22
Sophie ging an die Elbe und lief am Strand entlang in Richtung Teufelsbrück. Sie wünschte sich, Ben hätte ihr Ronja dagelassen. Mit der lustigen Hündin wäre der schöne Spaziergang perfekt gewesen. Sie hatte es nicht weit zur Elbkate. Das kleine Restaurant mit dem Biergarten lag unterhalb Schröders Elbpark direkt am Wasser. Der Biergarten war voller Menschen, trotzdem erblickte sie Sascha Richter sofort. Er saß auf einer Bank und schaute unruhig umher. Er stand auf, als er sie erkannte, und machte ein paar Schritte auf sie zu.
»Sophie, schön, Sie zu sehen«, begrüßte er sie sichtlich nervös.
Sophie gab ihm die Hand. »Setzen wir uns doch. Ist das nicht eine herrliche Aussicht?« Sophie ließ den Blick über die Elbe schweifen. Auf der anderen Uferseite lag Finkenwerder und der Waltershofer Hafen.
Sascha nickte. Es war offensichtlich, dass es ihn nicht im Geringsten interessierte.
»Was möchten Sie trinken? Hier ist Selbstbedienung. Ich geh mal zur Ausgabe«, bot Sascha an. Sophie schielte auf den Tisch. Richter hatte sich offensichtlich bereits ein Bier gegönnt.
»Ich nehme einen Latte macchiato und …« Sie wusste, dass es verwerflich war, einen Alkoholiker auf einen Drink einzuladen, aber Richter hatte schon mindestens ein Bier intus und bei der ›Dinnerparty‹ hatte er auch ordentlich gebechert. »Und bei diesem spanischen Wetter einen kleinen spanischen Brandy, bitte.«
»Klingt gut. Ich lade Sie ein.«
Richter verschwand und Sophie versuchte, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er war ein erwachsener Mann, und wenn der Schnaps seine Zunge lockern sollte, hätte sie nichts dagegen.
Richter kehrte nach zehn Minuten mit einem Tablett zurück.
»Wann kommt der Fotograf?«, fragte er, als er den Kaffee und zwei doppelte Brandys auf dem Tisch abstellte.
Sophie stutze. »Welcher Fotograf?«
»Na, ich bin davon ausgegangen, dass wir ein Bild machen lassen. Für das Porträt. Sie kennen doch meine Bedingungen.«
Sophie lächelte reserviert. »Sascha, Sie sind doch Profi. Sie wissen ganz genau, wie es läuft. Ich mache jetzt ein erstes Interview. In einer Redaktionskonferenz wird dann besprochen, wann beziehungsweise ob wir eine Story daraus machen.«
»Ich hatte mich doch klar ausgedrückt«, zischte Richter wütend.
Sophie stand auf. »Dann tut es mir leid!«
Richter atmete tief durch. »Setzen Sie sich! Wir machen das Interview, und Sie werden alles tun, um diese Story durchzubringen. Haben Sie mich verstanden?«
Sophie dachte bei sich, womit er sie einschüchtern wollte. Sie hätte ihn gerne gefragt, was er sich eigentlich einbildete, aber sie schluckte ihre Wut herunter und kramte Block und Kugelschreiber aus der Tasche.
»Herr Richter, Sascha, Sie wollten mir etwas über Laura erzählen und über den Abend, an dem sie überraschend starb.«
»Tragisch. Diese wunderschöne Frau. Laura war sicher die schönste Schauspielerin, die wir in Deutschland hatten. Sie hätte es in Amerika schaffen können. Sie ähnelte der Zeta Jones, finden Sie nicht auch?«
Sophie nickte. Die Frauen hatten tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit, nur dass Lauras Augen eisblau waren. Sophie konzentrierte sich auf die nächste Frage.
»Sie haben damals ›Die mexikanische Nanny‹ mit ihr gedreht. Der Film war Lauras Durchbruch. Sie waren damals ein recht erfolgreicher deutscher Soapstar. Haben Sie den Film als Chance gesehen?«
Sophie hatte fast einen Krampf in der Zunge. Nie im Leben würde sie solche Fragen in einem echten Interview stellen. Richter sah sie gedankenverloren an. Dann trank er einen großen Schluck Brandy.
»Als Chance?«, nahm er den Faden wieder auf. »Ja, allerdings. Das Drehbuch war wundervoll. Ich, einsamer Witwer mit drei kleinen Kindern, suche eine Nanny. Die Nanny kommt aus Mexiko und wir verlieben uns. Ihr Freund, ein feuriger Kerl …«
»Marcello Mari.«
»… will sie für sich zurückgewinnen und nach diversen Irrungen und Wirrungen wären die Nanny und der Witwer glücklich verheiratet und die Kinder hätten eine neue Mutter gehabt.«
»So endete der Film aber nicht.«
Richter kippte den Rest Brandy hinunter. »Nein, so war er nur geplant. Der Film war ganz anders. Und ich war am Ende der Idiot. Dabei sollte ich die Hauptrolle spielen. Es sollte um den Witwer gehen und wie er sein Leben meistert. Eine interessante Charakterrolle. Der Arbeitstitel war ›Papa und die Nanny‹. Laura und Mari waren im ursprünglichen Drehbuch nur Nebenfiguren!«
Sophie war ehrlich überrascht. Natürlich wurden Drehbücher umgeschrieben, aber dass man während der laufenden Dreharbeiten die gesamte Handlung änderte, das war mehr als ungewöhnlich.
»Der Film hat mich mein Leben gekostet«, jammerte Richter weiter. »Die Kritiker haben mich in der Luft zerrissen. Mit Recht. Als ich den Film auf der Premierenparty bei Rubens zum ersten Mal in voller Länge gesehen habe, hätte ich mir eine Kugel in den Kopf jagen können. Ich bekam nach der Ausstrahlung kaum noch Angebote. Meine Frau zog mich gerne damit auf. Sie ist ja selbst Schauspielerin und hat auch immer einen Job – auch heute noch. Ich fing an zu saufen. Am Ende hat sie mich sitzen lassen und die Kinder mitgenommen. Ich war schlimmer dran als die arme Sau in dem blöden Film. Der hatte ja zumindest noch seine Kinder.«
Sophie schluckte. Irgendwie tat Sascha Richter ihr plötzlich leid. »Ich verstehe nicht, warum ein Drehbuch derart umgeschrieben werden kann, wenn die Dreharbeiten bereits begonnen haben?«
Sascha starrte sie entgeistert an. »Ich dachte immer, Sie seien eine intelligente Frau! Das gibt es doch gar nicht.« Sascha griff sich den von ihr nicht angerührten Brandy und kippte ihn auf ex. »Laura hat mit Rubens geschlafen! Ihm vorgegaukelt, sie würde ihn lieben. Das volle Programm. Der alte Sack war so geschmeichelt und so süchtig nach Laura, dass er das Drehbuch immer wieder umschreiben ließ, bis Laura plötzlich die Hauptrolle hatte.«
Sophie schnappte nach Luft.
»Da waren Sie wohl ziemlich sauer?«
»Sauer?« Sascha Richter sah sie aus schmalen Augen an. »Sie haben ja keine Ahnung. Ich war wütend. Ich habe Laura gehasst.«