8
Als Wilhelm Vohsen am Abend nach Haus kam, war es bereits dunkel. Die Scheinwerfer seines Mercedes strichen über Beates Golf, der ordentlich vor dem linken Garagentor stand. Wie ein Friedenssignal, dachte er.
Mathilde hielt ihm wie üblich die Tür auf. Er warf ihr seinen Hut zu, begrüßte sie gut gelaunt und bemerkte dann erst ihren bedeutungsvollen Blick, mit dem sie auf die Tür zur Halle wies. Vohsen stieß sie auf.
Einen Moment stand er wie versteinert, starrte den Burschen an, der lässig am Treppenpfosten lehnte. Er bemerkte als Erstes das asketisch schmale Gesicht mit dem dünnen Bart, der bei einem anderen lächerlich gewirkt hätte.
Der Bursche trug ausgebleichte, an den Knien fast weiße Jeans und einen ärmellosen Fellmantel. Seine Füße steckten in ausgetretenen Laufschuhen. Zwischen seinen Fingern qualmte eine dünne Zigarette. Haschisch, dachte Vohsen, und er schnupperte unwillkürlich, roch aber nur würzigen Tabakrauch.
Er machte einen Schritt auf den jungen Mann zu, wobei er nach den richtigen Worten suchte. Er wünschte, er hätte einen Bauarbeiter vor sich gehabt.
»Guten Abend«, begann er. »Sind Sie ein Freund von Beate?« Gut, dachte er. Das war unverfänglich.
Josch runzelte die Stirn. »Freund? Na ja, vielleicht.«
Vohsen witterte etwas Zweideutiges in der Antwort, aber er nahm sich zusammen, deutete an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und fragte: »Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten? Ich nehme an, Beate zieht sich nur um?«
»Sie packt«, sagte Josch.
Angst und Wut ballten sich zu einem Klumpen in seinem Inneren zusammen. Josch sah ihm in die Augen. Kühl und analysierend, und Vohsen rannte plötzlich an ihm vorbei.
Mit langen Sprüngen hetzte er die Treppe hinauf, und wie ein Stier brach er durch die Tür in Beates Wohnzimmer.
Die Verbindungstür zum Schlafzimmer stand offen. Beate stand vor ihrem Kleiderschrank. Sie fuhr herum.
»Mein Gott, du kommst hier rein!«
Er baute sich im Türrahmen auf, den er fast ganz ausfüllte.
»Wer ist der Kerl da unten?«
»Ich nehme an, du meinst Josch.«
»Josch. Joachim Ehlers. Ist ihm der Boden in Berlin zu heiß geworden?«
»Frag ihn doch selbst.« Beate warf ein paar Wäschestücke neben die Reisetasche, die auf ihrem Bett stand.
»Darf ich fragen, ob du die Absicht hast, zu verreisen?«
»Ich verreise nicht. Ich ziehe aus.« Beate ließ die Arme hängen. »Bitte, Papa, gib mir die Chance! Ich brauche die Zeit. Und du auch.«
»Du brauchst mich nicht zu fragen. Du kannst machen, was du willst. Aber ich frage mich, warum du alles tust, um mir zu schaden!«
Beates Augen wurden groß. »Ich schade dir doch nicht! Wie kommst du darauf?«
»Du gesellst dich zu Leuten, die ein fremdes Haus besetzen. Das ist ein krimineller Akt, der auf mich zurückfällt. Auf mich, verstehst du? Du hast keine Ahnung, was für mich auf dem Spiel steht!«
»Warum sagst du es mir dann nicht?«
»Du würdest es nicht verstehen. Du musst mir vertrauen.«
»Wie kann ich dir vertrauen, wenn du mir nicht vertraust?«
Vohsen schlug mit der Faust gegen den Türrahmen. Er hörte nicht, wie Josch hinter ihm Beates Wohnzimmer betrat.
»Wahrscheinlich leidet er unter Verfolgungswahn«, sagte Josch.
Vohsen wirbelte herum. »Was fällt Ihnen ein!«, brüllte er.
»Vater!«, schrie Beate. Sie rannte um das Bett herum und drängte sich an ihm vorbei. »Bitte, er meint es nicht so.«
»Raus«, knurrte Vohsen. Es war ein kehliger Laut, der wie ein dumpfes Grollen tief aus seinem Hals quoll.
Josch sah Beate an. »Hast du deine Sachen?«
»Die kann ich selbst tragen. Warte unten, bitte!«
»Was wollen Sie?«, fragte Vohsen.
»Soll ich erst gehen und dann die Frage beantworten? Oder umgekehrt?«
»Ich kann Ihnen erst die Knochen brechen, Sie Strolch, und Sie dann die Treppe hinunterwerfen, oder umgekehrt!«
»Wir gehen jetzt, Vater«, sagte Beate. »Bitte, versteh mich.«
»Wohin? Wieder in ein Rattenloch? Um euch wieder von der Polizei rausholen zu lassen?«
»Wir ziehen in eine Wohngemeinschaft.«
Vohsen presste die Augenlider zusammen. Seine Arme hingen herab, die Hände fühlten sich plötzlich kalt an.
»Wohin gehst du? In eine Kommune?« Jedes Wort kostete ihn Kraft.
»Sie können es nennen, wie Sie wollen«, sagte Josch.
»Rattenloch. Rauschgifthöhle.«
Kindisch, dachte Vohsen. Warum fielen ihm keine Argumente ein? Oder warum konnte er nicht einfach sagen, Beate, ich brauche dich, weil ich sonst niemanden lieben kann. Aber er konnte nichts sagen, die Wut schnürte ihm die Kehle zu.
Beate lief zum Bett zurück. Sie stopfte die Wäsche in der Tasche zusammen und schloss die Bügel. Vohsen drehte sich zu ihr um.
»Wovon willst du leben?«, fragte er.
»Du warst immer sehr großzügig, da ist noch was übrig«, sagte sie leichthin. »Danach wird mir schon was einfallen.«
»Mit mir kannst du nicht rechnen, wenn du mit dem da gehst!« Vohsen deutete mit vorgestrecktem Kinn auf Josch. »Ich würde dir eine Wohnung einrichten, wenn du unbedingt allein leben willst!«
»Ich will nicht allein leben«, sagte Beate schlicht. »Ich war gestern Abend bei meiner Mutter. Ich wollte sie fragen, ob ich bei ihr bleiben könnte. Ein paar Tage.«
»Sie hat keinen Platz für dich«, sagte Vohsen. »Sie ist eine kaltherzige Hexe. Das hätte ich dir auch sagen können.«
»Sie hat mir von ihrem Vater erzählt. Von Großvater.«
»So?«
»Stimmt es, dass er sich umgebracht hat?«
»Er hat sich davon gemacht. Er war ein Schwächling.«
»Es stimmt also. Er war dir nicht gewachsen.« Sie nahm die Tasche und wollte an ihrem Vater vorbei.
Er packte sie mit seiner breiten Hand am Arm und zwang sie, stehenzubleiben und ihn anzusehen. »Ist das dein letztes Wort? Du willst mit diesem hergelaufenen Strolch gehen?«
Beate sah Josch betroffen an.
»Ich werde ihn nicht schlagen«, sagte Josch. Er rieb seine dünnen Finger und bedachte Vohsen mit einem nachsichtigen Lächeln.
Vohsens Gesicht nahm eine gefährliche dunkelrote Farbe an. Die Löcher seiner klumpigen Nase weiteten sich. Er versuchte, Josch einfach zu übersehen, als er sich erneut an seine Tochter wandte.
»Beate, sag mir wenigstens, wo du hingehst.«
»Bitte, Vater, es hat keinen Zweck«, sagte Beate mit abgewandtem Gesicht. »Gib mir Zeit.«
Josch hob die Augenbrauen. »Vielleicht will er dir eine Karte zu Weihnachten schreiben. Oder dich einmal zum Kaffee besuchen.« Josch wandte sich jetzt direkt an Vohsen. »Sie sind immer herzlich willkommen. Aber seien Sie vorsichtig — nachher kommen Ihnen noch ein paar Vorurteile abhanden.«
»Halten Sie Ihr verdammtes Maul!«, brüllte Vohsen.
Er sah in das gelassen lächelnde Gesicht mit dem dünnen Bart, er sah die Augen, die auf ihn gerichtet waren, als würden sie sein Inneres inspizieren, und von einem Augenblick zum anderen verlor er die Beherrschung.
Er ließ Beate los und stürzte sich auf Josch. Seine Finger gruben sich in den Fellmantel. Mühelos hob er den leichtgewichtigen jungen Mann hoch. Hart stieß er ihn mit dem Rücken gegen die Wand.
»Dich mache ich fertig!«, keuchte er. »Und wenn ich das getan habe, findest du deine Knochen auf dem Müll wieder. Oder im Gefängnis ...«
»Vater!«, schrie Beate. »Vater, um Gottes willen ...«
Vohsen hörte sie nicht. Er war nicht mehr zu halten. Er zerrte Josch über den Flur. Der junge Mann machte keine Anstalten, sich gegen den schweren und kräftigen Bauunternehmer zu wehren. Haltlos schleiften seine Füße über den Boden, rissen eine Vase um, als Vohsen ihn am Treppenabsatz herumschleuderte. Blind vor Wut versetzte er dem Jungen einen Stoß.
Beate schrie, als Josch rückwärts, mit rudernden Armen, die keinen Halt fanden, die Treppe hinunterstürzte. Schwer schlug er unten auf. Beate presste eine Hand gegen den Mund.
Vohsen stierte nach unten. Einen Moment lang war nur sein schweres Atmen zu hören.
»Was hast du getan? Vater ...«, stammelte Beate.
Josch bewegte sich. Mühsam drehte er sich auf die Seite, dann stand er auf.
»Was ist denn passiert?«, brüllte Vohsen. »Siehst du es nicht? Dieses Gesindel muss man umbringen, wenn man es loswerden will. Sonst kommt es immer wieder!«
Beate klammerte sich am Treppengeländer fest, als sie zu ihrem Vater hinaufsah. Ihre Knie zitterten.
»Lass uns in Ruhe«, sagte sie mit flacher, tonloser Stimme. »Wenn du uns wieder die Polizei schickst, werde ich mich wehren. Und ich weiß, wie. Das ist mein Ernst.«
Unsicher ging sie die Treppe hinunter. Sie nahm Joschs Hand und zog ihn hinaus.
*
Vohsen presste den Telefonhörer an sein Ohr. Das Rufzeichen schnarrte unaufhörlich. Das Schnapsglas verschwand fast in seiner großen Faust, als er den Inhalt mit einem Ruck in seinen Mund kippte. Es war schon der zweite Doppelkorn. Das Zeug war zu warm, aber das machte ihm jetzt nichts aus.
»Ja bitte?«, meldete sich eine weibliche Stimme.
»Ich muss Herrn Kallberg sprechen.«
»Wer ist denn da?«
»Das sage ich ihm selbst.«
»Herr Kallberg ist nicht da. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Kann ich etwas ausrichten?«
Vohsen legte wortlos auf. Er füllte das Glas nach, trank und brütete dumpf vor sich hin. Als das Glas leer war, nahm er erneut den Hörer ab.
»Hallo?«
Ihre Stimme rieselte wie warmer Sand sein Rückgrat hinunter.
»Ich bin's, Willi«, sagte er.
»Oh, Willi, mein Lieber, wie geht es dir?«
»Hast du Zeit? Ich kann in einer halben Stunde bei dir sein?«
»In einer halben Stunde? Warte ...«
»Wenn du eine Verabredung hast ...«
»Die kann ich absagen. Was ist los mit dir? Deine Stimme hört sich so komisch an. Willst du dich aussprechen?«
»Reden? Seit wann komme ich zu dir, um mich auszuweinen!«
Sie lachte dunkel. »Komm, Willi, komm.«