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Polizeioberkommissar Katterbach, der Dienstgruppenleiter der Polizeiwache Uhlenbeck, verdrehte die Augen, als Jochen Teske und Hermann Gropp den Wachraum betraten. Der Wechsel von der Nacht auf die Mittagsschicht hatte ihnen zwei Freischichten beschert. Beide fühlten sich ausgeruht und noch fern von den Problemen des Dienstalltags.

»Die Helden vom Heidepuff!«, rief Katterbach. »Die Presse interessiert sich schon für euch. Wem werdet ihr die Story verkaufen?« Katterbach beugte sich über den Tresen. »Komm, Gropp, mir wirst du es doch verraten!«

»Du bist 'n Döskopp«, sagte Gropp gemächlich.

Katterbach lachte. Er war etwas älter als Gropp und etwas schwerer und machte einen behäbigen Eindruck. Er zerrte einen Packen Papiere unter dem Tresen hervor und knallte ihn auf die Platte. Er nahm das oberste Formblatt und wischte es zur Seite.

»Die Einlieferungsanzeige für diesen Schläger könnt ihr euch in die Haare schmieren, Freunde. Euer Mann war noch nicht ganz in Sennefeld, da hatte dessen Anwalt schon alle Drähte am Singen.«

»Tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten«, sagte Jochen Teske.

»Das können Sie in die Strafanzeige schreiben. Aber ob es Eindruck macht, steht dahin. Er hat nicht gewusst, dass Sie Polizeibeamter waren. Oder war es so hell, dass er Sie erkennen musste?«

»Nein . . .«

»Haben Sie ihn etwa angerufen?«

»Da war es schon zu spät«, räumte Jochen ein.

»Vergessen Sie es also, sonst bekommen Sie noch eins drauf! Sie müssen ihn ganz schön erwischt haben, Teske.«

»Soll er mich doch anzeigen!«

»Reden Sie keinen Unsinn, Teske. Und kommen wir zur Sache. Ihr Festgenommener, er heißt Dieter Wiek, war ganz zufällig im Heidehof. Ist mit einem flüchtigen Bekannten aus Hamburg mitgefahren . . .«

»Dessen Namen er natürlich nicht kennt«, stellte Gropp fest.

»Natürlich nicht«, bestätigte Katterbach. »Der flüchtige Bekannte wollte seine Verlobte besuchen. Verlobte!«

Katterbachs stämmiger Hals lief rot an. Er fischte ein anderes Formular aus dem Stapel.

»Kreutzer, Marion, 22 Jahre alt, als Prostituierte in Hamburg registriert. Seit, warten Sie, seit sechs Monaten ist sie nicht mehr zur amtsärztlichen Untersuchung erschienen. Wahrscheinlich ist sie ihrem Zuhälter davongelaufen und wollte im Heidehof unter schlüpfen. Als Hostess! Wusstet ihr das? Die Mädchen dort nennen sich Hostessen! Wir schicken den Kollegen in Hamburg ein paar nette Zeilen, und damit hat sich's.«

Katterbach nahm den ganzen Packen und beförderte ihn wieder unter den Tresen.

»Habt ihr schon mal was vom Hornberger Schießen gehört? Dann wisst ihr ja Bescheid. Der Lümmel, der dir, Hermann, das Ding verpasst hat, wird nicht zu ermitteln sein. Und Marion Kreutzer, die Sie, Teske, so schneidig aus den Klauen der Hamburger Zuhälter gerettet haben, will sich nicht helfen lassen. Sie hat das Krankenhaus bereits verlassen. Wahrscheinlich steht sie in ein paar Tagen wieder in einem Eros-Center in Hamburg an der Mauer. Und der Sauna-Club Heidehof steht blütenweiß da wie zuyor. Man kann diesen sauberen Leuten sogar zugute halten, dass sie die Polizei angerufen haben, wenn auch anonym.«

»Das wär's dann ja wohl«, brummte Gropp.

Katterbach schüttelte bedauernd den Kopf. Mit dem Bleistift deutete er auf eine geschlossene Tür.

»Der Chef will euch noch sprechen. Er ist nicht sauer, Freunde. Er ist stinksauer. Ich empfehle euch, entsprechende Mienen aufzusetzen.«

»Der kann mich mal«, sagte Gropp.

Er drehte sich um, klopfte kurz an die Tür des Wachleiters und stieß sie sofort auf. Jochen Teske betrat hinter Gropp das Büro seines Vorgesetzten.

Hauptkommissar Stöcker war ein farbloser Mann mit blassen Augen. Er sprach stets mit leiser Stimme, was seine Untergebenen zu angestrengtem Zuhören veranlasste.

Stöcker stand nicht auf, er begrüßte weder Gropp noch Teske, und er bot ihnen keinen Platz an. Mit einem Finger klopfte er auf die Schreibtischplatte.

»Sie haben einen Fehler gemacht, Herr Teske. Sie haben einen Kollegen allein zurückgelassen. Sie haben sicher von dem Polizistenmord in Hamburg gehört . . .«

Jochen machte ein starres Gesicht. Er hatte noch geschlafen, als seine Mutter gestern morgen aufgelöst mit der Zeitung in sein Zimmer gekommen war. Vergeblich hatte er ihr klarzumachen versucht, dass Polizistenmorde selbst in einer Stadt wie Hamburg nicht an der Tagesordnung seien.

»Die Folgen dieses Fehlers wollen wir uns hier lieber nicht ausmalen«, fuhr Stöcker fort. »Aber wir alle sollten aus unseren Fehlern Lehren ziehen.«

Gropp schob sich vor. Vor Stöckers Schreibtisch richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.

»Ich habe Teske beauftragt, dem Schrei nachzugehen«, sagte er. »Ich war der Streifenführer. Es war meine Entscheidung, und ich trage die Verantwortung.«

»Ich habe Ihren Bericht gelesen, Herr Gropp«, sagte Stöcker noch leiser als zuvor. »Für mich liest er sich so, als wollten Sie einen Kollegen decken. Ein an sich löbliches Verhalten, das uns aber nicht davon abhalten sollte, Fehler zu erörtern, um sie in Zukunft zu vermeiden. Nicht wahr, Herr Gropp?«

»Der Bericht entspricht den Tatsachen. Ich habe den Kollegen vorgeschickt, weil ich nicht so schnell wie er aus dem Wagen kam. Wir hatten jemanden schreien gehört. Da war Gefahr im Verzüge. Wenn jemand einen Fehler gemacht hat, dann ich. Ich hätte Teske nicht allein gehen lassen dürfen.«

Stöcker lehnte sich zurück. »Von dieser Version habe ich in Ihrem Bericht nichts gelesen, Herr Gropp. Wenn der Außendienst zu beschwerlich für Sie wird, werden wir uns nach einer Beschäftigung im Innendienst für Sie umsehen müssen.«

Gropp presste die Kiefer zusammen, so dass die Muskeln in dem verwitterten Gesicht hart hervortraten.

»Nun noch einmal zu Ihnen, Herr Teske. Ich denke, Sie werden die Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen diesen Dieter Wiek zurückziehen. Sie haben offenbar keinen großen Schaden genommen. Dafür bin ich nicht bereit, Sie womöglich mehrmals nach Hamburg zu schicken. Zu einer Verurteilung wird es nicht reichen, obwohl der Mann einschlägig vorbestraft ist.«

»Ich werde es mir überlegen, Herr Stöcker«, sagte Jochen Teske.

Stöcker bedachte den jungen Beamten mit einem nichtssagenden Blick, dann nickte er.

»Sie können gehen«, sagte er beinahe unhörbar.

»Wir sind wohl nicht seine Lieblingsgreifer«, stellte Jochen fest, als sie auf ihren Streifenwagen zugingen.

Gropp brachte seine Empfindungen auf den einfachsten Nenner. »Er ist ein Arschloch«, sagte er.

Er ließ sich in den Wagen fallen und zerrte den Sicherheitsgurt über seine Brust. Dabei schlug er mit einer Hand auf seinen Bauch.

»Ich bin eins siebenundsiebzig groß und wiege mal 74, mal 76 Kilo. In meinem Alter ist das nicht zu viel. Oder was meinen Sie?«

Gropp schien keine Antwort zu erwarten. Ungewohnt redselig machte er seinen Gefühlen Luft.

»Ich passe beim Essen auf. Einmal in der Woche spiele ich Fußball, und wenn ich mittwochs keine Spätschicht habe, gehe ich zum Training. Und trotzdem kriege ich mein Gewicht nicht unter Kontrolle.«

Jochen fuhr über die Marienstraße und bog an der Mühle ab. Gropp bemerkte es nicht.

»Das macht der verdammte Schichtdienst«, spann er seinen Gedanken weiter. »Das unregelmäßige Essen, der unregelmäßige Schlaf . . . Die Verdauung macht da auch Probleme.« Er warf Jochen einen Seitenblick zu. »Sie haben gut lachen, Sie Grünschnabel!  Wo fahren wir überhaupt hin?« Er sah nach draußen, als Jochen den Wagen ausrollen ließ.

Hinter einem hohen Zaun aus schwarz lackierten Eisenstäben lag ein verwittertes rotes Backsteingebäude mit Fenstern wie blinde Augen in den abweisenden Mauern. Nur die dichten Kronen der Rotdorn-Bäume auf dem Schulhof stellten einen freundlicheren Anblick dar.

»Die Schule ist doch längst aus«, sagte Gropp nach einem Blick auf die Uhr.

Jochen zog den Wagen ein Stück vor, dann stellte er den Motor ab. Das offene Schulhoftor lag jetzt genau gegenüber. An der Seite war der überdachte Schuppen zu sehen. Dort standen einige Dutzend Mofas und Mokicks, zwischen denen sich die wenigen Fahrräder verloren vorkommen mussten.

»Für die oberen Klassen finden nachmittags Arbeitsgemeinschaften statt«, sagte Jochen. Er kurbelte die Scheibe herunter und legte seinen Arm auf die Fensterkante. »Hier bin ich zur Schule gegangen«, fügte er leiser hinzu. Tief atmete er die trockene Luft ein. Er versuchte, die Erinnerung an zu enge Schulbänke, an das Gedrängel in den Fluren oder die Gesichter der Lehrer heraufzubeschwören. Es gelang ihm nicht.

»Zur Hauptschule?«, fragte Gropp verwundert. »Ich dachte, Sie hätten das Gymnasium besucht.«

»Ich war auf der Realschule«, erklärte Jochen. »Die war hier. Realschule Uhlenbeck. Als das neue Schulzentrum in Sennefeld eröffnet wurde, wurde die Realschule verlegt, und hier kam die Hauptschule rein.«

»Ach so«, sagte Gropp. Er verfiel in Schweigen.

»Das war vor sieben Jahren«, sagte Jochen nach einer Weile.

»Da können Sie auch gleich sagen, vor siebzig«, bemerkte Gropp. Er peilte über die Kante des Armaturenbretts, als eine Gruppe Schüler das Gebäude verließ. Vier oder fünf Jungen gingen zum Schuppen. Die Mädchen und zwei andere Jungen kamen auf das Tor zu. »Wie die rumlaufen! Mann, Mann. Eigentlich sollte es eine Vorschrift geben, dass die sich die Haare waschen müssen.«

»Und am besten auch noch gleich eine Uniform tragen, was?«

»Was wäre denn dabei? In England müssen die Schüler alle Uniformen tragen, habe ich mal gehört. Ich finde das gar nicht schlecht. Da kann dann niemand sehen, ob einer einen reichen Vater hat oder nicht.«

»Das hat vermutlich alles seine Vor und Nachteile«, sagte Jochen friedfertig.

Eine kleine Gruppe kam über die Straße. Er erkannte Sabine Feldmann. Sie lachte ihn an, und er lächelte zurück. Als sie vor dem Wagen herging, ließ sie die Hüften unter dem weiten Folklorerock schwingen. Ganz schön frech, dachte er.

»Warum hängen wir eigentlich hier rum?«, erkundigte sich Gropp. »Um vier haben wir Verkehrssicherung am Gewerbegebiet.«

»Bis dahin haben wir noch Zeit.«

»Sie geben was darauf, was Ihnen der Jansen-Junge gesagt hat?«

Jochen hob die Schultern.

»Wenn ich der alte Jansen wäre, würde ich dem Jungen erst mal das Mokick wegnehmen«, sagte Gropp. »Der Alte hat doch selbst kein Geld. Und wovon bezahlt der Junge das?«

»Vielleicht steckt ihm die Oma etwas zu«, meinte Jochen. »Meine hat das auch getan.«

»Geld für 'n Mofa?«

»Das nicht gerade, aber ich habe gejobbt, da ging das.«

Gropp verlagerte sein Gewicht auf die andere Gesäßbacke. »Na ja, wundern täte es mich eigentlich nicht«, sagte er.

»Was?«

»Wenn wir auch in Uhlenbeck schon Hasch und andere Drogen hätten. — Haben Sie der Kripo schon einen Tipp gegeben?«

Jochen schüttelte den Kopf.

Gropp nickte zufrieden. »Lassen Sie sich eins gesagt sein, Teske — auch wenn Sie mal zur Kripo wollen, brauchen Sie den Kollegen jetzt nicht schon die Arbeit abzunehmen. Da machen Sie sich nur unbeliebt.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich zur Kripo will«, sagte Jochen.

»Wollen Sie denn zwanzig Jahre lang im Streifenwagen rumhängen? Zwanzig Jahre Schicht machen, bis Ihr Körper nicht mehr weiß, was Tag und Nacht ist?«

»Ich weiß es eben noch nicht«, sagte Jochen.

»Es ist eigentlich kein Wunder, dass es immer nur welche von uns trifft«, sagte Gropp plötzlich mit veränderter Stimme. »Oder haben Sie je gehört, dass es einen von der Kripo erwischt hätte? Die Kripo macht eben nicht so Schichtdienst wie wir. Sie überlässt uns den ersten Zugriff. Wir dürfen den Kopf hinhalten.«

Jochen brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Gropp an den erschossenen Hamburger Kollegen dachte. Sehnen an seinem stämmigen Hals traten dick hervor. Und bestürzt stellte Jochen fest, dass Gropp Angst hatte.

»Ich weiß nur, was ich gelesen habe«, sagte Jochen vorsichtig. »Der Kollege hat anscheinend seine Eigensicherung vernachlässigt.«

»Bockmist«, meinte Gropp. »So was ist eben hin und wieder fällig. Das ist wie ein Naturgesetz. Und ein Naturgesetz ist, dass Sie Ihren Körper eben nicht betrügen können. Nachts sind wir nicht voll da.«

Gropp sah Jochen nicht an. Vielleicht würde er seinen Gefühlsausbruch später bereuen. Jochen fühlte sich unwohl.

»Sie haben noch keine Angst, Teske«, fuhr Gropp ruhig fort. »Sie sind noch zu jung. Die Angst kommt erst später. Dann denken Sie mal an meine Worte: Sie werden sich sicherer fühlen mit einem Kollegen, der selbst Angst um sein Leben hat. Wer Angst hat, ist kein Feigling, Teske.«

»Ich weiß«, sagte Jochen leise, während er eine Gruppe Schüler beobachtete, die eben den Schulhof verließ.

Irene Breuer war dabei. Mit Mathilde, Irenes älterer Schwester, war er einmal gegangen. Es war noch gar nicht so lange her.

Die Erinnerung an Mathilde Breuer machte ihm bewusst, wie nah er der Generation, die da drüben die harten Bänke drückte, eigentlich noch war. Und wie weit entfernt von ihr er sich in Wirklichkeit schon fühlte. Es lag nicht nur an der Uniform, die er trug, das wusste er. Himmel, er fühlte sich doch nicht alt! Er war gerade 25 geworden. Seine Schwester war 20. Noch nie hatte er eine Freundin gehabt, die älter als 22 gewesen war. Sogar die 17jährige Sabine Feldmann flirtete mit ihm.

Er sah sein Gesicht im Außenspiegel.

Es war ein kantiges Gesicht, das ernst und kraftvoll wirkte, und die skeptischen Augen verlangten Respekt.

Ein gutes Gesicht für einen Polizisten, hatte sein Vater gesagt. Da hatte ihn die verdammte Krankheit schon in ein vor Schmerz winselndes Bündel verwandelt.

Ganz plötzlich hatte Jochen das Empfinden, als sei ihm etwas verloren gegangen, was er nie besessen hatte. Das lange Sterben seines Vaters hatte eine düstere Aura um ihn herum verbreitet, hatte ihn ernster gemacht, als es seinem Alter entsprach.

Er löste die Augen von seinem Spiegelbild und sah zur Schule hinüber. Der Schuppen war jetzt leer. Die Autos der Lehrer standen auf dem Parkplatz an der Parallelstraße.

Kutschera, der Hausmeister, kam aus dem Gebäude und ging auf das Tor zu, um es zu schließen. Kutschera war in Uhlenbeck geblieben. Er war noch nicht zu alt, aber der Hausmeister an der neuen Schule in Sennefeld war ein ausgebildeter Techniker. Kutschera wäre mit all den zentral verriegelbaren Fenstern und Lüftungsklappen, mit der elektronisch gesteuerten Heizungs- und Klimaanlage und den anderen technischen Einrichtungen nicht mehr zurecht gekommen.

»Ihr Freund Harry dealt heute woanders«, meinte Gropp.

Jochen startete und fuhr los.