisch an. »Und dann hat er sich erschossen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist doch der komplette Wahnsinn! Wenn ich die Person getötet hätte, die ich so hassen würde, dann würde ich das auskosten. Dann hätte ich doch endlich meine Genugtuung. Nach all den Jahren. Warum sollte ich mir dann eine Kugel in den Kopf jagen?«

Ben zuckte mit den Schultern. Er wusste keine Antwort.