37
Robert stellte den Wagen einfach auf der Straße vor Maris Wohnung in Uhlenhorst ab. Es war unwahrscheinlich, dass er um diese Zeit einen legalen Parkplatz finden würde. Von den Hamburger Kollegen war noch niemand zu sehen. Er klingelte ohne viel Hoffnung. Niemand öffnete. Robert war nicht überrascht. Er hatte Mari den ganzen Tag telefonisch nicht erreichen können. Er drückte den Klingelknopf neben dem von Mari. Ein Summen. Die Haustür ließ sich öffnen. Robert schob die Fußmatte auf die Schwelle, um den Eingang für die Kollegen offen zu halten. Dann stieg er die Treppe des gepflegten Jugendstilhauses nach oben. Mari wohnte im ersten Stockwerk, in der sogenannten Beletage. An der gegenüberliegenden Tür wartete ein drahtiger älterer Mann. Sein noch immer dichtes graues Haar war kurz gehalten und er trug einen teuren Trainingsanzug.
»Wollen Sie zu mir?«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, ich will zu Herrn Mari. Habe ich mich etwa in der Klingel vertan? Das tut mir leid.«
Am liebsten hätte Robert sofort das Schloss aufgebrochen, um sich die Wohnung mal genauer anzusehen. Die Kollegen würden sicher gleich kommen. Wenn Marcello Mari tot in seiner Bude lag, würde er das sehr bald wissen.
»Der Mari ist nicht da.«
»Ach, haben Sie ihn weggehen sehen?«
Der Mann grinste. »Das nicht. Aber wenn er da ist, höre ich ihn. Entweder lernt er seine Texte oder er spricht mit seiner Freundin. Der weiß, wie man Frauen behandelt.«
Robert merkte, wie der Kerl ihn musterte. Wie ein Scanner machte er sich sein Bild von ihm.
»Sind Sie auch in dieser Branche?«
»Nein. Ich bin von der Kripo und ich möchte, dass Sie jetzt wieder zurück in Ihre Wohnung gehen und die Tür schließen.«
»Ich war lange beim Militär, mein Junge.«
Endlich hörte er Schritte. »Das sind die Kollegen. Bitte gehen Sie zurück in Ihre Wohnung.« Robert drehte sich zur Treppe, um die Beamten zu begrüßen. Verwirrt starrte er die Männer an, die eben die Treppe heraufkamen. Es überraschte ihn, sowohl Ben als auch diesen Lasse hier anzutreffen.
»Was wollt ihr denn hier?«
Die beiden waren außer Atem. Sie mussten gerannt sein. Robert schlug das Herz bis zum Hals. Eine böse Vorahnung beschlich ihn. Er wusste die Antwort bereits, bevor Ben sie ihm gegeben hatte.
»Wir suchen Sophie. Da stimmt was nicht.«
*
Ben hatte nicht erwartet, dass Kommissar Feller derart besorgt reagieren würde.
»Sophie?«, fragte er ächzend. Er war schlagartig blass geworden.
»Lasse und ich fürchten, dass sie in eine Falle gelockt wurde.«
»Von Mari?«
»Seine Freundin heißt aber Monika. Er schreit immer ›Monika‹, wenn er sie …, na, Sie wissen schon.«
Robert drehte sich wütend um. »Wenn Sie jetzt nicht endlich in ihrer Wohnung verschwinden, verhafte ich Sie auf der Stelle wegen Behinderung der Ermittlungen!«
»Wenn Sie wüssten!« Mit diesen Worten schloss der Typ seine Wohnungstür.
Schnell erzählte Ben von der mysteriösen SMS und dem angeblichen Treffen im Cox.
»Ich habe die Nachricht jedenfalls nicht geschrieben«, setzte Lasse hinzu.
Kommissar Feller nickte. »Und warum habt ihr Sophie nicht angerufen?«
»Haben wir«, erklärte Ben schluckend. Ihm war fast schlecht vor Sorge. »Sie geht nicht ans Telefon. Nur die Mailbox.«
Robert nickte. »Scheiße!«
»Was jetzt?«
Feller riss sich das Jackett vom Körper.
»Jetzt trete ich die Tür ein. Gefahr in Verzug.«
Es krachte einen Moment später, und die Tür fiel aus den Angeln. Ben schob anerkennend die Unterlippe vor. Rob schien gar nicht so soft zu sein, wie er es vermutet hatte.
»Ihr bleibt bitte draußen. Ich bringe mich schon genug in Schwierigkeiten.«
Ben stand an der Tür, hielt sich aber an den Befehl. Lasse saß auf einer Treppenstufe und kaute an seinem Daumennagel.
Nach kurzer Zeit kam Robert zurück.
»Hier ist niemand.«
»Was jetzt?«, fragte Lasse.
»Ich werde hier jedenfalls nicht herumsitzen!«, rief Ben. Seine Stimme zitterte.
»Niemand wird hier rumsitzen«, machte Robert Feller klar. »Die Polizei wird jeden Moment eintreffen. Die sollen die Wohnung bewachen.«
»Toll. Das wird Sophie natürlich helfen.«
»Verdammt, Ben. Ich muss warten, bis die Kollegen da sind. Dann fahr ich ins Cox und frage die Leute da.«
»Gute Idee. Endlich kommst du mal aus dem Quark! Ich fahre nach St. Georg und suche ihren Wagen. Sophie ist doch ein schlaues Mädchen! Vielleicht hat sie eine Nachricht hinterlassen.«
Ben schluckte. Sophie hatte ein schlechtes Gewissen wegen Mari gehabt. Eine gute Voraussetzung für ihn, sie in eine Falle zu locken.
*
Sophie setzte sich auf die bequeme Couch und zündete sich die lang ersehnte Zigarette an. Sie konnte hören, wie er in der Küche nebenan die Weinflasche entkorkte. Kurze Zeit später kam er mit zwei eingeschenkten Gläsern und der offenen Flasche zurück.
»Zum Wohl, meine Liebe. Schön, dass der Zufall uns noch mal zusammengebracht hat und wir einfach so, ohne Stress, diesen guten Tropfen genießen können!«
Sie nahm ihr Glas.
»Prost!«
Sophie trank einen Schluck und fragte sich, was an dem Wein so besonders sein sollte. Er schmeckte eher merkwürdig. Ein bisschen seifig oder salzig. Wahrscheinlich war das Glas nicht ordentlich gespült worden. Tapfer trank sie es trotzdem, während er über das tolle Wetter sprach.
»Und? Was sagst du zu dem Wein?«, fragte er neugierig, nachdem sie das Glas fast geleert hatte.
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, gab sie ehrlich zu. »Hattest du das Glas in der Spülmaschine?«
»Spülmaschine? Nein.«
Ihr wurde wieder nachgeschenkt. Sophie hoffte, dass der salzige Nachgeschmack nun weg war. Tapfer probierte sie noch mal. Ja, nun war es besser.
»Doch, sehr lecker.«
»Es ist eine Shiraz-Traube.«
»Wo ist denn das Ladegerät? Ich würde mein Telefon wirklich gerne wieder funktionstüchtig machen.«
»Dein Telefon?« Er sah sie erstaunt an. »Das brauchst du doch gar nicht mehr.«
Sophie lachte kurz. »Natürlich brauche ich es. Wahrscheinlich ist Lasse die Verabredung inzwischen wieder eingefallen. Er versucht sicher, mich zu erreichen.« Sophie wurde langsam ungeduldig. »Und es wäre wirklich wichtig für mich, ihn heute noch zu treffen.«
Sein Blick wurde plötzlich weich. Er sah sie mitleidig an und lächelte. »Lasse? Der weiß doch gar nichts von eurer Verabredung.«
»Was soll das?«
Nun kicherte er, als habe er soeben einen köstlichen Witz gerissen. »Ich habe doch die SMS geschrieben.« Er hielt ein Handy hoch. »Hier, das ist Lasses Telefon.«
Sophie wurde plötzlich kalt. Trotzdem spürte sie einen Schweißfilm auf ihrer Stirn. Ihre Knie wurden weich. Ganz langsam stieg Panik in ihr auf. Sie fragte sich, warum sie nicht schrie. Warum sprang sie nicht auf? Weil es sowieso zu spät war? Sie war wie gelähmt.
»Warum?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. In ihrem Kopf hallte die Stimme laut. Warum bist du eine so verdammt naive Kuh? Du hast dich in die Falle locken lassen!
*
Mit knappen Worten berichtete Robert Feller den Hamburger Kollegen, warum er die Tür hatte aufbrechen müssen. Er beneidete Ben, der einfach hatte losstürmen können, um nach Sophie zu suchen. Offiziell durfte das natürlich nicht in seinem Sinne sein. Es war Sache der Polizei, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Unter den gegebenen Umständen war er aber froh, dass Ben sich nicht aufhalten ließ. Vielleicht gelang es ihm, Sophie zu finden. Lasse war zusammen mit Ben gegangen. Robert trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Es störte ihn zum ersten Mal, dass er sich an die Regeln der Polizei zu halten hatte. Wenn Mari Sophie etwas angetan hatte, während er hier herumstand – nicht auszudenken!
»Ich werde Ihnen Rede und Antwort stehen, aber nicht jetzt«, erklärte er abschließend. »Wir suchen weiter nach Marcello Mari und Sophie Sturm.«
»Wir werden eine Fahndung rausgeben.«
Robert bedankte sich bei den Hamburger Kollegen und lief zu seinem Wagen. Lasse stand dort und hatte einen Hund an der Leine. Ronja. Die Hündin begrüßte ihn stürmisch.
»Hey, wie geht es dir?« Er klopfte ihren Rücken.
»Ihr kennt euch?«, fragte Lasse erstaunt.
Unter anderen Umständen hätte Robert über diese Formulierung gelacht. »Ja, wir kennen uns. Und was machst du hier noch? Warum ist Ronja hier?«
»Ben hat mir einfach die Leine in die Hand gedrückt. Er ist ohne sie schneller, hat er gemeint.«
»Ich verstehe.«
»Ich habe schon mal im Cox angerufen!«
»Verdammt, Lasse, das ist Arbeit der Polizei!«
»Sophie war da!« Lasse sah ihn eindringlich an.
»Wann?«
»Gegen halb acht. Sie hat nach mir gefragt und was getrunken. Sie hat gleich bezahlt, darum hat keiner der Kellner weiter auf sie geachtet.«
Robert stieg bereits in den Wagen und startete den Motor.
»Ich fahr hin.«
»Kann ich mitfahren?«
»Mitfahren?«
»Ich wohn doch in St. Georg. Und ich will Ronja jetzt nicht mehr durch die Gegend zerren. Sie gähnt die ganze Zeit. Ich kenn mich mit Hunden nicht so aus, aber ich glaube, sie ist k.o. Ben war mit ihr den ganzen Tag an der Ostsee.«
Robert nickte. Was mit Lasse war, war ihm ziemlich egal. Lasse hatte Glück, dass ihm Ronja anvertraut worden war. An der kleinen Hündin hing Sophies Herz, das hatte er gespürt. Und sein eigenes Herz schien für Sophie zu schlagen. »Dann los. Lasse, steig ein.«