17

»Teske!«

Jochen blickte auf, als ihn Burmesters dröhnende Stimme traf. Der Schichtführer winkte ihn zu sich.

Burmester grinste breit, als Jochen vorm Tresen stehenblieb. »Waren Sie es wirklich, der den Knilchen vom KDD den Tipp mit dem Hamburger Johnny gegeben hat?«

Jochen spürte, wie er rot wurde. Einige Kollegen, die auf die Zuweisung ihrer Aufgaben warteten, sahen herüber.

»Steht denn schon fest, dass Klein und die gesuchten Personen identisch sind?«, fragte er.

»Die Kollegen arbeiten dran. Es wird schon klappen«, meinte Burmester zuversichtlich. »Da muss ein Junge aus der Heide kommen.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie haben ihm eine verpasst. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen nachher bei der Abfassung des Berichts. Sie müssen erst noch dahinterkommen, was unsere Richter hier gern hören.« Burmester sah Jochen wohlwollend an. »Weiter so, Junge! Oder ist noch was?«, erkundigte er sich dann, als er sah, wie Jochen nach den richtigen Worten suchte. Dabei hatte Eggert ihm genau erklärt, wie er Burmester am besten auf die Leimrute locken konnte.

»Sie erinnern sich, ich war vorige Woche in Sennefeld . . .«

»Ihre Zeugenaussage gegen einen Ganoven, ich weiß. Er hat 15 Monate bekommen. Hat sich also gelohnt.«

»Der Mann wurde gegen verschiedene Auflagen auf freien Fuß gesetzt. Von meinen ehemaligen Kollegen aus Uhlenbeck weiß ich, dass er sich abgesetzt hat.«

Burmesters Augen begannen interessiert zu funkeln. »Sagen Sie bloß . . .«

»Er heißt Harry Böhme. Er und Klein sind Komplizen, das weiß ich. Klein hat mir gesagt, wo Böhme sich versteckt.«

»Einfach so?«, erkundigte sich Burmester skeptisch.

»Er hoffte, dass ich ihn laufen lassen würde«, antwortete Jochen, was sogar der Wahrheit entsprach. Jochen nannte die Adresse, und dann wartete er, ohne sein fiebriges Interesse erkennen zu lassen.

Burmester kratzte sich am Kopf, dann schrie er: »Eggert! Eggert, wo steckst du, zum Teufel?«

Ralf Eggert kam gemächlich aus dem Umkleideraum. »Wo brennt es?«, fragte er, ohne Jochen anzusehen.

»Ihr könnt euch einen Ganoven abholen. Teske sagt dir, wo. Ich regele inzwischen die Sache mit der Zuständigkeit.« Burmester zwinkerte. »Wir wollen den Kollegen vom Nachbarbereich mal zeigen, was für helle Jungs wir haben!«

Dieses Mal stand der Eingangsbereich weit offen, doch Ralf Eggert hielt Jochen am Arm fest, als er einfach hindurchgehen wollte.

»He, he!«, sagte Eggert. »Was wird die Ganovenbraut tun, wenn sie uns zwei schmucke Polizisten durch den Türspion erblickt? Wie willst du sie dazu bringen, dass sie die Tür öffnet, na? Habt ihr da in der Heide eure besonderen Tricks?«

Jochen starrte den Kollegen an. Er mahlte vor Ungeduld mit dem Unterkiefer.

»Jetzt lass dir mal zeigen, wie wir so was anfangen.« Er suchte die Klingel mit dem Namen Graulich. »Sie heißt Renate, sagtest du?« Er klingelte zwei Mal.

Sie warteten. Jochen spürte seine verkrampften Gesichtsmuskeln kaum noch. Er konnte es nicht mehr erwarten, Harry Böhme erneut gegenüberzutreten. Dieses Mal musste der Ganove Farbe bekennen.

»Vielleicht ist niemand da«, sagte er heiser.

Eggert hob die Schultern. »Vielleicht arbeitet sie, oder ist zum Einkaufen weggegangen. Dieser Böhme wird dann nicht an die Tür gehen.« Er klingelte noch einmal.

Dieses Mal knackte es im Türlautsprecher.

»Ja? Wer ist da?«, fragte eine weibliche Stimme.

»Ich habe hier einen Einschreibebrief für Renate Graulich«, sagte Eggert gegen das Sprechgitter. »Sind Sie das?«

»Ja. Kommen Sie rauf. 1214, zwölfter Stock links.«

»Siehst du, so macht man das«, sagte Eggert zu Jochen, als sie im Lift nach oben schwebten.

Die Frau an der Tür von 1214 war an die Dreißig. Sie hatte ein hübsches, wenn auch etwas zu hartes und puppenhaft starres Gesicht. Sie trug einen Morgenmantel, den sie mit einer Hand über der Brust geschlossen hielt, um die Fülle darunter zu verbergen.

Als sie die beiden Polizisten erblickte, riss sie zuerst die Augen auf, dann den Mund.

Eggert drückte gegen die Tür.

»Sagen Sie lieber nichts, Fräulein!«, zischte er. »Sonst stehen Sie als die Dumme da. Wir dürfen doch eintreten?« Er schob sich einfach an ihr vorbei.

Jochen folgte Eggert in einen Flur, dessen Größe ihn überraschte. Er sah sein Spiegelbild in einem hohen Spiegel mit Goldrahmen. An der Garderobe hingen ein Fuchsmantel und ein Herrenmantel aus weichem Leder mit Pelzkragen und Pelzfutter. Ein kleiner Zweifel begann in Jochen zu nagen. Wenn dieses eine Absteige war, überlegte er, dann war es keine billige. Was hätte .ein mieser kleiner Halunke wie Harry Böhme hier verloren?

Fünf Türen mündeten in den Korridor. Alle waren geschlossen.

»Was wollen Sie hier?«, stieß die Frau hervor.

»Langsam, Frau Graulich. Oder Fräulein? Bei Ihnen soll sich ein Mann aufhalten, der sich der Strafvollziehung entzieht. Sind Ihnen Begünstigung und Beihilfe zur Strafvereitelung vertraute Begriffe? Ich könnte Ihnen die entsprechenden Paragraphen der Strafprozessordnung nennen, gegen die Sie verstoßen, wenn Sie die betreffende Person weiterhin bei sich verbergen. Aber ich denke, Sie werden jetzt auf eine Tür deuten, wir reden mit dem Mann und gehen dann ganz friedlich wieder, und für Sie ist der Fall damit möglicherweise erledigt.«

Die Augen der üppigen Blondine huschten zu einer Tür auf der rechten Seite und zuckten sofort wieder zurück, Jochen wollte sich auf die Tür stürzen, aber Eggert hob gebieterisch die Hand. Jochen blieb bei der Frau, während Eggert mit zwei schnellen Schritten an der Tür war. Er lockerte die Lasche über der Pistole und holte tief Luft. Dann stieß er die Tür auf.

Der Raum hinter dem sich öffnenden Spalt war dunkel, aber Jochen sah die breite Schulter eines Mannes, der von Eggert zum größten Teil verdeckt wurde. Die Schulter steckte in einem gut geschnittenen dunkelblauen Anzug.

Jochens Kopfhaut zog sich zusammen, als ihm Ralf Eggerts unnatürlich steife Haltung auffiel. Eggerts Fuß bewegte sich endlich, machte einen tastenden Schritt rückwärts.

Und jetzt sah Jochen das Gesicht des Mannes.

»Reimers!«, schrie er und stieß die Frau zur Seite, um sich auf den Mann zu stürzen.

»Jochen!« Eggerts Stimme klang flach und flehend zugleich.

Jochen erstarrte, als er die schwere Pistole in Reimers' Hand erblickte. Ihre Mündung war auf Eggerts Nasenwurzel gerichtet. Jochen sah Eggerts Augen, und er erkannte die Angst darin. Todesangst.

Und jetzt sprang sie auch ihn an. Seine Knie begannen zu zittern, sein Herzschlag schien auszusetzen, um dann mit um so heftigerem Ruck wieder einzusetzen.

Reimers hatte nichts zu verlieren. Er hatte schon einen Polizisten getötet . .

Aber er kann nicht ahnen, dass wir es wissen! Der Haftbefehl bestand wegen vergleichsweise geringfügiger Delikte, wenn man sie mit einem Polizistenmord verglich.

»Machen Sie keinen Quatsch, Reimers!«, sagte Jochen.

Er machte einen Schritt auf Reimers zu.

Reimers Oberlippe wurde blass und straff und zog sich bis unter die Nase hinauf. Sein Daumen zog den Spannabzug der Pistole zurück.

»Jochen, um Himmels willen . . .«, sagte Eggert.

Jochen blieb stehen. Reimers schob sich um Eggert herum. Rückwärts ging er zur Tür, ohne Eggert aus den Augen zu lassen. Mit der freien Hand winkte er der Frau.

Sie hatte ebenfalls Angst, deshalb gehorchte sie. Sie gab ihm den Schlüssel zur Wohnungstür. Reimers packte einen ihrer fleischigen Oberarme, bevor er die Tür öffnete und einen schnellen Blick hinauswarf.

Er zerrte die Frau mit sich nach draußen und steckte den Schlüssel ins Schloss.

»Sie bleibt vor der Tür stehen«, sagte er. »Schießt ihr keine Löcher in die Haut!«

Krachend flog die Tür ins Schloss, der Schlüssel wurde herumgedreht. .

Jochen rannte zur Tür. Im Laufen riss er die Pistole heraus.

»Jochen, nicht!«, schrie Eggert. Er sprang ihn von der Seite an und riss ihn zu Boden. »Wenn er durch die Tür feuert . . .«

Atemlos lagen sie auf dem dicken Teppich. Jochen sah Eggerts Gesicht nah vor sich. Die Haut war grau wie nasses Papier, große Schweißtropfen quollen aus den Poren, die Augen zuckten.

Jochen stieß Eggerts Hand, die sich in seiner Uniformjacke verkrallt hatte, weg und sprang zur Tür. Er zerrte am Griff und schrie die Frau, die er auf der anderen Seite vermutete, an, aufzuschließen.

Ihre Stimme klang dünn. »Er hat den Schlüssel mitgenommen . . .«

»Gehen Sie zur Seite!« brüllte Jochen, als er seine Pistole zog und sie auf das Schloss richtete.

Ein seltsamer Laut ließ ihn herumfahren.

Eine andere Tür stand jetzt offen. Im Rahmen stand Harry Böhme, erstarrt wie ein ertappter Hausfreund. Er trug noch eine Pyjama-Jacke über den verschlissenen Jeans. Die ausgelatschten Turnschuhe hielt er in der Hand.

Als er Jochen erkannte, schleuderte er die Schuhe nach ihm und jagte über den Flur, auf eine andere Tür zu.

Eggert stellte ihm ein Bein, und Harry flog wie vom Katapult abgeschossen durch die Luft. Blut spritzte aus seiner Nase, als er auf dem Boden aufschlug.

Mit einem heiseren Laut war Jochen über ihm. Er zerrte ihn in die Höhe und trieb ihn mit Faustschlägen vor sich her in das Zimmer zurück, in dem eine schlanke Rothaarige erschreckt aus dem Bett sprang.

»Raus!«, herrschte Jochen sie an.

Splitternackt flüchtete sie ins Bad.

Harry Böhme hob schützend die Hände vor sein Gesicht, als Jochen ihn über das Bett warf.

»Du hast keine Zeit, Harry«, sagte er. Sein verzerrtes Gesicht flößte dem Gauner Furcht ein. »Was weißt du von meiner Schwester?«

»Nichts, nichts, nur . . . der Reimers hat damit angegeben, dass er die Schwester eines Bullen . . .« Er schluckte, als er Jochens Faust auf sich zukommen sah.

»Wo ist sie jetzt? Bei Gott, Harry, du musst es mir sagen, oder ich . . .«

»Ich weiß es doch nicht . . .« Harry Böhmes blutverschmiertes Gesicht verzog sich zu einer weinerlichen Grimasse. »Ich weiß nur, dass irgendwas nicht stimmt ... Er hält sie irgendwo, wo sie nicht reden kann . . . Mein Gott, ich habe Schmerzen! Sie haben mir die Nase gebrochen!«

Jochen richtete sich schwer atmend auf, als Ralf Eggert hereinkam.

»Ich habe die Zentrale angerufen«, sagte er. «Du, ich glaube, wir haben da in ein Wespennest gestochen. Die Kameraden von der Kripo kommen mit großer Besetzung.« Er machte ein bedenkliches Gesicht. »Hoffentlich haben wir keinem auf die Zehen getreten!«

Jochen ging in den Flur. Neben der immer noch abgeschlossenen Tür lehnte er sich gegen die Wand. Er schloss die Augen.

Reimers war ihm entwischt. Um ein Haar hätte es hier eine Katastrophe gegeben. Er schluckte. Er hatte lausige Angst gehabt, genau wie Ralf Eggert.

»Wir haben es nicht geschafft«, sagte Eggert, der sich neben Jochen stellte. »Wir haben ihn nicht umgelegt . . .«

Die Jagd wird niemals enden, dachte Jochen. Und wenn sie Reimers doch erwischten, eines fernen Tages, was wäre dann noch von Maria übrig? Er spürte die Tränen nicht, die zwischen seinen Lidern hervorquollen.

Er brauchte Hilfe, unkonventionelle Hilfe.

Er wusste jetzt, was er zu tun hatte. Es war eine letzte, verzweifelte Hoffnung.