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Klara machte ihnen die Tür auf. Am nächsten Morgen sollte jeder von ihnen einen Schlüssel bekommen.

»Hallo, da seid ihr ja! Die anderen sitzen noch alle in der Küche. Wollt ihr allein sein, oder habt ihr Lust, noch ein bisschen zu klönen? Wir haben Tee und Wein.«

Beate sah Josch an. Sie hatte das Gefühl, dass er tiefer verletzt worden war als sie.

Josch lächelte und sah sie fragend an, und dann nickte er. »Wir kommen gleich.«

Christian hatte ihnen am Nachmittag eins der kleineren Zimmer zugeteilt. Es war immerhin noch vier mal fünf Meter groß. Die beiden hohen Fenster gingen nach hinten hinaus.

Josch öffnete die Tür und tastete nach dem Lichtschalter. Geblendet schloss Beate einen Moment die Augen, als die nackte Glühlampe aufleuchtete, die an einem Kabel von der Decke hing.

»Das Licht ist schrecklich«, meinte Beate.

Sie warf ihre Reisetasche auf eins der beiden Bettgestelle. Auf dem anderen lag bereits Joschs Seesack. Klara hatte ihnen erzählt, dass ein ehemaliges Mitglied der Wohngemeinschaft die Betten besorgt und zurückgelassen hatte, genau wie die nicht zueinander passenden Hocker und die unförmige Kommode.

Beate blickte zur stuckverzierten Decke hinauf. Die Ornamente gefielen ihr.

»Du machst einen schlechten Tausch«, sagte Josch. Der Parkettboden knackte unter seinen Schritten, als er ans Fenster trat und in den dunklen Hinterhof hinuntersah.

»Zwei eigene Zimmer mit Bad im Haus deines Vaters gegen eine kahle Bude mit Möbeln vom Sperrmüll ...«

Sie stellte sich neben ihn. Sie konnte sein Gesicht in der Scheibe sehen, und sie lächelte. »Vielleicht halte ich es hier länger aus als du«, sagte sie.

»Warte, bis du das Klo gesehen hast!«

»Du bist ein Miesmacher«, stellte sie scherzhaft fest. Sie wusste, dass Josch es nicht so meinte, wie er es sagte. Sie spürte, dass er auf schwankendem Boden stand und Halt brauchte. Fast mehr als sie. Sie nahm seine Hand, und so standen sie reglos da, jeder in seine Gedanken versunken, bis es an der Tür klopfte.

Gleich darauf steckte Christian seinen schwarzen Lockenkopf durch den Spalt.

»Braucht ihr irgendwas? Ich kann mich im Haus umhören, wenn ihr einen Tisch haben wollt. Vielleicht hat jemand auch 'ne richtige Lampe.«

Josch hob die Schultern. »Keine Hektik«, meinte er. Er nahm den Fellmantel, den er ausgezogen hatte, wieder vom Bett und warf ihn sich über die Schulter. Es war kalt in der Wohnung.

»Ein schönes Stück«, meinte Christian. »Wo hast du den her?«

»Aus Marokko. Gefällt er dir?«

»Ja, aber er passt besser zu dir.«

Wie ein Markenzeichen, dachte Beate.

»Komm«, sagte sie eifrig zu Josch. »Gehen wir zu den anderen. Ich möchte sie kennenlernen.«

*

An die fünfzehn Personen drängten sich jetzt in der Küche zusammen, und Beate fragte sich, ob sie alle in der Wohnung hausten oder ob sie zu Besuch da waren. Von der Straße oder aus den anderen Wohnungen im Haus.

Das Mädchen, das, wie Beate annahm, zu Christian gehörte, drückte Josch ein Glas Wein in die Hand. Josch lachte sie an, als er trank, und Beate spürte einen Stich in der Herzgegend. Ihr fiel das Gerede von den Freiheiten ein, die in den Wohngemeinschaften — Kommunen hießen sie bei den Bürgern — herrschen sollten. Bisher hatte sie mit keiner Idee daran gedacht, dass es hier drunter und drüber gehen könnte. Oder durcheinander.

Josch wurde es warm. Vielleicht liegt es an den glutvollen Blicken des anderen Mädchens, dachte Beate, als Josch den Fellmantel auszog und über die Stuhllehne warf.

Jan, der Junge, den Beate für höchstens siebzehn gehalten hatte, war erst sechzehn. Er spielte auf einer Gitarre, die für ihn zu groß schien. Als er ein Thema frei variierte, begann Josch plötzlich zu summen, und der Junge rückte näher zu ihm heran. Jan sah ihn an. Er lauschte mit schräg geneigtem Kopf. Dann formte er Melodien, und Josch begann mit halb geschlossenen Augen und heller Kopfstimme auf Englisch zu singen.

Die Texte handelten von Wanderschaft und Flucht, von Suchen und Finden.

»Arlo Guthrie«, erklärte er lächelnd, als Jan die Gitarre absetzte.

Die anderen füllten ihre Gläser neu und redeten durcheinander. Jan sprach ernsthaft mit Josch. Er erklärte ihm die Vorzüge seiner Gitarre. Die Weinflasche ging von Hand zu Hand. Als Josch sich umwandte, um nach ihr zu greifen, schlüpfte Jan in Joschs Fellmantel. Er setzte sich auf den Tisch. Der Mantel hing bis zum Boden. Jans Augen glänzten, als er versonnen an den Saiten zupfte.

Beate fühlte sich wohl. Sie spürte ihre brennenden Wangen. Trotzdem füllte sie ihr Glas noch einmal. Denn sie wusste, dass das Wärmegefühl nicht allein vom Rotwein herrührte.

Es war schon spät, als sich die Küche allmählich zu leeren begann. Mit einem bedauernden Ausdruck gab Jan dem neugewonnenen Freund den Mantel zurück.

*

Josch hielt ihre Hand fest, als sie in ihrem Zimmer das Licht anknipsen wollte. Der Mond stand gelblich weiß über den Schornsteinen der Nachbarhäuser und warf den Schatten der Fensterkreuze über die einfachen Betten und den nackten Parkettboden.

Er legte ihr seine Hände auf die Hüften und zog sie sanft an sich. Behutsam erwiderte sie den Druck seiner Hüften. Nach der Wärme in der Küche empfand sie die Luft im Zimmer als kalt, und sie erschauerte. Sofort schlang Josch seinen Mantel um sie. Sie schmiegte sich an ihn, und er begann sie unter dem Mantel auszuziehen. Seine Hände waren warm und zärtlich. Als sie nackt war, trug er sie zum Bett. Sie spürte nicht, wie er sich selbst auszog. Sie fühlte nur seinen Körper neben sich und spürte das warme Fell des Mantels auf ihrer Haut, das sie einhüllte wie ein Zelt.

Sie waren bereit, aber sie versuchten, den Augenblick der Entspannung festzuhalten und die Erschlaffung hinauszuzögern. Beates Augen waren feucht, als sie den Kopf gegen seine Schulter presste.

»Ich liebe diesen Augenblick, immer nur diesen einen. Und dann den nächsten«, sagte sie.

Er streichelte sie. Seine Hand wanderte an ihrem Körper hinab. »Das ist das Einzige, wofür man lebt, das Einzige, worauf es ankommt.«

Er spürte, dass sie nickte. »Denkst du noch an deinen Vater?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Brauchst du ihn?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Mein Vater ist nicht so stark wie deiner«, sagte er. »Aber er ist genauso aggressiv und egoistisch. Er hat geglaubt, mich kaufen zu können. Wahrscheinlich glaubt er es immer noch.«

Beate rührte sich nicht. Er brauchte sie als Echo seiner Gedanken. Es machte ihr nichts aus. Aber sie wollte mehr über ihn wissen.

»Und deine Mutter? Ist sie anders?«

»Sie hat sich untergeordnet, wie es üblich ist. Sie hat mich einmal in Berlin besucht. Ein einziges Mal. Er durfte es nicht wissen. Es war ihr erster Flug, und sie hatte Todesangst, aber sie hat sich nicht getraut, es ihm zu sagen. Stell dir das vor. Weiß der Kuckuck, woher sie das Geld genommen hat. Ich hatte immer mehr Geld als meine Mutter. Kannst du dir das vorstellen? Ich glaube, irgendwie ist mein Alter noch beknackter als deiner. Die beiden könnten sich zusammentun. Was meinst du?«

Beate lachte glucksend, und er presste sie an sich, bis sie keine Luft mehr bekam und das Lachen erstickte.