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»Ich hatte gehofft, Ihnen wäre vielleicht noch etwas eingefallen, Herr Dattner«, sagte Bandisch. Er saß auf einem unbequemen Hocker neben dem Bett. Dattner hatte eben einen Schluck Saft getrunken. Jetzt wischte er mit einer Serviette über seine eingesunkenen Lippen.
»Ich habe Ihnen alles gesagt. Meiner Ansicht nach ist die Mordkommission zuständig. Es ist ein Skandal, dass nur ein einziger Beamter tätig wird.«
»Ich habe einen Mann ermittelt, der als Täter infrage kommt«, sagte Bandisch ruhig, seinen Ärger unterdrückend.
»Welchen?«
»Den Dicken.«
Dattners Gesicht erschlaffte erneut. »Ich glaube nicht, dass ich ihn identifizieren könnte.«
»Was ist mit dem anderen? Könnten Sie ihn wiedererkennen? Nur an der Stimme und an der Figur?«, fragte Bandisch.
Dattner schloss die Augen. Die Lider waren grau und dünn wie Papier. Die Lippen über dem zahnlosen Fleisch bewegten sich.
»Ja«, sagte er dann. »Ja ...«
»Ich kann es aber nur dann verantworten, dem Dicken auf der Spur zu bleiben, wenn ich einen konkreten Anhaltspunkt für seine Tatbeteiligung hätte. Der dicke Bauch, der über den Gürtel hing, genügt nicht. Denken Sie nach, Herr Dattner. Der Mann hat Sie doch festgehalten. Er hat Ihnen seine Hand über den Mund gehalten, Sie gegen die Wand gepresst.«
Dattners Augen schlossen sich erneut.
»Er war brutal. Und er war aufgeregt, das habe ich gespürt. Er sprach mit verstellter Stimme, irgendwie leise. Aber wenn er nicht sprach, atmete er schwer. Etwas rau. Vielleicht ist er Raucher.«
»Er war Ihnen sehr nahe. Hat er nach Zigaretten gerochen?«
Dattner runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er gedehnt. Er zögerte. »Aber da war ein anderer Geruch ... Er kam aus seiner Kleidung ... Nicht sehr stark ...«
Bandisch wartete.
»Ein Geruch ...« Dattners Nasenflügel weiteten sich, als spürten sie einer Erinnerung nach. Dann öffnete der Mann im Bett jäh die Augen, und ein scharfer Blick traf Bandisch. »Er roch nach Lösungsmittel! Oder Farbe!«
Bandisch lächelte entspannt. »Sehr gut«, sagte er.
»Ist er es?«
»Sagen wir, es ist jetzt sehr wahrscheinlich, dass er einer der beiden Täter war.«
»Was werden Sie tun? Ihn festnehmen?«
Bandisch schüttelte den Kopf. »Wir würden schlecht aussehen, Herr Dattner. Ich könnte den Mann keine 24 Stunden festhalten. Er und sein Komplize wären zudem gewarnt. Er soll mich zu seinem Komplizen führen. Wenn Sie den identifizieren können, sehen wir weiter.«
»Wer ist dieser Mann? Ist er Anstreicher?«
»Er hat als Hilfsanstreicher gearbeitet. Jetzt scheint er sich mit Gelegenheitsarbeiten, vielleicht Schwarzarbeit, durchzuschlagen. Hat Ihnen in den letzten Monaten jemand seine Dienste als Anstreicher angeboten? Oder haben Sie in der letzten Zeit Ihre Räume renovieren lassen?«
Dieselben Fragen hatte er erst vor einer Stunde Frau Frings gestellt. Dattners Büroräume waren zuletzt kurz nach dem Mord an Max Dattner renoviert worden, und zwar von einer Firma in der Innenstadt, deren Inhaber Dattner gut kannte. Bandisch hatte nur ein Telefongespräch gebraucht, um festzustellen, dass Konrad Thiemann nie bei dieser Firma beschäftigt gewesen war. Thiemann hatte den Überfall nicht ausbaldowert. Bandisch war da sicher.
Dattner ließ schnell die Lider über die Augen fallen. Bandisch entging so der lauernde Ausdruck darin.
»Ich bin nicht sicher ... Ich habe mal mit einem Mann gesprochen, hatte mir sogar seinen Namen aufgeschrieben ... Aber ich kann mich nicht erinnern. Wie heißt der Mann?«
»Thiemann«, antwortete Bandisch.
»Thiemann ... Nein, der Name sagt mir nichts.« Dattner öffnete die Augen wieder.
Bandisch machte Anstalten aufzustehen.
»Warten Sie noch«, bat Dattner. »Bitte ...«
Bandisch setzte sich wieder.
»Erzählen Sie mir von diesem Mann. Ich möchte es verstehen ...« Der Blick der leuchtenden Augen war kalt wie Eis. »Wer ist er? Ist er verheiratet? Hat er Kinder?«
»Ich weiß noch nicht viel von ihm. Er fährt einen Toyota, ist siebenundvierzig Jahre alt und vorbestraft. Vor zwei Jahren saß er übrigens im Gefängnis.«
»Hat er eine Familie?«
»Ich glaube, aber seine Frau hat ihn verlassen. Wie gesagt, ich habe mich noch nicht sehr eingehend mit ihm beschäftigt.«
»Wo wohnt er? Hier in Düsseldorf?«
»Ja, in Oberkassel.« Bandisch stand auf. »Ich muss jetzt weiter. Herr Dr. Deugius sagte, Sie wollten heute noch raus?«
Dattner betastete seinen Leib. »Ich habe es mir anders überlegt.« Er deutete auf seinen eingefallenen Mund. »So kann ich nicht unter die Leute. Am Montag habe ich einen Termin bei meinem Zahnarzt.« Er sah an Bandisch vorbei. »Am Samstag kommt meine Tochter.«
»Das freut mich«, sagte Bandisch.
Er sagte nicht, dass er mit Elisabeth Dirks telefoniert hatte. »Ihr Vater kann etwas Zuspruch brauchen«, hatte er gesagt und hinzugefügt: »Außerdem möchte ich mich gern mit Ihnen unterhalten.«
»Mit mir?« Die Stimme klang erschreckt. »Warum mit mir? Ich war doch gar nicht in der Stadt! Ich sehe meinen Vater doch kaum!«
»Vielleicht interessiere ich mich für Ihren Bruder.«
Elisabeth schwieg.
»Wann können Sie es einrichten?«, fragte Bandisch ruhig.
»Am Samstag?«
»Gut, wollen Sie zuerst Ihren Vater besuchen?«
»Ja. Und wo ...?«
»Machen Sie einen Vorschlag. Ich kann überall hinkommen.«
»Kennen Sie das Café Rick?«
»Ja. Sagen Sie eine Uhrzeit.«
»Ich kann meinem Mann sagen, dass ich zum Einkäufen nach Düsseldorf fahre. Ich muss um sieben wieder zu Hause sein. Sagen wir, fünf Uhr?«
»Gut. Ich werde auf Sie warten.«
Bandisch sah auf Dattner hinab. Für einen kurzen Moment hatten die Augen etwas von ihrer Kälte verloren. Bandisch schrieb seine Telefonnummer auf die Rückseite seiner Besuchskarte. »Sie können mich auch jederzeit zu Hause anrufen«, sagte er. Er legte die Karte neben das Telefon und ging.
Dattner blickte zur Decke hinauf. Sie war fleckenlos weiß, wie eben frisch gestrichen. Ein dicker Mann, der nach Farbe roch. Der ihm den Pistolengriff über den Wangenknochen geschlagen, der seinen Kopf gegen die Wand gepresst und ihn in den Mund getreten hatte. Als Max ermordet wurde, hatte der Mann im Gefängnis gesessen.
Dattner richtete sich halb auf. Die Bandagen pressten seine Rippen zusammen und erschwerten ihm das Atmen. Der Schmerz in seinem Inneren war erträglich geworden. Er brauchte keine Medikamente mehr, die ihm die Erinnerungen raubten. Er streckte die Hand nach dem Telefon aus und stellte es neben sich auf das Bett. Er wählte die Null, und als er den Dauerton der Amtsleitung hörte, wählte er die Nummer der Auskunft.
»Auskunft Platz sieben.«
»Ich suche einen Teilnehmer in Düsseldorf«, sagte er. »Thiemann.«
»Thiemann? Einen Augenblick. Kennen Sie den Vornamen? Oder die Anschrift? Ich habe hier mehrere Teilnehmer mit dem Namen Thiemann.«
»Er wohnt in Oberkassel.«
»In Oberkassel habe ich hier einen Thiemann, Adolf, Metzgerei, einen Thiemann, Jürgen, Vermessungsingenieur, und einen Thiemann, Konrad, ohne Berufsangabe.«
»Konrad. Der muss es sein.« Dattner suchte nach einem Bleistift. Hastig kritzelte er die Telefonnummer auf die Karte, die Bandisch dagelassen hatte. »Sagen Sie mir bitte auch die Adresse«, bat er dann.
»Schindelstraße 23.«
»Danke.« Dattner drückte die Gabel nieder. Sein Atem ging rasselnd. Er ließ die Gabel wieder los und wählte die Nummer, die er von der Auskunft bekommen hatte. Warum sollte ein Verbrecher wie dieser Thiemann kein Telefon haben? Das Rufzeichen klang schrill in seinem Ohr. Er zuckte zusammen, als es mitten im Ton abriss.
»Hallo? Hier ist Lutz Thiemann.« Eine Jungenstimme. Unbeschwert, unschuldig.
»Ist das die Metzgerei Thiemann?«, fragte Dattner.
»Nein«, antwortete der Junge.
»Nein?« Dattner wusste nicht weiter. »Ist dein Vater nicht Metzger?«
»Mein Vater ist Anstreicher. Er kommt erst heute Abend nach Haus.«
»Entschuldige«, sagte Dattner. »Ich wollte die Metzgerei Thiemann sprechen.«
Er legte auf. Sein Mund war trocken, das Herz schlug hart gegen die geschundenen Rippen. Er ließ sich zurückfallen, starrte gegen die Decke.
Ihm war noch nicht bewusst, welche Veränderung in ihm vorging. Der Gejagte hatte den ersten Schritt getan. Er war im Begriff, zum Jäger zu werden.