11
»Guten Morgen, Herr Vohsen!«, sagte Frau Sudhoff.
»Morgen«, antwortete Vohsen unfreundlich. Er ging sofort in sein Büro durch. Für das strahlende Lächeln seiner Sekretärin hatte er an diesem Morgen keinen Blick übrig.
Frau Sudhoff kam ihm nach. »Möchten Sie Kaffee?«
»Nein.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, wo er das Licht im Rücken hatte. Er hoffte, dass die Sudhoff seine tiefen Augenringe nicht bemerkte.
»Dr. Nießen möchte Sie sprechen, Herr Vohsen.«
»Ich lasse ihn nachher rufen«, sagte Vohsen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Vielleicht erreichte er Kallberg schon im Gebäude der Landesregierung. Er hatte gegen halb acht noch einmal versucht, Kallberg zu Hause anzurufen, aber gleich wieder aufgelegt, als sich die Frauenstimme meldete und wissen wollte, wer er sei. Er und Kallberg hatten vereinbart, einander nur in Notfällen zu Hause anzurufen.
Verdammt, was war ein Notfall?
»Es ist wichtig, meint Herr Dr. Nießen«, sagte Frau Sudhoff.
»Was meinen Sie?«
»Ich glaube, er hat recht.«
Vohsen seufzte. »Gut, er soll herkommen.«
Vohsen lehnte sich zurück. Er war bis drei Uhr am Morgen bei Vera geblieben, aber er war nicht bei der Sache gewesen, und Vera hatte es bald gespürt. Sie war eine Frau, die einen Mann vergessen lassen konnte, dass sie eine Nutte war. Er hatte ihr schließlich von Beate erzählt und dem Kerl, mit dem sie herumzog. Vera hatte nach einigem Nachdenken erklärt, dass er, wenn ihm etwas an seiner Tochter liege und er ihre Beziehung zu diesem hergelaufenen Krawallmacher missbillige, das Recht habe, die beiden auseinanderzubringen. Mit allen Mitteln.
Mit allen Mitteln. Er würde ja mit dem Knüppel dazwischenfahren, wenn er erst einmal wüsste, wo die beiden sich verkrochen.
»Guten Morgen, Herr Vohsen!«
Vohsen hatte das Klopfen nicht gehört. »Kommen Sie schon«, sagte er unwillig und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
Dr. Nießen setzte sich. Er hielt eine Mappe in der Hand, die er aufschlug und über den Tisch schob. Die Mappe enthielt nur ein Fernschreiben.
Vohsen überflog den Text. Das Fernschreiben kam vom Leiter des Baubüro in Stuttgart. Beamte der Staatsanwaltschaft Konstanz, hieß es darin, hätten am frühen Morgen überraschend die Büros aller Firmen durchsucht, die am Bau eines Kernkraftwerkes am Oberrhein beteiligt waren, und umfangreiches Aktenmaterial beschlagnahmt.
»An der Arbeitsgemeinschaft sind wir nicht beteiligt«, sagte Vohsen und schob das Schreiben zu Nießen zurück.
»Glücklicherweise«, meinte der Jurist.
Vohsen nickte. »Danke, Dr. Nießen.«
Nießen ging. Kein überflüssiges Wort, dachte Vohsen anerkennend. Bei der Errichtung des Kernkraftwerkes hatte die DEMIBAU die Federführung. Zusammen mit der DEMIBAU hatte Vohsens süddeutsche Niederlassung erst vor wenigen Monaten den Zuschlag für ein anderes Großprojekt erhalten, den Bau eines neuen Container und Ölumschlaghafens in der Nähe von Karlsruhe. Den Auftrag hatte er Kallbergs guten Verbindungen zu den anderen Landesverbänden seiner Partei zu verdanken und dem Einsatz von nahezu einer halben Million Mark in bar.
Vohsen vergewisserte sich, dass die Tür zum Vorzimmer geschlossen war, bevor er Kallbergs Büronummer wählte. Kallberg meldete sich sofort.
»Ich habe gestern Abend und heute morgen bei Ihnen zu Hause angerufen. Ihre Frau wusste nicht, wo Sie waren«, begann Vohsen.
»Ich war nicht zu erreichen«, sagte Kallberg reserviert. »Im Übrigen — ich bin nicht verheiratet.«
Seltsam, dachte Vohsen, da kennt man einen Menschen schon so lange, traf Abmachungen, die von weitreichender Bedeutung über die eigenen Interessensphären hinaus waren, und er wusste noch nicht einmal, dass Kallberg nicht verheiratet war.
»Worum geht es, Herr Vohsen?«
»Ich muss Sie sprechen. Können Sie nachher in die Wohnung kommen?«
»Ab zehn leite ich eine Vorstandssitzung, anschließend tritt der Wahlkampfausschuss zusammen. Ich weiß nicht, wann ich abkommen kann. Worum geht es?«
»Ich hatte Streit mit meiner Tochter«, sagte Vohsen. »Sie ist ausgezogen.«
»Sie wird zurückkehren. Sie hat nichts, nicht einmal einen Beruf. Sie ist auf Sie angewiesen.«
Kallberg wusste über Vohsen besser Bescheid als es umgekehrt der Fall war.
»Dieses Mal sieht es ernst aus. Sie ist mit diesem Menschen zusammen weggegangen. Sie hat mir gedroht.«
»Womit? Hat sie denn etwas in der Hand?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat zwar nichts gelernt, aber sie ist ein aufgewecktes Mädchen. Und sie ist mit diesem Radikalen zusammen. Diese Typen sind gefährlich. Wahrscheinlich hat er sich bewusst an sie herangemacht.«
»Herr Vohsen, warten Sie ab, dann ...«
»Nein, Herr Kallberg, ich werde nicht warten. Ich will, dass Beate zu mir zurückkommt. Das wird der Fall sein, wenn sie nicht mehr unter dem Einfluss dieses Menschen steht. Sie haben bisher nur geredet, Kallberg! Jetzt will ich endlich Taten sehen. Ich will diesen Kerl fertig machen. Ihn ausschalten. Dafür brauche ich auch Ihre Hilfe!«
»Ich will sehen, was ich tun kann, Herr Vohsen.«
»Und dann ist da noch etwas, Herr Kallberg. Wieso erfahre ich nicht von Ihnen, dass die Staatsanwaltschaft Konstanz gegen die DEMIBAU ermittelt?«
»Herr Vohsen, nicht am Telefon!«, sagte Kallberg scharf.
»Gut, dann in der Wohnung. Heute Abend um sechs.«
Vohsen legte auf, ohne die Antwort des Parteimanagers abzuwarten.