22
Als Bandisch eineinhalb Stunden später in die Registratur zurückkehrte, saß Micky versunken vor seinem Terminal. Der lange Tisch, auf dem den Zeugen die Bilderbücher präsentiert wurden, war leer, Beate Vohsen nicht mehr da.
»Wo ist sie?«, fragte Bandisch laut.
Fischer fuhr auf seinem Stuhl herum. »Reinartz kam plötzlich rein. Er hat sie mitgenommen. Er will dich sprechen.«
»Hat sie jemanden erkannt?«, fragte Bandisch.
Fischer nahm eine Mappe auf und warf sie Bandisch zu.
»Er heißt Günter Wiehert, ist vorbestraft wegen Betruges, Körperverletzung und schweren Diebstahls im Rückfall.«
Bandisch schlug die Mappe auf, die einen Auszug der Strafakte enthielt. Das angeheftete Foto zeigte ein knochiges Gesicht mit dünnen Lippen und vorspringenden Wangenknochen. Bandisch hatte es noch nie gesehen. Wiehert war zweiunddreißig Jahre alt, nicht verheiratet. Zuletzt war er vor drei Jahren wegen organisierten Kraftfahrzeugdiebstahls, Urkundenfälschung und einiger anderer Delikte zu einer Gesamtstrafe von sechs Jahren und acht Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden.
»Er ist vor zwei Monaten entlassen worden«, sagte Fischer auf eine entsprechende Frage von Bandisch. »Ich habe das sofort gecheckt, Klaus. Jetzt lass Reinartz nicht länger warten.«
Bandisch legte einen Zettel neben den Terminal. »Sie heißt Vera Petzold. Sieh mal nach, ob du was über sie findest?«
»Ist sie nett? Willst du wissen, ob ihre Eltern wohlhabend sind?«
»Und dann versuch herauszufinden, ob sie in irgendeiner Beziehung zu diesem Wiehert steht oder gestanden hat.«
»Bekomme ich was Schriftliches?«
»Zieh erst mal das Programm durch, dann sehen wir weiter.«
*
Bandisch öffnete die Tür zu Reinartz' Büro. Er sah Beate an einem Tisch sitzen, umzingelt von den Beamten des Morddezernats. Reinartz sprang auf und drängte Bandisch in den Flur.
»Warum erfahre ich erst hintenrum, dass die Zeugin sich gemeldet hat?« Reinartz' schlaffer Mund zischte böse.
»Ich habe sie dazu zu bewegen versucht, den Aufenthaltsort des Ehlers anzugeben«, antwortete Bandisch zurückhaltend. Ihm lag nichts daran, Reinartz zu reizen.
»Was sie nicht getan hat«, stellte Reinartz fest. »Sie will ihren Geliebten schützen. Warum aber stellt er sich nicht, wenn er eine reine Weste hat?«
Bandisch zog es vor, die Frage nicht zu beantworten.
»Und was haben Sie getrieben?«, fragte Reinartz nörgelnd.
»Ich bin einem Teilaspekt ihrer Aussage nachgegangen«, sagte Bandisch. »Sie behauptet, sie sei von zwei Männern verschleppt worden.«
»Einen will sie identifiziert haben«, sagte Reinartz vorsichtig. »Was halten Sie davon? Kann es sein, dass sie einem größeren Dealer in die Quere gekommen ist, der gerade Stoff liefern wollte?«
»Möglich«, meinte Bandisch zurückhaltend. Er war froh, dass Reinartz nicht wissen wollte, was er wirklich unternommen hatte. Wie hätte er begründen sollen, dass er den Namen einer Frau festgestellt hatte, die — wie Beate Vohsen behauptete — hin und wieder dem Bauunternehmer Vohsen Gesellschaft leistete? Bandisch konnte sich nicht vorstellen, dass Beate Vohsen den anderen gegenüber ihre Beschuldigungen gegen ihren Vater wiederholt hatte. »Allerdings«, fügte Bandisch hinzu, »ist dieser Wiehert, den sie identifiziert hat, nicht im Zusammenhang mit Rauschgiftdelikten aktenkundig geworden.«
»Von mir aus stellen Sie seinen Aufenthaltsort fest, und von mir aus können Sie auch eine Gegenüberstellung ansetzen. Aber wissen Sie, was ich glaube?« Reinartz deutete auf die Tür, hinter der Beate Vohsen vernommen wurde. »Ich glaube, sie will Sie verschaukeln, Herr Bandisch. Sie hat auf eine beliebige Visage getippt.«
Reinartz grinste hämisch. »Ich schicke sie nachher wieder zu Ihnen. Kümmern Sie sich um sie. Lassen Sie sie nicht aus den Augen. Vergessen Sie nicht, dass wir diesen Ehlers brauchen!«
*
Bandisch trat neben Micky Fischer. Der Bildschirm des Terminals war mit Zeichen gefüllt.
»Hast du was entdeckt?«, fragte Bandisch.
»Ich kann keine direkte Verbindung zwischen Wiehert und der Petzold feststellen. Aber ich habe mit den anderen Namen herumgespielt, die in Beziehung zu Wiehert stehen. Und siehe da, dein Freund Wiehert hatte einmal einen Freund, besser gesagt einen Komplizen, mit dem er einen Antiquitätenhandel aufgezogen hatte. Die beiden haben gestohlene Einrichtungsgegenstände auf Trödelmärkten verscheuert. Dieser andere, Harald Otten, genannt Harry, hat sein Geld vor zwölf, fünfzehn Jahren noch als Zuhälter gemacht. Deine Freundin Vera Petzold gehörte zu seinem Stall, als sie noch auf den Straßenstrich ging.«
Bandisch setzte sich und zündete eine Zigarette an, was von Fischer mit einem missbilligenden Blick quittiert wurde. Vera Petzold und Harry Otten und Günter Wiehert, der Beate Vohsen betäubt und hundert Kilometer weit entfernt ausgesetzt hat, damit sie nicht dabei wäre, wenn ihr Freund getötet wurde.
»Was weißt du über Otten und die Petzold?«
»Vera Petzold hat sich anscheinend gemausert. Als Otten vor elf Jahren für einige Zeit hinter Gitter musste, hat sie sich eine kleine Wohnung genommen und begonnen, Kleinanzeigen aufzugeben. Modell mit viel Freizeit, so in der Art. Sie war damals vierundzwanzig und wusste anscheinend schon, wo's langging.«
»Woher weißt du das? Gibt es eine Strafakte?«
»Es gibt eine, aber die Eintragungen sind gelöscht, weil ihre Vergehen längst verjährt sind. Aber ich habe einige Anzeigen gefunden, die gegen sie erstattet wurden. Zuerst von der Konkurrenz, das ist in dem Gewerbe wohl üblich, dann gab es Anzeigen von aufgebrachten Hausbewohnern, weil sie sich konsequent in bürgerlicher Umgebung niederließ. Heute inseriert sie nicht mehr. Wovon sie lebt, kann ich nicht feststellen. Beim Finanzamt gibt es sie nicht. Entweder hat sie genug zusammengestoßen und aufgehört, oder sie wird von drei, vier vermögenden Herren ausgehalten.«
»Und steht nebenbei in Verbindung mit bekannten Kriminellen«, sagte Bandisch.
»Was wirst du tun? Dir Wiehert und Otten vornehmen? Oder die Petzold?«
Bandisch schüttelte den Kopf. Aus der Petzold würde er nur etwas herausbekommen, wenn er sie mit hieb- und stichfesten Beweisen konfrontierte. Die wiederum konnte er nur bekommen, wenn er es schaffte, Wiehert und Otten festzunageln und zum Reden zu bringen.
Bei dem Mord an Jan Geisdorf mochte es sich um einen Betriebsunfall handeln, überlegte Bandisch. Aber wenn Otten und Wiehert den Jungen getötet hatten, hatten sie es getan, weil Wilhelm Vohsen sie — direkt oder indirekt — angestiftet hatte, Rauschgift in der Wohnung zu verstecken.
Bandisch dachte daran, dass er verpflichtet wäre, Reinartz rückhaltlos über alles zu informieren, was Beate Vohsen ihm anvertraut hatte. Aber würde Reinartz aufgrund der vagen Beschuldigungen gegen Wilhelm Vohsen ermitteln? Und würde Vohsen nicht aufgrund seiner besonderen Beziehungen zu früh gewarnt werden und Gegenmaßnahmen ergreifen? Gegenmaßnahmen, denen Joachim Ehlers dann endgültig zum Opfer fallen musste.
Immerhin hatte Reinartz ihm freie Hand gegeben, Wiehert zum Zweck einer Gegenüberstellung vorführen zu lassen.
»Besorg mir ein paar neuere Fotos von Otten und Wiehert«, sagte er entschlossen zu Fischer. »Ich hole sie nachher ab.«
Denn bevor er etwas gegen diese Männer unternahm, musste er Beate Vohsen aus der Gefahrenzone schaffen. Und ihren Freund Joachim Ehlers, den sie Josch nannte.
»Da drinnen haben Sie die standhafte Frau gespielt«, sagte Bandisch, als er Beate aus Reinartz' Büro holte. »Aber wenn Sie bei mir weiter Ihre Mätzchen machen wollen, bitte, dann können Sie gehen.« Bandisch drückte auf den Rufknopf für den Lift. Er sah Beate in die Augen. »Dann läuft die Fahndung nach Ihrem Freund erst richtig an. Und Sie beide können Wetten abschließen, wer ihn eher findet — wir oder die bezahlten Killer, an die Sie glauben.«
Der Lift hielt, und Bandisch betrat hinter Beate die Kabine.
»Was soll ich tun?«, fragte sie.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, die wenigstens den Anschein hätte, vernünftig zu sein«, sagte er. »Sie müssen mir sagen, wo Ihr Freund sich aufhält.«
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss. In der Halle blieben sie stehen. Beate starrte ihn stumm an.
»Ich werde ihn weder festnehmen noch vorführen, bevor ich Ihrer Aussage nachgegangen bin«, versprach Bandisch. »Ich will lieber nicht darüber nachdenken, gegen welche Vorschriften ich mit dieser Zusage verstoße, Fräulein Vohsen. Aber wenn an der wilden Geschichte, die Sie mir aufgetischt haben, etwas Wahres dran sein sollte, schwebt Ihr Freund in Lebensgefahr.«
»Kommen Sie mit«, sagte Beate nach einem letzten kurzen Zögern.
*
Der braune BMW 320 stand im obersten Parkdeck der City-Garage. Als Bandisch neben der rechten Tür erschien und nach dem Türgriff fasste, erschien das hagere Gesicht mit dem Ziegenbart über der Fensterkante. Die tiefliegenden Augen blickten Bandisch verstört an.
Josch hatte geschlafen, und er war noch nicht ganz wach.
Bandisch öffnete die Tür und lehnte sich gegen die Dachkante. Seine Jacke fiel dabei auf, und Josch starrte auf den Griff der Pistole, die an Bandischs Gürtel steckte. Bandisch schloss seine Jacke.
Josch sah an Bandisch vorbei auf Beate. »Hat er dich bequatscht, oder was?«, fragte er. Als Bandisch die Tür freigab, setzte er einen Fuß auf den Zementboden, und langsam stieg er aus. »Was kommt jetzt? Durchsuchen Sie mich nach Waffen?« Er spreizte die Hände vom Körper ab und stellte sich mit dem Rücken gegen die Flanke des BMW. »In Berlin mussten wir uns dazu immer auf den Boden legen.«
»Wir sind weder in Berlin noch im Kino«, sagte Bandisch verärgert. »Steigen Sie wieder ein. Hinten, los, machen Sie schon.«
Beate schob sich an Bandisch vorbei und klappte die Rücklehne nach vorn. »Ich vertraue ihm«, sagte sie zu Josch. »Tu du es auch!«
»Was ist, wenn ich gehe?«, fragte Josch.
»Josch, bitte! Hier können wir nicht bleiben!«
»Lassen Sie ihn ruhig gehen«, sagte Bandisch. »Er kann sich ja ein nettes kleines Hotel suchen!«
Josch deutete mit dem Kopf auf Bandisch. »Wo kann er mich schon hinbringen außer in den Knast?«
»Sagen Sie es ihm«, sagte Bandisch.
»Er bringt uns in seine Wohnung! Weißt du, was er damit riskiert? Jetzt sei kein Idiot und steig ein!«