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Agnes Keller sah auf die Uhr, als der Hund draußen zu bellen begann. Gleich darauf klingelte es an der Tür. Es war erst Viertel nach acht, aber seit sie das neue Haus gleich neben dem Bauhof der Firma im Industriegebiet von Hillerath bezogen hatte, waren unangemeldete Besucher selten geworden. Das ganze Gebiet verwandelte sich nach sechs Uhr abends in eine öde Geisterlandschaft.

Sie hörte den Jungen über sich rennen, und sie öffnete schnell die Tür zur Halle.

»Ich gehe schon, Hansi!«, rief sie hinauf.

Hansi kam trotzdem an die Treppe und spähte hinunter. Die Außenbeleuchtung brannte. Sie schaltete sie bereits am frühen Nachmittag ein und ließ sie die ganze Nacht über brennen. Hinter dem Mattglas konnte sie den Umriss einer weiblichen Gestalt erkennen. Sie zog den Riegel zurück und öffnete.

»Beate!«, sagte sie überrascht. »Du?«

»Ja, Mami.« Sie versuchte zu lächeln. »Bist du allein?«

»Natürlich bin ich allein. Das heißt, Hansi ist auch da.«

Hans kam die Treppe heruntergepoltert, als er die Stimme seiner älteren Schwester erkannte.

»Kann ich reinkommen?«, fragte Beate.

Agnes trat zur Seite. Verstohlen musterte sie ihre Tochter. Sie hatte Beate seit ungefähr einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Beate hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie trug hautenge Jeans von einem scheußlichen Grün, aber Agnes fragte sich, ob sie nicht riskieren sollte, solche Hosen zu tragen. Die Figur für hatte sie.

Beate drückte ihren Bruder an sich. »Du wirst immer größer, Hans Wilhelm«, sagte sie.

»Hier heißt er Hans. Oder Hansi.« Agnes ging voraus ins Wohnzimmer. »Hansi, ich glaube, du bist mit deiner Hausaufgaben noch nicht fertig.«

»Ich gehe wieder nach oben, Mami«, sagte Hans.

Agnes schloss die Tür. Beate ließ sich in einen hochlehnigen Sessel fallen und zog die Beine hoch.

»Störe ich auch nicht?«, fragte sie.

»Ich würde es dir sagen«, antwortete Agnes. »Möchtest du etwas? Ich kann dir nur Milch oder Saft an bieten.«

»Nein danke, jetzt nicht.«

Agnes Keller setzte sich. Sie machte den Rücken steif und schob das Kinn etwas vor, um die Haut an ihrem langen Hals zu straffen. Sie wusste, dass sie fabelhaft aussah, aber sie kannte auch jede einzelne Schwäche ihres Körpers. Sie war vor einem halben Jahr einundvierzig geworden. Sie hatte nicht die übliche Krise mitgemacht, die alle Frauen überfiel, wenn die Vier an erster Stelle in der Zahl ihrer Jahre erschien. Ihr war sogar bewusst, dass sie nicht nur vierzig, jetzt sogar einundvierzig geworden war, sondern dass damit sogar das fünfte Jahrzehnt ihre Lebens begonnen hatte.

Sie fühlte sich großartig. Sie führte die Tiefbaufirma ihres Vaters weiter, weshalb sie auch ihren Mädchennamen, seinen Namen, wieder angenommen hatte. Sie wusste genau, dass sie als Frau auf Männer wirkte, dass die Männer aber auch Respekt vor ihrer Leistung hatten.

Sie hatte die Erfahrung machen müssen, dass viele Männer, gerade die attraktiven und selbstbewussten, von einer tieferen und dauerhaften Beziehung zu ein erfolgreichen und dazu noch gut aussehenden Frau, die zudem aus ihren sexuellen Wünschen keinen Hehl machte, zurückschreckten.

Wenn sie zuließ, dass ein solcher Mann sie verführte und er im entscheidenden Moment versagte, spürte sie ein Gefühl des Triumphes, auch wenn ihre eigene Begierde dabei unbefriedigt blieb. Sie konnte eben nicht alles haben, stellte sie in solchen Augenblicken fest.

Richtig zurecht kam sie auf sexuellem Gebiet nur mit Männern, die schwächer waren als sie und das auch wussten. Damit hatte sie sich abgefunden. Es gab Männer, die ihre Schwächen hervorragend zu tarnen verstanden und sich nicht nur im Bett benutzen ließen.

»Wie geht es dir?«, fragte sie schließlich, als das Schweigen zwischen ihr und ihrer Tochter drückend wurde.

»Ich halte es zu Hause nicht aus«, sagte Beate. Ihre Stimme klang kläglich.

Agnes schwieg. Ihre Augen bekamen einen kalten Schimmer.

Beate zog den Kopf zwischen die Schultern. »Kann ich bei dir bleiben? Nur ein paar Tage.« Sie spürte den kalten Blick ihrer Mutter, und sie kannte ihre Antwort. Trotzdem sagte sie: »Bitte!« Es war ein Hilfeschrei.

»Ich habe keinen Platz hier, liebe Bea. Es tut mir leid.«

Beates Lippen begannen zu zittern. »Es ist wegen ... ihm!«

»Ich weiß nicht, von wem du sprichst, mein Kind.«

»Ich spreche von meinem Vater. Du hasst ihn.«

Agnes schmale Hände lagen ruhig auf den Knien. Ihr kleiner Mund bewegte sich kaum, als sie sagte: »Du bist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren, mein Kind.« Ihre Stimme klang flach, aber Beate konnte die unterdrückte Erregung genau spüren. »Mein Vater hat sich das Leben genommen, kurz nach deiner Geburt.«

Beates Augen wurden groß. »Das habe ich nicht gewusst«, stammelte sie.

»Natürlich nicht. Er hat es seinetwegen getan.«

»Wegen Vater?«

»Ja.«

»Warum? Ich verstehe es nicht.«

»Dein Vater hat meinen Vater aus der Firma gedrängt Er hat ihn als Trottel dastehen lassen. Er hat ihn gedemütigt und ausgenutzt. Dein Vater hat es darauf angelegt. Du hast dich für deinen Vater entschieden, mein Kind Ich habe keinen Platz. Jetzt nicht mehr.«

Beate stand auf. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und hob die Schultern.

»Dann eben nicht«, meinte sie. »Schönen Abend noch.«

Erst als sie in ihrem Wagen saß, weinte sie.