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Es war ziemlich kalt an diesem frühen Montagmorgen, als Bandisch seinen Taunus zwischen hochbeladenen Gemüsewagen, kleinen Lieferfahrzeugen und Abfallcontainern her über die Hugo-Viehoff-Straße steuerte.
Er war am Sonntagnachmittag hier herausgefahren, um sich die Gegend anzusehen. Dann erst hatte er Heubel angerufen und ihn mit der Absicht, zwei Verdächtige im Fall Dattner festnehmen zu wollen, konfrontiert. Heubel hatte vorsichtshalber den Staatsanwalt informiert und Bandisch die Auflage erteilt, mindestens sechs Kollegen zur Unterstützung heranzuziehen.
Bandisch hatte die Kollegen seiner Abteilung telefonisch zusammengetrommelt. Die Einsatzbesprechung hatte am Sonntagabend im Präsidium stattgefunden. Bandisch hatte jedem Mitglied der Einsatzgruppe ein Foto von Thiemann ausgehändigt. Immerhin musste davon ausgegangen werden, dass mit Gegenwehr zu rechnen war, wenn es sich bei den Verdächtigten um die Täter im Fall Dattner handelte. Und es musste bedacht werden, dass zumindest einer der Männer, nämlich Thiemann, eine Schusswaffe besitzen und mit sich führen konnte.
Unmittelbar vor ihm machte, wie am Vorabend besprochen, ein Kollege mit seinem alten Opel eine Parklücke frei, und Bandisch stieß hinein. Die Parktaschen links und rechts wurden seit dem vergangenen Abend von neutralen Polizeifahrzeugen belegt. Die Kollegen hatten sich auf ihre vorher bestimmten Positionen gestellt. Zwei von ihnen hatten sich schon um sieben Uhr unter die Gäste der Schenke gemischt.
Bevor Bandisch Thiemann angesprochen hatte, war er sicher gewesen, den Mann nie gesehen zu haben. Über diese Sicherheit verfügte er bei dem unbekannten zweiten Mann nicht. Vielleicht hatte Bandisch den Burschen schon einmal festgenommen, vielleicht hatte er ihn irgendwann einmal verhört. Wenn Thiemanns Freund in Bandisch den Polizisten erkannte, war in einer übervollen Kneipe mit allem zu rechnen. Deshalb hatte Bandisch zwei besonders erfahrene Beamte für den Job in der Kneipe ausgesucht.
Bandisch stieg aus. Die Luft war frisch, und er fröstelte, was daran liegen mochte, dass er nicht gefrühstückt hatte. Um seinen Sohn Ralph nicht zu wecken, der heute erst um zehn zur Schule musste, hatte er sogar auf eine Tasse Kaffee verzichtet.
Obwohl er fror, ließ er den Mantel im Wagen und behielt die dünne Jeansjacke an, weil sie die Pistole am Gürtel am sichersten bedeckte, andererseits aber ein schnelles Ziehen der Waffe zuließ.
Bandisch überquerte die Straße. Unwillkürlich hielt er nach einem braunen Toyota Kombi Ausschau, konnte den Wagen jedoch nirgends entdecken, was bei dem unübersichtlichen Gelände nicht verwunderlich war. Sie hatten bei ihrer Einsatzbesprechung kurz erwogen, Thiemann von seiner Wohnung an zu observieren, den Gedanken jedoch gleich wieder verworfen, da für die ermittelnden Beamten mit keinem Vorteil aus der Überwachung zu rechnen gewesen wäre, andererseits aber, wie bei jeder Observierung, das Risiko einer Entdeckung bestanden hätte.
Auf dem Gehweg, genau vor dem Eingang zu Pitters Schenke, stand ein offener Lieferwagen, dessen Ladefläche mit leeren Salatkisten beladen war. Die beiden Männer, die rauchend an der Heckklappe lehnten, scherten sich nicht um das wütende Hupen der Fahrer, denen der Wagen im Weg stand. Die beiden Männer waren ebenfalls Polizeibeamte.
In der offenen Kneipentür blieb Bandisch einen Augenblick stehen. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Es roch nach Schweiß und Bier, und dichter Zigarettenqualm wehte ihm in die Nase. Er achtete nicht auf seinen rebellierenden Magen, als er sich zwischen die Arbeiter vom gegenüberliegenden Großmarkt schob, die hier Bier tranken und ihre Brote aßen. Die Zeiger der Uhr über der Theke standen auf acht Uhr fünfundzwanzig.
Bandisch versuchte, vorn, in der Nähe des Eingangs, einen Platz an der Theke zu ergattern, aber ein paar schwergewichtige Kerle standen da wie eine Mauer. Er wurde weiter nach hinten gedrängt, wurde eingekeilt.
Plötzlich stand er vor Thiemann, der rücksichtslos ein paar Männer zur Seite schob.
»Hierher!«, schrie Thiemann und winkte heftig. Bandisch nickte und drängte sich näher an den Mann heran. Thiemann hielt sich am Handlauf fest. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee und ein Glas mit einer bräunlichen Flüssigkeit. »Kaffee und Cognac!«, lobte Thiemann und grinste breit. »Für Sie auch?«
»Für mich nur Kaffee«, sagte Bandisch. »Ist Ihr Freund noch nicht da?«
»Der ist eben aufs Klo gegangen«, sagte Thiemann. »He, Pitter! Einen Kaffee für meinen Kunden!«
Der Kaffee kam sehr schnell. Bandisch sah sich um. Einer der beiden Kollegen stand am Ende der Theke, nicht weit von der Tür zu den Toiletten entfernt. Den anderen konnte er nicht ausmachen. Weil die Toilettentür zu blieb, hatte er Zeit, am Kaffee zu nippen. Der Kaffee war sehr heiß. Er wurde angestoßen, und schnell stellte er die Tasse wieder auf den Tresen.
»Sie sind aber früh auf den Beinen, Chef«, lobte Thiemann. »Was machen Sie denn sonst?«
»Ich bin Vertreter.« Als Bandisch den skeptischen Ausdruck in den vorquellenden Augen bemerkte, sagte er: »Ich fahre nachher erst noch mal nach Hause, mich umziehen.«
Thiemann grinste verständnisvoll. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Bandisch. Und Sie?«
»Connie Thiemann. Mein Freund heißt Hanke. Da kommt er.«
Bandisch griff erneut zur Tasse und hob sie vor sein Gesicht, um es wenigstens notdürftig zu verdecken, während er dem schmächtigen Jungen entgegenblickte, der sich durch die Umstehenden drängte. Blitzschnell tastete er den Burschen mit den Augen ab, registrierte die nervösen Augen, die hastigen Bewegungen, das lange dunkle Haar. Er stellte die Tasse wieder ab, als er sicher war, den Jungen nicht zu kennen.
»Hallo, Kalle, das ist er!«, schrie Thiemann, bevor der Junge heran war.
Kalle Hanke nickte Bandisch zu, ohne ihn richtig anzusehen, und griff nach einem Glas, das Limonade oder Saft enthielt. Eben noch, als der Mann einige Schritte entfernt gewesen war, hätte Bandisch ihn auf zwanzig, zweiundzwanzig geschätzt. Aus der Nähe sah der Bursche nicht mehr so jung aus. Er war mindestens fünfundzwanzig Jahre alt und einsfünfundsiebzig groß. Seine Gesichtshaut war ungesund blass. Bandisch blickte an ihm herab. Hanke trug ein verschwitztes T-Shirt, Jeans, die auf den Müll gehörten, und helle, wenn auch verdreckte Turnschuhe. Bandischs Herz schlug etwas schneller, als er schließlich einige lange weiche Barthaare am Hals des anderen entdeckte. Er spürte den Blick seines Kollegen hinten vor der Toilette, und nickte unmerklich in dessen Richtung.
Bandisch trank von seinem Kaffee. Thiemann kippte den Weinbrand in sich hinein.
»Von mir aus können wir«, sagte Thiemann.
»Ich will erst noch'n Saft!«, sagte Hanke lauter, als es nötig gewesen wäre. Ungeduldig trommelte er mit seinem Glas auf der Theke. Der Mann hinter dem Tresen füllte es neu, und Bandisch hielt ihm einen Geldschein hin.
»Alles zusammen«, sagte er. Der Mann nahm den Schein und ließ Bandisch warten.
»Was spuckt er denn aus?«, fragte Hanke, über Bandischs Kopf hinweg, seinen Freund.
»Wir gucken uns die Wohnung an«, antwortete Thiemann. »Dann mach ich den Preis.«
»Was brauchste mich da? Ich bin müde, will pennen.«
»Der Kunde wollte dich sehen. Will schließlich wissen, wen er in die Wohnung seiner Mutter lässt, nicht wahr, Herr Ban ... wie war der Name?«
»Bandisch.«
Bandisch bemerkte ein Zucken in den Augen des jungen Burschen. Kannte der Kerl ihn doch? Kannte er seinen Namen? Woher? Bandisch war seiner Sache plötzlich nicht mehr sicher. Kalle Hanke kippte den Inhalt seines Glases hinunter. Bandisch strich mit der linken Hand über seinen Hinterkopf, womit er seinen Kollegen zu verstehen gab, dass er Schwierigkeiten erwartete. Eine Festnahme hier drinnen hatte er unbedingt vermeiden wollen, doch wenn es nicht anders ging, mussten sie eben hier zugreifen.
»Ich habe meinen Wagen gleich hier draußen stehen«, sagte Bandisch. »Oder wollen wir lieber mit Ihrem Wagen fahren?« Er sah Thiemann an.
»Ist mir egal«, meinte der Dicke. Hanke rührte sich nicht. »Was ist mit dir?«, fragte Thiemann.
»Ich bleibe hier«, erklärte der Schmächtige. Er drehte sich ab und stemmte die Ellbogen auf die Theke.
»Aber du machst doch mit? Vielleicht ab Donnerstag? Übers Wochenende?«
»Ja, ja.«
Thiemann sah Bandisch an, etwas verlegen, dann sagte er: »Gehen wir?«
Bandisch nickte. Er hatte sich umgesehen und auch den zweiten Kollegen ausgemacht, der einen grauen Kittel wie die Händler vom Großmarkt drüben trug. Beide hatten sich nah genug herangearbeitet.
Bandisch gab das Zeichen zum Zugreifen. Er rieb über seine Stirn und nickte, dann warf er sich wie ein Keil zwischen Thiemann und Hanke, die noch Schulter an Schulter standen, und trennte sie.
Während die Kollegen Thiemann abdrängten, packte Bandisch Hankes linken Arm und stemmte den Mann mit seinem Körpergewicht gegen den Tresen.
»Polizei!«, zischte er in das Ohr des Schmächtigen.
Hanke trat nach hinten aus. Ein scharfer Schmerz zuckte durch Bandischs Knie, und er fluchte, als er den Arm des Burschen hochriss. Hanke knallte mit dem Kopf auf die Theke.
Thiemann schlug wild um sich. Im Nu entstand ein wüstes Durcheinander. Die beiden Beamten rissen Thiemann einfach zu Boden und bogen ihm die Arme auf den Rücken.
»Keine Aufregung! Polizei!«, schrie eine Stimme von der Tür her. »Polizei! Gehen Sie zur Seite! Es ist nichts passiert!«
Kalle Hanke wehrte sich verbissen. Er versuchte, unter Bandischs Armen herzuwischen, wobei er sich wie ein Aal wand und Bandisch einmal sein Knie zwischen die Beine rammte.
Bandisch hielt Hankes linken Arm eisern fest, und als er auch den anderen Arm zu fassen bekam, hatte der Bursche verspielt.
Die Beamten, die draußen gewartet hatten, stürmten in die Schenke. Augenblicke später schnappten die Handfesseln zu. Zwei Mann schoben Thiemann hinaus. Bandisch hielt Hanke am Arm fest.
»Es ist alles wieder in Ordnung, Leute«, erklärte Kriminalmeister Vogt, der schwerste Mann der Abteilung, gemütlich.
»Das ist blanker Terror!«, rief ein Mann, der an der Theke stand. Bandisch wirbelte herum und starrte den Kerl an, bis der die Augen senkte und sich umdrehte.
»Vertreter, eh?«, schimpfte Thiemann. Sein Gesicht hatte sich gerötet, die Augen glitzerten böse.
»Ich vertrete die Polizei«, sagte Bandisch ungerührt. »Los, Beine breit, lehnen Sie sich gegen den Kofferraumdeckel.« Rasch tastete er den Mann ab.
»Was suchen Sie? Ich habe nur Kleingeld bei mir, verdammter Bulle!«
»Steigen Sie ein. Sie sind vorläufig festgenommen.« Bandisch klapperte mit dem Schlüsselring, den er aus Thiemanns Tasche gefischt hatte. »Ich darf doch einen Blick in Ihren Wagen werfen?«
»Wenn Sie unbedingt Farbe an Ihre Hose kriegen wollen, bitte. Die Kiste steht vorn an der Sparkasse. Wollen Sie mir irgendwelche Indizien unterjubeln?«
»Sie haben ein böses Maul, Thiemann. Bringt ihn weg!«, rief Bandisch seinen Kollegen zu. »Vogt, kommst du mit?«
Thiemann und Hanke wurden in zwei verschiedene Wagen verfrachtet. Bandisch und Vogt durchsuchten Thiemanns Toyota. Ohne Ergebnis. Bandisch ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken.
»Was hast du erwartet?«, fragte Vogt. »Dass Thiemann seinen Ballermann mitnimmt, wenn er Wohnungen anstreicht? Oder dass der andere die Frankenstein-Maske anzieht, wenn er Tomatenkisten ablädt?«
»Wenn Dattner den Jungen identifiziert, bekomme ich Durchsuchungsbeschlüsse für die Wohnungen der Kerle. Typen wie die schmeißen so schnell nichts weg.«
»Bist du deiner Sache sicher, Klaus?«, fragte Vogt.
»Absolut«, antwortete Bandisch.
»Und dein Zeuge?«
»Bombensicher.«