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Sascha Richter wachte am späten Vormittag auf. Es ging ihm dreckig. So dreckig wie schon lange nicht mehr. Er hatte viel zu viel getrunken. Die zweite Nacht in Folge. In seinen schlimmsten Zeiten hatte er jede Nacht durchgesoffen. Sein Kopf dröhnte und sein Magen drehte sich, als er sich aufsetzte. So konnte er auf keinen Fall weitermachen. Die erste Nacht hatte er damit entschuldigt, dass sie einem ganz besonderen Abend folgte. Laura war tot. Wie oft hatte er sich ihren Tod gewünscht? Sich vorgestellt, wie sie irgendwie langsam verreckte? Seinen gestrigen Absturz entschuldigte er damit, dass er in Feierlaune gewesen war. Laura war tatsächlich tot. Die Gerechtigkeit hatte am Ende gesiegt. Schließlich hatte Laura ihn damals getötet. Den alten Sascha Richter. Der Film ›Die mexikanische Nanny‹ sollte sein großer Durchbruch werden. Nach all den unbedeutenden Rollen als seichter Schönling in irgendwelchen Seifenopern sollte diese Produktion ihn als ernsthaften Schauspieler etablieren. In der Rolle als gebrochener Familienvater, der durch das Kindermädchen neuen Lebensmut fasst und sich am Ende sogar in sie verliebt, hätte er all seine Facetten zeigen können. Er hatte sich schon ausgemalt, wie er in den Kreis der Topschauspieler aufgenommen würde. Wie die Drehbücher nur so ins Haus geflattert kämen und er nur die Rosinen aus dem Kuchen picken musste. Filmverleihungen. Filmpreise. Er hätte groß rauskommen können. Auf den roten Teppichen hätten die Fans seinen Namen gebrüllt und nicht den seiner heutigen Exfrau. Doch dann kam alles so anders. Laura hatte dafür gesorgt, dass die Bücher umgeschrieben wurden. Sie hatte mit dem alten Sack Rubens geschlafen, um ihren Willen durchzusetzen. Schließlich war aus seiner Hauptrolle eine bessere Nebenrolle geworden. Das Ende wurde abgewandelt und so heiratete die Nanny den schönen Mexikaner. In der Schlussszene war es Marcello Mari, der Laura küsste. Der Film wurde ein großer Erfolg. Laura war der neue deutsche Filmstar. Und er? Nicht mal die Presse nahm ihn wahr. War es denn ein Wunder, dass er mit der Sauferei angefangen hatte? Und dann hatte er alles verloren. Seine Frau hatte die Kinder mitgenommen. Er sah sie unregelmäßig. Seine eigenen Kinder zeigten an ihm kein großes Interesse. Er war nur ein Wurm in einer miesen Dreizimmerwohnung in Barmbek. Laura hatte seine Karriere zerstört. Nun hatte die Schuldige endlich das bekommen, was sie verdiente. Der alte Rubens war noch immer der Produzent, der Schauspieler zu Stars machen konnte. Er hoffte, dass Victor ihm ein Angebot unterbreiten würde. Irgendeine kleine Rolle musste er doch für ihn haben. Sascha wusste, dass er wieder Fuß fassen musste in dieser Branche. Für Victor war es doch kein Problem, ihn in irgendeiner seiner unzähligen Produktionen mitspielen zu lassen. Lauras Tod ging durch die Presse. Vielleicht würde man sogar ›Die mexikanische Nanny‹ noch einmal im Fernsehen zeigen. Sascha massierte sich die Schläfen. Das mit der Sauferei musste sofort wieder aufhören. Er musste sich in den Griff bekommen und seine Chancen wahrnehmen. Er wollte fit sein. Victor würde ihm sicher etwas anbieten. Er musste einfach. Sonst war Rubens genauso schuld an seinem Untergang. Und das würde er nicht so einfach hinnehmen, dachte Sascha Richter, bevor er sich übergeben musste.

 

*

 

 

Sophie fuhr zurück nach Othmarschen. Sie ließ das Gespräch mit Ricky noch einmal Revue passieren. Laura hatte aller Wahrscheinlichkeit nach Drogen genommen. Sophie war nicht besonders überrascht. Sie kannte genug Models und Schauspielerinnen, die den Jetlag oder die Nervosität mit Pillen und Pülverchen neutralisierten. Aber Laura war tot und sie hatte mit ihrem Tod gerechnet. Er wurde ihr von einer unbekannten Person angedroht. Ben hatte ja recht. Sie musste Stefan sofort den Brief und die geklebten Drohbriefe übergeben. Es würde keine weiteren Ermittlungen geben ohne das Beweismaterial. Bis jetzt ging die Polizei von einem selbst verschuldeten Unfall aus. Medikamentenmissbrauch. Lutz hatte auch nichts finden können, was auf Fremdeinwirkung deutete. Laura war nicht vergiftet worden. Zumindest nicht mit einem klassischen Gift, an das man im ersten Moment dachte. In Kriminalromanen starben die Opfer an Arsen, Strychnin oder Blausäure. Im wahren Leben war es unmöglich, anonym an solche Substanzen heranzukommen. Aber das hieß ja noch lange nicht, dass es nicht andere Mittel und Methoden gab, einen Menschen zu töten. Sophie stoppte an einem Copyshop und sah sich die Drohbriefe noch mal genauer an. Laura hatte geschrieben, dass sie den ersten bereits in Amerika erhalten hatte. Beide Briefe waren mit aus einer Zeitschrift ausgeschnittenen Buchstaben beklebt. Die Buchstaben waren verschieden groß und mal glänzend, mal matt. Sophie ging davon aus, dass sie aus verschiedenen Magazinen stammten. Die Spurensicherung würde den Klebstoff analysieren und nach Fingerabdrücken suchen. Wo waren die Briefumschläge? War Laura tatsächlich so dumm gewesen, sie wegzuschmeißen? Vielleicht hatte der Verfasser den Fehler gemacht, und die Umschläge oder die Briefmarken angeleckt. Man hätte eine DNA-Analyse machen können. Sie las sich die Briefe nochmals durch. Im ersten stand:

 

Komm nicht zurück! Du hast eine Leiche im Keller. Willst Du auch sterben?

 

Sophie sah sich den zweiten Brief an, den Laura in Hamburg erhalten hatte.

 

Du willst also sterben! Gut so! Ich warte auf meine Chance. Das ist Gerechtigkeit!

 

Sophie starrte minutenlang auf die Zeilen und versuchte zu verstehen, was gemeint sein könnte. Was für eine Leiche könnte Laura im Keller gehabt haben? Abgrundtiefer Hass sprach aus den Zeilen. Aber warum? Und noch wichtiger, von wem? Bevor sie den Wagen verließ, nahm sie die sterilen Handschuhe aus dem Verbandskasten. Sie wollte nicht mehr Fingerabdrücke als nötig auf dem Beweismaterial hinterlassen. Und sie wollte möglichst wenige Spuren zerstören, wenn überhaupt welche vorhanden waren.

 

*

 

 

Ben hatte ausgiebig gefrühstückt. Sophie hatte nicht zu viel versprochen. Ihr Kühlschrank war überfüllt mit Delikatessen. Er hatte es sich richtig gut gehen lassen. Anschließend hatte er Sophies Bett abgezogen und die Bettwäsche in der Badewanne eingeweicht. Nun saß er mit Ronja im Garten und las die Tageszeitung. Es wurde über Laura und ihren, wie die Zeitung es nannte, mysteriösen Tod berichtet. Es fielen berühmte Namen, wie Anna Nicole Smith und Heath Ledger, die ebenfalls an einem tödlichen Medikamentencocktail gestorben waren. Wenn er darüber nachdachte, dass Sophie von Mord ausging und bereits dabei war, diesen Ricky zu befragen, wurde ihm angst und bange. Warum hatte Laura Sophie diese Briefe zukommen lassen müssen? Ben wusste, dass es unmöglich war, Sophie aufzuhalten, wenn sie sich etwas fest vorgenommen hatte. Es blieb ihm wohl wirklich nichts anderes übrig, als ihr in dieser Angelegenheit zu helfen. Er würde ein Auge auf sie haben und aufpassen, dass sie sich nicht in ernsthafte Schwierigkeiten brachte. Ben hörte, wie Sophie den BMW rasant in der Auffahrt abbremste. Einen Moment später öffnete sie die Eingangstür und rief seinen Namen. Ronja schoss sofort begeistert ins Haus, als sie Sophies Stimme hörte. Die beiden kamen gemeinsam in den Garten zurück.

»Ja, du bist aber auch eine Süße!«, rief Sophie und tollte mit Ronja herum.

»Die Süße hat deine Bettwäsche ruiniert, wenn ich dich erinnern darf.«

Sophie zuckte nur mit den Schultern.

»Jetzt erzähl schon. Konnte der Maskenbildner Licht ins Dunkel bringen?« Er klang viel zu ironisch.

»Interessiert dich das wirklich?«

»Ja, es interessiert mich«, lenkte er ein. »Ich bin nur nicht glücklich bei dem Gedanken, dass du dich da einmischst.«

Sophie ließ sich auf den zweiten Liegestuhl fallen und berichtete von ihrem Gespräch mit Ricky.

»In der Zeitung reden sie von einem tödlichen Medikamentenmix.«

»Was sollen die auch schreiben?« Sophie sah ihn erstaunt an. »Es weiß doch niemand was von den Briefen.«

»Stimmt. Und genau das werden wir sofort ändern.« Ben stand auf und pfiff nach Ronja. »Lass uns jetzt nach Lübeck fahren und das ganze Zeug zu diesem Kommissar Sperber bringen.«

»Du bist also dabei? Du hilfst mir?«

»Keine Ahnung. Vielleicht mache ich mir nur Sorgen, dass Sperber dich in der Luft zerreißt, wenn er erfährt, dass du Beweise zurückgehalten hast. Ich sehne mich bestimmt nicht danach, ihn wiederzusehen. Weißt du noch, wie der mich damals auf Fehmarn behandelt hat? Abgesehen davon bin ich wirklich der Meinung, dass du diese Briefe nicht im Haus haben solltest.«

Ben behielt seinen nächsten Gedanken für sich. Wenn es sich tatsächlich um einen Mord handelte und der Täter irgendwie erfahren hatte, dass Sophie im Besitz der Briefe war, würde ihm das ganz sicher nicht gefallen.