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Jochen Teske hatte gerade den Mund voll, als seine Mutter noch einmal mit der Pfanne kam und ihm den Rest Bratkartoffeln aufgeben wollte.
»Danke, Mutter, ich kann nicht mehr!«, sagte er undeutlich. »Wirklich nicht!«
Wenn er vor der Spätschicht zu viel aß, wurde er zu früh müde. Er schluckte und sah auf die Uhr.
»Gropp holt mich gleich ab«, sagte er.
Seine Mutter stellte die Pfanne auf den Herd zurück und setzte sich zu ihm. Er schob die Uniformmütze zur Seite.
»Ich habe dir Mettwurst aufs Brot getan«, sagte sie. »Oder möchtest du lieber etwas anderes?«
»Nein, nein, Mettwurst mag ich gern«, versicherte er. »Mach dir nicht immer so viel Arbeit, Mutter!«
»Ach, Jochen, das tue ich doch gern!«
Sie brauchte jemanden, den sie bemuttern konnte. Unwillkürlich sah er auf das gerahmte Foto seiner Schwester neben der Tür. Darüber hing das Bild seines Vaters, der vor fünf Jahren an Krebs gestorben war mit 43. Maria ähnelte ihm sehr.
Seine Mutter bemerkte seinen Blick.
»Sie hat gestern angerufen«, berichtete sie.
Jochen sah auf seinen Teller. »So?«, sagte er nur.
»Ich soll dich grüßen. Sie ist mit Herrn Reimers weggefahren. An die Ostsee, glaube ich. Übers Wochenende.«
Jochen nickte. Er glaubte nicht mehr so recht an die Anrufe seiner Schwester, die eigenartigerweise immer dann kamen, wenn er nicht zu Hause war.
Seit eineinhalb Jahren studierte Maria Bibliothekswesen an der Fachhochschule in Hamburg. In den ersten Wochen war sie täglich morgens von Uhlenbeck nach Hamburg gefahren und abends zurückgekehrt. Mit dem Bus kostete sie diese Fahrt über drei Stunden täglich, ein Aufwand, der auf die Dauer nicht tragbar war. Doch dann hatte sie Glück. Sie konnte zu einer Kommilitonin ziehen, die ein großes Zimmer in Harburg hatte. Danach kam sie nur noch an den Wochenenden nach Haus.
Bis sie im Frühjahr Peter Reimers, einen Architekturstudenten, kennenlernte.
Sie erzählte von ihm, brachte ihn aber nicht mit nach Hause. Als ihre Besuche in Uhlenbeck bald immer seltener und kürzer wurden, war Jochen nach Hamburg gefahren, um den Kerl, auf den seine kleine Schwester so abgefahren war, zu beschnuppern.
Er war kaum überrascht gewesen, dass sie nicht mehr bei der Freundin in Hamburg wohnte, sondern bereits zu dem Mann gezogen war.
Jochen hatte sofort eine heftige Abneigung gegen den Stutzer mit der Ringerfigur gefasst.
Für die Mutter war es ein Schock gewesen. Ihre kleine Maria lebte mit einem Mann zusammen! Im ersten Zorn hatte sie der Tochter das elterliche Haus verboten, ihre harte Haltung jedoch bald schon bereut.
Jochen hatte versucht, den Bruch zu kitten, doch da war Maria stur geblieben. Wochenlang hatte sie nichts von sich hören lassen.
Doch im Sommer rief sie eines Tages an, um der Mutter zum Geburtstag zu gratulieren. Mutter war selig.
Maria kam zwar nicht nach Hause, doch sie rief in unregelmäßigen Abständen an. Jochen hatte nochmals versucht, sie in Hamburg zu besuchen, aber in Reimers' Wohnung war niemand gewesen.
Als Maria das nächste Mal anrief und er zu Hause war, hatte er sie hart gefragt, wie es um sie und Reimers stünde und was ihr Studium mache.
Es folgten wortreiche Erklärungen, die alles und nichts bedeuteten. Danach hatte er sie nicht mehr gesprochen, und er hatte zu zweifeln begonnen, dass sie überhaupt noch anrief. Er jedenfalls hatte nicht mehr mit ihr gesprochen.
Er stand auf, als Gropp klingelte, nahm seine Mütze und rückte die Pistolentasche zurecht. Seine Mutter umarmte ihn.
»Sei vorsichtig, mein Junge«, sagte sie leise.
Das sagte sie immer, wenn er zum Dienst ging.
»Sei vorsichtig.«
Jochen Teske mochte die Spätschicht. Er liebte es, den Streifenwagen durch die dunklen Straßen der kleinen Stadt zu lenken und den Tag verdämmern zu sehen. Der Verkehr versickerte spurlos, die Menschen verschwanden einfach, und der Funk blieb manchmal stundenlang still.
Jochen Teske hing dann seinen Gedanken nach. Gropp störte ihn selten dabei.
Polizeihauptmeister Hermann Gropp, Jochens Streifenführer, war über vierzig und wortkarg wie die Heide braun in der Umgebung. Jochen Teske machte es nichts aus, wenn Gropp schwieg. Ihm genügte es, diesen verlässlichen Mann neben sich zu wissen, der nur aus seiner scheinbaren Lethargie erwachte, wenn sein Funkname gerufen wurde oder er einen Anlass fand, sich über Städter oder neumodische Entwicklungen auszulassen.
Von solchen Entwicklungen blieb selbst das Städtchen Uhlenbeck, Kreis Sennefeld, nicht verschont.
Immer mehr Leute aus Hamburg, denen die Grundstückspreise in der Stadt zu hoch waren und die vor der 70 Kilometer langen Fahrt zu ihren Büros nicht zurückschreckten, bauten am Rand von Uhlenbeck ihre Häuser. Argwöhnisch beobachtete Gropp ihre Söhne und Töchter, die, wenn sie alt genug waren, entweder eigene Fahrzeuge besaßen oder die Autos ihrer Eltern benutzten und sich kaum in Uhlenbeck sehen ließen.
Mit ungleich größerem Argwohn beobachtete Gropp jedoch ein Anwesen, das zwei Kilometer außerhalb von Uhlenbeck an der Bundesstraße lag. Vor gut einem Jahr war der Bauer Wilhelm Strackenbock gestorben. Seine Erben hatten das ganze Land mit dem schönen Fachwerkhof verkauft. Niemand hatte damals mitbekommen, an wen, und Gropp hatte Schlimmes prophezeit und recht behalten.
Bald darauf hatte ein Sauna-Club seine Pforten in dem großen ehrwürdigen Haus mit dem schönen alten Garten eröffnet. Seitdem konnte man allnächtlich große Wagen mit Kennzeichen aus Hamburg und Winsen, aus Lüneburg und sogar aus Lübeck und Itzehoe sehen.
»Die Puffs der Reichen liegen heutzutage auf dem Land«, war Gropps Kommentar gewesen.
In seinen Augen steckten die Bonzen im Kreistag mit den Betreibern des dubiosen Clubs unter einer Decke.
Überhaupt schien das Übel nicht nur aus der Großstadt zu kommen. Es nistete bereits in der Kreisstadt. Der Besitzer der einzigen Diskothek in Sennefeld hatte kürzlich seine Absicht bekundet, ein ähnliches Unternehmen auch in Uhlenbeck aufzuziehen, sowie er ein geeignetes Lokal fände.
Seitdem sah Gropp noch schlimmere Zeiten auf sein Städtchen zukommen. Misstrauisch beobachtete er jedes Haus, das ein Geschäft oder Lokal von geeigneter Größe beherbergte. Viele gab es davon nicht in Uhlenbeck. Jeder wusste, dass die Hendricks mit dem Gedanken spielten, das Kino aufzugeben, und jeder wusste, dass sich verschiedene Supermarktketten für das große Haus am Markt interessierten. Aber Gropp fürchtete, dass der Disco-Mann aus der Kreisstadt Sennefeld das Rennen machen würde. Dann wäre es endgültig vorbei mit der Ruhe in Uhlenbeck.
Jochen Teske bog am Rathaus ab. Der Marktplatz lag ruhig da. Die Lichter über dem Kino waren bereits erloschen, und auch die Kutscher-Laternen neben dem Eingang zum Marktkrug brannten nicht mehr.
Jochen Teske bemerkte einen hellen Schimmer auf der anderen Seite des Platzes, wo die dichten Kronen der alten Platanen tiefe Schatten warfen. Dort, bei den Bänken rings um den steinernen Brunnen, traf sich die Jugend von Uhlenbeck.
Die meisten besaßen Mofas, mit denen sie durch die engen Straßen knatterten, bevor sie sich am Brunnen einfanden. Manchmal kamen auch die Älteren hinzu, die schon Mokicks oder gar Leichtkrafträder fuhren und damit den 15 und 16jährigen mächtig imponierten.
»Fahren Sie mal rüber«, sagte Gropp plötzlich.
Jochen nahm den Fuß vom Gas. Er bemühte sich um einen beiläufigen Ton, als er sagte: »Ach, lassen wir sie doch!« Aber er wusste, dass er nur Gropps Eigensinn weckte, wenn er versuchte, ihn davon abzubringen, die Mofa-Fahrer zu kontrollieren. Das war sein Beitrag zur Erziehung der Jugend, die seiner Ansicht nach in Schule und Elternhaus zu kurz kam.
Gropps verwittertes Gesicht wurde hart. »Fahren Sie über die Kirchstraße, dann sitzen sie in der Falle!«
»Als ich noch zur Schule ging und mein erstes Mofa bekam, habe ich abends auch dort gestanden«, sagte Jochen Teske.
»Aber Sie haben nicht gehascht!«, stellte Gropp fest.
Jochen blinkte und bog in die Kirchstraße ein. Er gab kurz Gas, um sich vor einer Antwort zu drücken.
Er hatte wohl gehascht.
Marion und Elke Schneider kannten einen Jungen aus der Kreisstadt, der in Hamburg zur Berufsschule ging. Der Junge bemühte sich damals sehr um Marion. Um ihr zu imponieren, brachte er den Schwestern hin und wieder Joints mit. Berliner Tüten.
Jochen hatte an den unförmigen Joints gezogen wie die Anderen. Ihm war schlecht geworden wie den Anderen, und er hatte herum gekichert und gealbert wie die Anderen. Aber er hatte keinen Gefallen daran gefunden, den strohig schmeckenden Rauch einzusaugen, der den Mund trocken machte.
Weil Marion die Gefühle des Jungen mit den Joints nicht erwiderte, hatte der seine Bemühungen um sie bald eingestellt, und der Nachschub war ausgeblieben. Soweit Jochen wusste, hatte keiner von denen, die sich damals, vor sieben oder acht Jahren, unter den Platanen am Marktplatz einfanden, irgendwelche Anstrengungen unternommen, andere Quellen aufzureißen. Die Sache war ganz einfach eingeschlafen.
Marion hatte bald danach einen Bundeswehrsoldaten aus Kassel geheiratet.
Jochen hatte sich einige Zeit erfolglos um Elke bemüht. Er hatte sich bei der Polizei beworben, und während seiner Ausbildung auf der Landespolizeischule hatte er sie aus den Augen verloren.
Jetzt sah er sie hin und wieder, wenn er in die Kreisstadt kam. Sie war mit einem Angestellten des Bauamtes verheiratet. Die beiden hatten schon ein Haus und zwei kleine Kinder, und Elke war mit ihren 24 Jahren dick und behäbig geworden und ähnelte ihrer eigenen Mutter auf verblüffende Weise.
»Irgendwann«, sagte Gropp, während der Streifenwagen durch die dunkle Kirchstraße glitt, »erwischen wir die mal mit Haschisch!«
Jochen zweifelte nicht daran, dass es auch in Uhlenbeck Rauschgift gab. Es war ein offenes Geheimnis, dass man im Schulzentrum in der Kreisstadt Hasch und härtere Drogen bekommen konnte.
In Uhlenbeck selbst war noch kein Fall von Betäubungsmittel- Missbrauch bekanntgeworden. Ein Lehrer an der Hauptschule in Uhlenbeck wollte einmal zwei Mädchen mit Haschischzigaretten beobachtet haben, doch als er sie stellen wollte, waren sie auf die Mädchentoilette geflüchtet, und bevor der Lehrer eine Kollegin hinter ihnen herschicken konnte, hatten sie vermutlich alle Beweise vernichtet.
Jochen blendete die Scheinwerfer auf, als er an der Kirche vorbei war und auf den Platz am Brunnen zuhielt. Das Licht fing sich in den Chromteilen der Motorräder und Mofas, die unter den Bäumen standen.
Jochen blendete erst ab, als er den Passat auf den breiten Gehweg setzte. Er stellte den Motor ab und griff zur Batterielampe, dann stieg er aus.
Gropp stand schon neben dem Wagen. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er beinahe gemütlich zu den Gestalten, die sich langsam umwandten und die Polizeibeamten blinzelnd ansahen.
Jochen zählte zwölf Leute, darunter vier Mädchen. Einige kannte er mit Namen, andere vom Ansehen. Die meisten waren zwischen 15 und 17. Nur zwei ältere Burschen, die ihre Vollsichthelme unter den Armen trugen, hatte er noch nie gesehen.
Der eine war untersetzt und dunkelhaarig. Er trug eine schwarze Lederjacke und hohe Motorradstiefel. Sein Alter schätzte Jochen auf 23 oder 24 Jahre.
Der andere war etwas jünger und größer und sehr mager. Er hatte helles, ungepflegtes Haar und ein blasses, eingefallenes Gesicht. Die engen, verwaschenen Jeans lösten sich an den Nähten auf.
Der Blonde streifte Jochen mit einem verstohlenen Blick, dann sah er den Untersetzten an, der seinen Blick nicht erwiderte. Noch einmal sah der Blonde zu Jochen hinüber, dann senkte er die Augen.
Gropp stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte die jungen Leute, die schweigend, zurück starrten.
»Na, Leute, alles in Ordnung?«, erkundigte er sich dann jovial.
»Klar, Herr Gropp«, antwortete Sabine Feldmann. Sie war ein nettes Mädchen mit einer hübschen Nase und kecken Augen. Ganz schön frech, dachte Jochen.
»Was soll das hier werden?«, nörgelte Klaus Jansen. »Ein nächtliches Verhör vielleicht? Das sind Polizeistaat-Methoden!«
Jochen Teske machte einen schnellen Schritt auf Klaus zu. »Na, na, sag so was lieber nicht!« warnte er.
Klaus Jansen war als Hitzkopf bekannt. Sein Vater besaß das einzige Eisenwarengeschäft im Ort. Der Laden lief nicht mehr, seit vor ein paar Jahren der große Baumarkt in Sennefeld auf gemacht hatte. Aber der alte Jansen hielt verbissen an seinem kleinen Laden mit dem begrenzten Sortiment fest.
Klaus war jetzt 17 Jahre alt. Jochen wusste, dass der alte Jansen mit dem Jungen längst nicht mehr fertig wurde.
Klaus trieb sich herum, doch immerhin besuchte er noch das Gymnasium.
Gropp wandte sich an Klaus. »Wir beide unterhalten uns gleich ausführlicher«, versprach er. »Du kannst schon mal deine Papiere herausholen und deinen Feuerstuhl ans Licht fahren.« Gropp grinste, als er die Anderen ansprach. »Jeder, der mit einem Motorfahrzeug hier ist und heute noch zu fahren gedenkt, kommt jetzt mit seinen Papieren zu mir.«
Dem Untersetzten gehörte ein Motorrad mit Hamburger Kennzeichen, das am Straßenrand aufgebockt stand. Gropp prüfte die Fahrerlaubnis und die Zulassung, dann konnte der junge Mann gehen.
Der Blonde folgte ihm und quetschte sich hinter ihm auf die Sitzbank. Die beiden setzten ihre Helme auf, und Augenblicke später röhrte die Maschine davon.
Jochen Teske ging um den Brunnen herum. Er leuchtete unter die Bänke und in die Büsche hinter den Bäumen und kehrte dann zu Gropp zurück, der von den jungen Leuten umringt wurde.
»Ihr könnt verschwinden«, sagte Gropp. »Bis auf Herrn Jansen!«
Die Jungen und Mädchen blieben.
»Lass dich nicht anmachen, Klaus!«, sagte ein Mädchen, das Jochen nur vom Sehen her kannte.
Bedächtig prüfte Gropp die Papiere des Jungen, bevor er sich dessen Mokick zu wandte. Er ließ sich die Beleuchtung und die Fahrtrichtungsanzeiger vorführen, kontrollierte das Bremslicht und die Versicherungsplakette. Sehr genau betrachtete er den Ansaugstutzen und das hintere Ritzel.
»Die Maschine ist nicht frisiert!« , sagte Klaus Jansen.
Gropp richtete sich auf.
»Sie haben die Reifen vergessen!«, rief das vorlaute Mädchen.
Gropp gab Klaus die Papiere zurück. »Macht keinen Lärm mehr, versteht ihr?«, brummte er. Er stapfte zum Streifenwagen zurück.
Die Anderen verliefen sich rasch. Jochen ging neben Klaus Jansen her, der sein Mokick zur Straße schob.
»Warum macht der Gropp eigentlich immer Jagd auf uns Zweiradfahrer?«, erkundigte er sich bitter. »Traut er sich an die anderen Typen nicht ran?«
»Welche Typen?«, fragte Jochen Teske.
Klaus Jansen hob die Schultern.
»Wer waren die Typen?«, fragte Jochen dann.
Klaus sah ihn an. »Welche Typen?«
»Komm mir nicht auf die Tour«, sagte Jochen.
»Das sind eben Typen. Den mit dem Motorrad habe ich noch nie gesehen.«
»Und den Anderen?«
»Der ist aus Sennefeld, glaube ich. Aber ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn ein paarmal in der Eisdiele am Bahnhof gesehen.« Klaus blieb stehen und löste seinen Helm vom Gepäckträger.
Jochen schnupperte. »Deine Haare riechen nach Hasch«, sagte er ruhig.
Klaus richtete sich auf. Schnell stülpte er den Helm über seinen Kopf.
»Wo habt ihr das Zeug her?«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden«, brummte Klaus.
Jochen stellte seinen Fuß vor das Hinterrad des Mokicks. Mit der rechten Hand hielt er den Lenkradschlüssel fest.
»Wenn ich das Gebüsch durchsuche und 'nen Stengel von 'nem Joint finde, dann seht ihr alle ganz alt aus. — Hauch mich mal an!«
»Muss ich das?«
»Nein. Aber bei Verdacht auf Betäubungsmittel-Missbrauch kann ich dich mitnehmen und dich auf deine Fahrtüchtigkeit hin untersuchen lassen. Und dich dann der Kripo überstellen. Also, wie ist es jetzt?«
Klaus Jansen atmete mit weit geöffnetem Mund aus. Jochen schnupperte.
»Ich habe nur einen Zug genommen«, sagte Klaus mürrisch. »Ich habe ihn nicht mal eingeatmet.«
»Du hast nur so gezogen, um kein Spielverderber zu sein? Na schön, wer hat das Zeug mitgebracht?«
»Der aus Sennefeld.«
»Was habt ihr dafür bezahlt?«
»Nichts.«
»Nichts? Hältst du mich für bescheuert?«
»Ehrlich . . .«
»Was wollte der von euch?«
»Der kam nicht richtig zur Sache. Ich glaube, dieser Hamburger Johnny wollte was, aber er war nicht zufrieden.«
»Die suchen vielleicht Dealer?«
»Kann sein.«
»Wie heißt der aus Sennefeld?«
»Der Johnny sagte Harry zu ihm.«
Jochen Teske sah den Jungen lange an. Die anderen waren inzwischen abgezogen. Gropp wartete im Streifenwagen. Klaus Jansen trat den Starter seiner Maschine durch. Der Motor knatterte laut.
»Also Harry, und in Sennefeld treibt er sich in der Eisdiele am Bahnhof rum«, stellte Jochen fest.
»Ich hab' ihn auch schon mal in der Schule gesehen«, sagte Klaus. »Am Gymnasium?«
»Nein. Hier an der Hauptschule.«
Klaus schnallte seinen Helmriemen fest, dann gab er Gas. Jochen blickte dem davon knatternden Mokick nach, bis das rote Rücklicht hinter dem Rathaus verschwand.
Gropp sah Jochen über das Dach seines Streifenwagens hinweg an.
»Der Junge hat sich wohl bei Ihnen ausgeweint, wie?«, erkundigte er sich.
Jochen schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nach den beiden Burschen mit dem Motorrad gefragt«, erklärte er. »Er meint, diese Kerle hätten versucht, hier Dealer anzuwerben.«
Gropp schnaubte. »Der macht sich doch nur wichtig!«
»Möglich«, gab Jochen zu.
»Von mir aus schreiben Sie eine Mitteilung an die Kripo«, sagte Gropp.
Jochen verbarg ein Lächeln, indem er sich bückte und die Tüte mit seinen Butterbroten aus dem Wagen angelte.
Die klirrende Lautsprecherstimme unterbrach die nächtliche Stille.
»Heide 42 für Heide 4 kommen!«
Heide 4 war der Funkname der Polizeiwache in Uhlenbeck. Heide 41 und 42 waren die beiden Funkwagen, die in Uhlenbeck stationiert waren.
Und Heide 42 war das Funkzeichen für den Polizeihauptmeister Hermann Gropp und den Polizeimeister Jochen Teske.
Gropp nahm den Hörer aus der Halterung und meldete sich.
»Heide 42.«
»Fahren Sie zum Sauna-Club Heidehof«, sagte die Stimme. »Eine Beschwerde wegen Geräuschbelästigung.«
»Wer ist der Beschwerdeführer?«
»Der Anrufer hat seinen Namen nicht genannt. Eine Denunziation ist nicht auszuschließen. Gehen Sie entsprechend vor.«
»Ganz diskret«, versicherte Gropp. Er klemmte den Hörer wieder fest. »Denen will einer eins auswischen«, sagte er zu Jochen, der schwungvoll wendete und das Gas durchtrat.
»Da muss schon eine Bombe detonieren, wenn sich ein Nachbar durch Geräusche belästigt fühlen soll.«
Gropp kicherte. »Auf diese Weise können wir uns den Laden mal von innen ansehen«, meinte er, ungewohnt gesprächig. »Was meinen Sie — ob die Mädchen da nackt rumlaufen?«
»Oben ohne«, vermutete Jochen Teske. »So sitzen die an der Bar.«
»Waren Sie schon mal in so einem . . .«
»Club?« Jochen schüttelte den Kopf. »Dafür ist mir das Geld zu schade«, sagte er.
Gropp seufzte. »Na, wie die Mädchen heutzutage sind, haben Sie das ja auch nicht nötig.« Er brummelte vor sich hin. »Ich war mit 21 verlobt und mit 24 verheiratet. Festgebunden.« Er seufzte erneut. »Aber Sie, Sie haben einen Schlag weg bei den Mädchen!«
»Quatsch!«, sagte Jochen.
»Wissen Sie, dass man Sie in der Wache den Casanova von Uhlenbeck nennt?«
Jochen begrüßte die Dunkelheit. So war nicht zu erkennen, dass seine Ohren rot anliefen.
»Alles Quatsch«, wiederholte er.
»Beim Sommerfest habe ich Sie mit so einer kleinen Rothaarigen gesehen. Davor war es eine Blonde, und ich glaube . . .«
Gropp verstummte, als das Ortsausgangsschild vorbeiflog und Jochen das Gas durchtrat.
Die Scheinwerfer schnitten einen schmalen Tunnel aus blendendem Licht in die Dunkelheit. Jochen zog den Wagen scharf durch eine Linkskurve. Die Reifen wimmerten.
Gropp klammerte sich an den Haltegriffen fest und kontrollierte den Sitz des Sicherheitsgurts. Jochen hatte an zwei Spezialfahrkursen der Landespolizeischule teilgenommen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit stellte er sein dort erworbenes Können unter Beweis.
»Sie werden vorbeifahren«, prophezeite Gropp.
Weit voraus erschien ein Lichtpunkt zwischen den Alleebäumen. Das Licht kam rasch näher. Es teilte sich, nahm scharfe Umrisse an. Jochen schaltete das blaue Dachlicht ein, um den entgegenkommenden Fahrer zur Vorsicht zu veranlassen. Der andere blendete rechtzeitig ab und zischte vorbei.
»Wie hieß der Mann mit dem Motorrad?«, fragte Jochen plötzlich.
»Sie glauben doch nicht, was der junge Jansen da verzapft!«
»Ich weiß es nicht. Wie hieß er?«
»Klein, Hans Jürgen, geboren am 23.4.1961 in Darmstadt. Soll ich Ihnen auch das Kennzeichen nennen?«
»Das habe ich mir selbst gemerkt. Klaus Jansen nannte ihn den Hamburger Johnny.«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf für andere«, sagte Gropp. »Und nehmen Sie endlich das Gas weg!«
Zwei helle Lampen kennzeichneten die Einfahrt zum ehemaligen Strackenbock-Hof, in dem jetzt der weit über die Grenzen des Kreises Sennefeld bekannte Sauna-Club Heidehof untergebracht war.
Jochen nahm den Fuß vom Gas. Ohne zu bremsen, fegte er zwischen den Torpfosten her.
Der Vorplatz war mit feinem Kies bestreut. Der Streifenwagen stellte sich sofort quer und schlitterte auf die großen Limousinen zu, die in Reih und Glied vor dem ehemaligen Bauernhaus standen. Gropp sagte nichts, er fluchte nicht einmal. Er stemmte nur seine Füße gegen die Bodenplatte und stützte sich mit den Händen am Armaturenbrettpolster ab.
Jochen schaltete herunter und steuerte behutsam gegen, wobei er gleichzeitig etwas Gas gab. Kies spritzte gegen die Radkästen. Die aufgeblendeten Scheinwerfer huschten über die geparkten Limousinen, ihre Lichtfinger strichen dann an der hohen Hecke entlang, die den Obstgarten gegen die Felder abgrenzte, und stießen ins Leere.
Dort erfassten sie eine Bewegung. Eine Bewegung, die erstarrte, als das gebündelte Licht sie für einen Moment festhielt. Die Scheinwerfer wanderten weiter, bis der Streifenwagen endlich, nur wenige Handbreit vor den geparkten Limousinen, zum Stehen kam.
Gropp stieß den angehaltenen Atem aus.
Jochen legte den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen ein Stück zurückrollen, wobei er das Lenkrad nach links einschlug. Die Scheinwerfer beschrieben einen Bogen.
Niedrige Sträucher und ein dürrer Baum warfen lange, dünne Schatten über wucherndes Heidekraut.
»Wir sind da«, bemerkte Gropp.
»Da hinten war etwas«, sagte Jochen. »Haben Sie nichts gesehen?«
»Ein Gespenst«, vermutete Gropp. »Oder der Sensenmann. Der dachte bestimmt, warte mal auf die beiden Irren in dem Streifenwagen . . .«
Jochen schlug auf den Verschluss des Sicherheitsgurts, dann stieß er die Tür auf seiner Seite auf.
Sie hörten es beide. Der kühle Nachtwind wehte einen Schrei herbei. Hoch und schrill stand er einen Augenblick wie festgefroren in der Luft, ehe er jäh abriss.
»O, verflucht!«, sagte Gropp, der nicht so schnell aus dem Wagen kam. »Laufen Sie schon!«
Jochen nahm die Batterielampe. Er sprang aus dem Wagen und rannte in die Dunkelheit.
Er flitzte an der Hecke entlang, ohne die Handlampe anzuknipsen. Die Lichter am Haus blieben zurück.
Jochens Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Den Durchlass in der Hecke ahnte er, bevor er ihn wahr nahm.
Er sprang hindurch.
Sofort spürte er, dass da etwas war. Er warf sich zur Seite.
Mitten in der Bewegung erwischte ihn ein heftiger Stoß an der rechten Schulter, der ihn in die Hecke schleuderte. Zweige kratzten über seinen Hals, und er verlor die Uniformmütze. Er sah einen Schatten, der an ihm vorbei sprang, und er wollte hinterher, als er Schritte und schnaufende Atemzüge hörte.
Da war noch jemand.
Jochen sprang vor die Lücke in der Hecke.
Er krachte mit einem schweren Körper zusammen. Der Anprall presste dem Anderen die Luft aus den Lungen. Jochen spürte einen Luftzug. Eine Faust, die an seinem Ohr vorbei zischte.
»Polizei!«, sagte er laut.
Heißer Atem strich über sein Gesicht, dann traf ihn eine Faust im Magen. Jochen schlug sofort zurück.
Er spürte den Anprall bis ins Schultergelenk. Obwohl er noch mit den Folgen des Schlags in seinen Magen zu kämpfen hatte, hörte er, wie der schwere Körper vor ihm zu Boden fiel. Er knipste die Lampe an.
Das Licht fiel auf einen massigen Mann, der auf Händen und Knien hockte und benommen den breiten Schädel schüttelte.
Jochen trat einen Schritt zurück. Er wollte nach Gropp rufen, als er aus den Augenwinkeln etwas Helles wahrnahm.
Er fuhr herum. Das Licht der Lampe in seiner Hand folgte der Bewegung.
Es erfasste eine Frau, die mit unsicheren Schritten auf ihn zu schwankte. Blut lief aus ihrer Nase. Mit einer Hand hielt sie eine rotkarierte Decke, die hinter ihr herschleifte.
Die Frau war splitternackt.
Der Mann am Boden hob den Kopf und schob einen Fuß unter seinen schweren Körper. Jochen richtete den Strahl der Lampe auf das fleischige Gesicht mit den kleinen Augen. Er bemerkte den Stiernacken und die breiten Schultern, und er sah die Schwellung am Kinn, wo er den Kerl getroffen hatte.
Ein zweites Mal würde er diesen Koloss wahrscheinlich nicht zu Boden schicken können. Deshalb löste er die Handfessel von seinem Gürtel, und mit einer blitzschnellen Bewegung schlug er dem Mann die Manschetten um die Handgelenke.
»Rühren Sie sich hier nicht weg!«, befahl er barsch.
Er wandte sich erneut der Frau zu. Im Unterbewusstsein hörte er, wie vorn auf dem Parkplatz ein Motor angelassen wurde. Gleich darauf jagte ein Wagen mit aufheulender Maschine davon.
Die Frau war nur noch wenige Schritte von Jochen Teske entfernt. Ihre Augen waren groß und starr auf die Lampe in seiner Hand gerichtet. Die Warzen ihrer großen festen Brüste hatten sich zu kleinen, harten Punkten zusammengezogen. Er bemerkte einige rote Steller an ihren Rippen und Schultern, die vermutlich von genau dosierten Schlägen herrührten. Von Schlägen, die weh tun, aber keine lange sichtbaren Spuren hinterlassen sollten. Den Schlag auf die Nase hatte sie wohl einem Ausrutscher zu verdanken.
Plötzlich wurden ihre Augen leer, und dann gaben ihre Knie nach. Jochen sprang vor und fing sie auf.
Schwer hing sie in seinen Armen. Eine ihrer großen Brüste quetschte sich an seinem Oberarm breit. Ihr Kopf fiel gegen seine Schulter. Er bemerkte den hämischen Blick des Stiernackigen.
»Gehen Sie vor!«, befahl er laut. »Los, gehen Sie schon!«
Der Mann drehte sich um und ging langsam vor.
Jochen versuchte, die Frau fester zu packen. Als er den ersten Schritt machte, trat er auf die Decke, die sie immer noch festhielt. Beinahe wäre er gestürzt. Er verlagerte das Gewicht der Bewusstlosen, zerrte die Decke hoch und legte sie der Bewusstlosen notdürftig über die nackten Schultern. Dann hob er die Frau kurzerhand auf.
Der Stiernackige war bereits hinter der Hecke verschwunden. Jochen folgte ihm rasch und hob die Lampe. Er atmete auf, als der Lichtkegel auf den breiten Rücken des Burschen fiel.
Der Mann stutzte plötzlich und blieb stehen. Dann wandte er sich langsam um.
Jochen sah an ihm vorbei. Und er hatte das jähe Empfinden, sein Inneres erstarre zu Eis, während sein Herz hart zu hämmern begann und das Blut gegen seine Augen drückte.
Vorn, an der Ecke des behäbigen Bauernhauses, unter einer kleinen Lampe deutlich zu erkennen, saß Hermann Gropp am Boden. Seine Beine waren gespreizt. Er hatte den Kopf nach hinten gelegt. Die Augen waren geschlossen, der Mund weit aufgerissen. Die Mütze lag neben seinem Bein. Eine seiner großen Hände presste er auf den Magen. Die andere hing kraftlos zwischen seinen Beinen.
Jochen Teske stieß den angehaltenen Atem aus. Er ließ die Frau zu Boden gleiten, stieg über sie hinweg, schob den Stiernackigen zur Seite und kniete vor seinem Kollegen.
»Gropp!«, schrie er. »Gropp! Sagen Sie doch was!«
Er schlug leicht gegen Gropps Wangen, dann entsann er sich dessen, was er für solche Situationen eingepaukt bekommen hatte, und er zog eins von Gropps Augenlidern in die Höhe.
Als das Licht die Netzhaut erreichte, zog sich die Pupille zusammen. Gropp wackelte mit dem Kopf, dann riss er auch das andere Auge auf.
»So ein verdammter Mistkerl!«, Er krümmte sich, wobei er das Gesicht verzog. »Ich dachte, Sie wären es, der da kam . . .« Gropp stöhnte erbärmlich. »Der hatte einen Schlag wie ein Pferd . . .«
Jochen sprang auf.
»Teske . . .«
»Ich rufe die Einsatzleitstelle.«
»Warten Sie! Ich komme schon wieder auf die Beine!«
»Davon bin ich überzeugt. Wir haben aber eine Patientin. Und einen Kunden.«
Gropp wandte den Kopf. Er starrte zuerst den Stiernackigen an, der breitbeinig vor ihm stand, die gefesselten Hände vor dem Bauch verschränkt. Dann fiel sein Blick auf das Bündel am Boden, und als er die beiden langen nackten Beine sah, die unter der Decke hervorschauten, wurden seine Augen groß.
»Ich wäre so gern dabei, wenn wir den Laden aufrollen!«, sagte er inbrünstig. »Gehen Sie, Teske. Ich passe solange auf den Zement-Loddel hier auf.«