Kapitel 20

Angel drehte sich unbehaglich um und stieß sein Kissen zu einer kleinen Kugel zusammen. Dann schob er sie sich hinter den Kopf. Der Fernseher über ihm spuckte Werbespots aus.

Er griff nach der Fernbedienung und zappte durch die Kanäle. Eines dieser Boulevard-Pseudonachrichtenmagazine zeigte sein Bild auf der Mattscheibe. Das Bild wich sofort dem von Angels Putzfrau aus Las Vegas - die mehr Make-up trug als Robin Williams in Mrs Doubtfire. Sie tratschte und schwätzte, erzählte, dass Angel nie hinter seinem Bett Staub wischen und manchmal vergessen würde, ihr einen Scheck für ihre Arbeit hinzulegen. Dann war die blondierte Reporterin wieder auf dem Bildschirm zu sehen und produzierte ein Plastiklächeln. »Es wird vermutet, dass Angel DeMarco sich derzeit in einem Krankenhaus im Nordwesten an der Pazifikküste befindet. Eine Bestätigung über die Art seiner Erkrankung gibt es nicht, aber in den letzten Tagen wurde auf mehr als nur einer Hollywoodparty das Wort Aids geflüstert. Wie aus dem engeren Bekanntenkreis des Stars zu erfahren ist, soll...«

In einem Anflug von Verärgerung drückte er auf die Aus-Taste und warf die Fernbedienung durch das Zimmer. Sie traf mit einem befriedigenden Klappern die Wand und zerschellte auf dem Linoleumboden.

Er verschränkte die Arme und seufzte tief.

Er musste ständig an gestern denken. Egal, wie sehr er sich bemühte, Madelaines Worte zu verdrängen - sie kamen immer wieder, tauchten fortwährend aufs Neue auf, während er allein in seinem Zimmer lag.

Ihr Name ist Lina.

Schließlich gab er es auf und legte sich zurück. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die weiß getünchte Decke.

Eine Tochter.

Er versuchte sich vorzustellen, wie es sei, ein Kind zu haben. Er hatte nie viel Zeit damit verbracht, über solche Dinge nachzudenken. Tatsächlich dachte er überhaupt nur dann über Kinder nach, bevor er Sex hatte - das war der Gedanke, der ihn veranlasste, nach den Kondomen in seiner Tasche zu greifen.

Er wollte die ganze Diskussion als unwichtig und lächerlich verdrängen. Und er war sicher, dass er das vor der Operation einfach hätte tun können. Er hätte Madelaine bei einem Konzert oder einer Filmpremiere begegnen können, hätte von dem so wundervollen Kind gehört, das sie vor sechzehn Jahren geboren hatte und nichts dabei empfunden. Weniger als nichts.

Er hätte ihr einen großen Tequila angeboten und auf das Kind angestoßen, das er gezeugt hatte. Aber das wäre auch schon alles gewesen. Nach dem Tequila hätte er die Bühne sofort verlassen.

Langsam dämmerte ihm, dass Wegrennen nichts brachte, dass man manchmal genau an dem Punkt anlangte, von dem aus man gestartet war.

Jetzt hielt er sich nicht mehr für unsterblich. Wie könnte er das auch - mit dem Herz des Fremden, das in seiner Brust schlug, und der hellroten Frankensteinnarbe in seinem Fleisch? Jedes Mal, wenn er eine Spritze bekam oder eine Pille einnahm, wurde er daran erinnert, dass er allein durch die Gnade Gottes noch lebte - und durch das Geschenk eines Fremden. Es war die Art von Dingen, die einen Menschen dazu brachten, über sein Leben nachzudenken - selbst wenn er das nicht wollte.

Noch vor der Operation war er es leid gewesen, ständig zu rennen und nirgendwohin zu gelangen, war der Partys müde mit all diesen Frauen, an die er sich nicht erinnern konnte, und der Freunde, die verschwanden, sobald die Kameras sich abwandten. Aber er wusste nicht, was er sonst machen sollte.

Er hatte sich selbst nie ein eigenes Leben geschaffen, kein wirkliches gottgefälliges Leben. Er hatte eine Existenz - eine Eigentumswohnung in einem Hochhaus in Las Vegas, Freunde, die ebenso schnell kamen und gingen wie Filmrollen, Autos, die er ein Jahr lang fuhr und dann wechselte, eine Arbeit, die ihn in Geld schwimmen ließ. Er musste allenfalls vier Monate im Jahr arbeiten.

Was hatte er die restliche Zeit getan? Daran konnte er sich jetzt kaum erinnern. Wenn er über sein Leben nachdachte, fielen ihm nur zufällige Bilder von Partys und Katerstimmungen ein.

Er wollte sich an seine Anfangszeit erinnern, als er ein ernsthafter Schauspieler gewesen war, der von einem mörderischen Vorsprechen zum nächsten gegangen war und Shakespeare im Park gespielt hatte. Aber das war eine erfundene Geschichte -die Fiktion, die er der Presse vorgesetzt hatte, als die Person des Angel DeMarco erschaffen wurde, zusammengesetzt aus Schnipseln von Realität und Unmengen von Phantasie.

Die traurige Wahrheit war, dass er überhaupt nicht schauspielern konnte. Beim ersten Vorsprechen war er wegen seines Aussehens genommen worden - einem Vorsprechen, zu dem er einfach hingegangen war. Vals Mutter hatte einem Produzenten erzählt, dass ihr Sohn Agent sei und - voilä! Val war Agent. Und als Val Agent wurde, dauerte es nur Sekunden, bis Angel ein Schauspieler wurde.

Vielleicht wäre diese erste Rolle gar nicht so schlecht gewesen, wenn er nur ein bisschen Schauspieler gewesen wäre und darin eine Berufung gefunden hätte, aber er war der Star und der Film spielte über 150 Millionen Dollar ein. Danach hätte man ihn Othello spielen lassen, wenn er es gewollt hätte. Ein Star war geboren.

Er runzelte die Stirn, überlegte, warum er nicht härter gearbeitet hatte, um sein Handwerk zu lernen. Warum hatte er den Funken Talent, den die Kritiker in ihm sahen, nicht genutzt und daraus etwas Besonderes gemacht?

An die Gründe konnte er sich nicht erinnern. Selbst die Umstände und Chancen begannen zu verschwimmen. Sein Leben vor dem Herzanfall erschien ihm allmählich wie eine flüchtige Erinnerung, die einem anderen gehörte.

Und doch erinnerte er sich glasklar an Dinge wie den Jahrmarkt.

Ein Traum, den du vergessen hast, Angel. Hast du mich vergessen?

Das hatte er. Bis er in diesem verdammten Krankenhaus in Oregon aufgewacht war, hatte er Madelaine praktisch vergessen. Ihre gemeinsame Zeit war zu einer verschwommenen Erinnerung an die erste Liebe geworden, wie alle Jugenderinnerungen in das zerfetzte Sammelalbum der Seele geheftet worden. Jetzt aber fühlte sich das, was sie verband, real an, so wirklich, dass er es berühren konnte. Vielleicht das einzig Wirkliche in seinem ganzen Leben.

Sie wollte, dass er für ihre Tochter ein Vater war. Es war das Einzige, worum sie ihn je gebeten hatte.

Sie braucht dich, hatte Madelaine gesagt.

Gott helfe ihm, aber er wusste nicht, was er tun sollte. In irgendeinem Winkel seiner Seele war der Wunsch, seine Hand nach dieser Tochter auszustrecken, die ihm so sehr ähnelte. Er wollte sie festhalten und in sein Leben bringen und wissen, dass er etwas auf dieser Welt richtig gemacht hatte, bevor er starb.

Aber er hatte Angst. Was für ein Vater konnte er denn sein? Er war Alkoholiker, der gerade mit dem Trinken aufgehört hatte, ein Drogensüchtiger, der Schluss gemacht hatte. Er konnte jede Sekunde tot umfallen, durch das Versagen des Herzens eines anderen Mannes.

Wohl schwerlich das beste Vorbild für ein verwirrtes sechzehnjähriges Mädchen.

Es gab keinen Zweifel daran, dass er sie hängen lassen würde. Überhaupt keinen Zweifel.

Deprimiert von seiner eigenen Unzulänglichkeit, griff er nach dem Nachttisch und schaltete das Radio ein, das Madelaine ihm gegeben hatte. Heavy-Metal-Musik plärrte ihm entgegen und er zuckte zusammen. Ohne zu überlegen, drehte er den Tuner weiter, bis die klangvolle Melodie des »Phantoms der Oper« aus den winzigen Lautsprechern drang.

Er spürte, dass ein friedlicher Schauer ihn erfüllte. Die Wut und die Furcht, die seinen Magen seit gestern verkrampft hatten, begannen zu weichen. Er legte sich auf die Kissen zurück, ließ die Musik den Raum erfüllen und sein wundes Herz beruhigen.

Sei ihr Freund, Angel.

Es war die Stimme seines Bruders, die durch die Musik zu ihm sprach.

Angel richtete sich müde auf, stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. Sei ihr Freund.

Es war genau das, was Francis gesagt haben würde, wenn er noch lebte. Francis wusste immer, wie man im Leben das Richtige tat, und er hatte es immer getan. Ganz ruhig, ohne Aufhebens davon zu machen, ohne Gewissenskonflikte oder irgendwelche Fragen.

Ob Angel so sein könnte? Es auch nur versuchen könnte?

Damals - vor der Operation - wäre die Antwort darauf mit blendender Schnelligkeit gekommen, hätte jede Neigung, gut zu sein, zermalmt. Er hätte gewusst, dass er sich einer solchen Verpflichtung nicht stellen konnte. Er hätte gelacht über den bloßen Gedanken, es auch nur zu versuchen.

Aber jetzt, wo er hier lag und der Musik lauschte, überlegte er. Vielleicht hatte sein Herz jemandem gehört, der gut gewesen war. Vielleicht gab ihm das neue Herz eine Chance, die sein altes Herz ihm nicht zugestanden hätte.

Er sollte über die Absurdität dieses Gedankens lachen. Er wusste, dass das Herz nur ein Organ war, nicht das Lagerhaus der Seele oder irgend so ein Unsinn. Und doch, egal, wie oft er sich das sagte, konnte er es nicht ganz glauben. Seit der Operation hatte er begonnen, anders zu fühlen. Er hatte einen anderen Musikgeschmack, bevorzugte anderes Essen. In der einen Minute noch war er so wütend wie früher und dann geschah etwas - er brauchte nur ein trauriges Lied zu hören oder in den Regen hinauszuschauen - und er wusste, dass da etwas Neues in ihm war. Ein winziges Fädchen von Gutem, das zusammengerollt bei dem Schlechten lag. Es beängstigte ihn, dieses Gefühl, dass er in seinem Körper nicht mehr allein war, aber es faszinierte ihn auch. Mit jedem Schlag des Herzens des Fremden spürte er ein winziges Aufflackern von Fähigkeiten, das, verdammt, fast an Zauberei grenzte.

Er wollte, dass all sein Schmerz und sein Leiden einen Sinn hatten. Madelaine und Chris und Hilda und Tom Grant, sie alle hatten ihm gesagt, dass er eine zweite Lebenschance bekommen hatte. Vielleicht konnte er endlich etwas ändern.

Er wollte das plötzlich, wollte es so sehr, wie er noch nie etwas gewollt hatte.

Es war ein gutes Gefühl, etwas zu wollen, ein Ziel zu haben. Davon hatte er, wenn er ehrlich war, nicht allzu viele in seinem Leben gehabt. Er hatte nie mehr gewollt als die nächste Filmrolle oder die nächste Frau oder den nächsten Drink.

Er hatte erstaunlicherweise das Gefühl, als werde er endlich erwachsen.

Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er eine Sekunde brauchte, um zu merken, dass jemand an seine Tür klopfte. »Herein«, sagte er.

Madelaine kam durch die Tür. Für einen Sekundenbruchteil hätte er sie fast nicht erkannt. Sie trug ausgebeulte Levi's und eine übergroße grüne Strickjacke, die schon bessere Tage gesehen hatte. Ihr Haar hing schlaff um ihr Gesicht, kein Make-up verdeckte die Blässe ihrer Wangen.

»Hi, Angel«, sagte sie leise und trat neben sein Bett.

Er blickte zu ihr auf und spürte ein Ziehen in der Brust. Sie wirkte traurig und verloren, ganz anders als sonst. Früher hätte er diese Zeichen von Kummer nicht bemerkt, doch sein neues Herz wusste Dinge, die sein altes Herz nicht gekannt hatte.

Er schenkte ihr ein breites, falsches Lächeln. »Hi, Doc. Wie geht's denn so?«

Sie zog die Patientenkarte aus der Hülle am Fußende des Bettes, überflog sie rasch und legte sie dann beiseite. »Ich bin sicher, Sarandon hat dir gesagt, dass die Biopsie keine Abwehrreaktion gezeigt hat. Du machst gute Fortschritte.«

»Zumindest ein Teil von mir.«

Sie verzog verdutzt das blasse Gesicht. »Was meinst du damit?«

»Setz dich.«

Sie zog einen Stuhl heran und nahm neben dem Bett Platz. Als sie bemerkte, wie er sie anstarrte, fuhr sie sich mit einer Hand durch das Haar. »Heute ist mein freier Tag.«

Er wollte auf das Thema eingehen und sie fragen, wie sie sich fühle, aber diese Art von intimer Offenheit löste in ihm ein Gefühl von Unsicherheit und Verlegenheit aus. So nickte er stattdessen zu dem Fernseher, der an der Wand hing. »Ich habe gerade mein Bild in einer Klatschshow gesehen. Scheint, als hätte ich Aids. Du hättest mir das sagen sollen.«

Ein Lächeln spielte um eine Seite ihres Mundes. »Ich wollte dich nicht deprimieren.«

»Was sagen sie sonst, meine geliebten Schakale von den Medien?«

»Ein Sensationsblatt berichtete vor ein paar Tagen, dir sei ein Herz transplantiert worden - von einem Pavian, glaube ich, aber vielleicht war es auch von einem Außerirdischen. In einer anderen Sendung war man sicher, dass eine Stripteasetänzerin aus Boca Raton dich mit Aids infiziert hat.« Sie sah ihn an. »Es scheint, als hättest du ein ziemlich wildes Sexleben geführt.«

Ihm war etwas mulmig zumute. »Ja, hatte ich«, sagte er mit einem Seufzer.

»Das kannst du wieder haben, weißt du. Einige Kardiologen empfehlen, mit sexuellen Beziehungen sechs Wochen zu warten, aber ich bin da etwas weniger streng. Wann immer dir danach ist...« Ihr wurde die Doppeldeutigkeit der Worte bewusst und eine hübsche rosa Röte breitete sich von ihrem Hals aus. »Ich meine, Sex ist okay, wenn du dich gut genug fühlst.«

Er sah sie direkt an und schenkte ihr sein strahlendstes Böser-Junge-Lächeln. »Ist das ein unsittlicher Antrag?«

Er meinte, sie bei seinen Worten leicht erschauern zu sehen. »Ich denke, ich werde dich diese Diskussion besser mit deinem neuen Kardiologen führen lassen.« Sie stand auf. »Ich muss mich sputen.«

Er streckte eine Hand nach ihr aus und hielt sie fest. »Geh nicht.«

Sie starrte lange und eindringlich auf ihn hinab und sagte dann ruhig: »Behandle mich nicht so, Angel. Ich bin keines dieser Hollywoodsternchen, die einen Mord begehen würden, um eine Nacht in deinem Bett zu verbringen.«

Er merkte, dass er sie verletzt hatte. »Es tut mir Leid. Altes Leben. Alte Sprüche.« Er zuckte die Achseln, ließ ihre Hand aber nicht los. »Du wirst Geduld mit mir haben müssen. Sich über Nacht zu ändern, ist ein wenig schwer.«

Sie entzog ihm langsam ihre Hand und setzte sich.

Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber als sie das nicht tat, wusste er, dass es an ihm war zu sprechen. »Ich... ich habe viel über Franco nachgedacht«, sagte er, brachte die Worte stockend wie ein Narr heraus.

Sie kniff die Augen fest zu und er wusste, dass sie um Beherrschung rang.

»Ist das sein Pullover?«, fragte Angel ruhig.

Sie berührte augenblicklich den Ärmel und ihre Finger streichelten die abgenutzte Wolle. Sie nickte wortlos.

»Wann ...« Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern. »Wann beginnt die Heilung? Wann werden wir uns besser fühlen?«

Sie schluckte schwer und blickte zu ihm auf. »Ich weiß nicht, ob es eine Heilung gibt. Es gibt nur ein... Weitermachen.«

Er sah sie an und erkannte in diesem Augenblick, wie sehr ihm an ihr lag, wie sehr er wollte, dass ihr an ihm lag. »Ich denke, das ist es, worum es im Leben geht. Weiterzumachen.«

Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln, das ihr Gesicht für eine Sekunde verwandelte. »Denke ich auch.«

Er hatte sie dazu gebracht, so zu lächeln - mit ein paar ehrlichen Worten und damit, dass er sie flüchtig in sein Herz hatte schauen lassen. Diese Erkenntnis überkam ihn und brachte ihn dazu, wie ein Idiot zu grinsen. »Dieses neue Herz, das ich habe ... es kommt von jemand, der gut war.«

Sie atmete scharf ein. »Ja«, erwiderte sie.

Und zum ersten Mal fühlte er sich wie ein neuer Mann.

 

Als das Telefon klingelte, wusste Madelaine, dass es etwas Schlechtes zu bedeuten hatte. Ihr Magen verkrampfte sich. Langsam legte sie den Roman beiseite, den sie las, ging in die Küche und nahm das Telefon ab. Als sie Vicky Owens Stimme hörte, schloss sie die Augen und seufzte müde. »Hallo, Vicki.«

»Tut mir Leid, Sie zu Hause zu stören, Madelaine, aber ich wollte Ihnen sagen, dass Lina heute nicht in der Schule war.«

Madelaines Blick fiel auf die geschlossene Tür des Zimmers ihrer Tochter. »Ich hatte sie um sieben Uhr abgesetzt. Sie winkte mir zu und ging dann in das Gebäude.« Sie seufzte erneut, war plötzlich zu müde, um mit dem weiter umgehen zu können. »Ich denke, ich hätte sie bis zum Klassenzimmer bringen sollen.«

»Ich sah, dass Sie sie um drei abholten - darum rufe ich an. Ich fürchte, dass sie ernste Probleme bekommt, wenn nicht jemand einen Weg findet, an sie heranzukommen.«

Madelaine hätte das fast instinktiv geleugnet, doch stattdessen ging sie mit dem Telefon ins Wohnzimmer und setzte sich auf das schwer gepolsterte Sofa. Seit Francis' Tod hatte sie das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein. Jeden Augenblick lebte sie in dem Bewusstsein, wie zerbrechlich das Leben war, wie unsicher, und sie hatte nicht mehr die Kraft, so zu tun, als sei sie perfekt. Sie fühlte sich, als würde sie Wasser im tiefen Teil des Schwimmbeckens treten.

»Ich bin ... völlig durcheinander, Vicki«, gestand sie und in dem Augenblick, als die Worte über ihre Lippen kamen, fühlte sie sich, als ob eine Last von ihren Schultern gefallen sei. »Francis war mehr als ein Freund. Er gehörte zur Familie.

Wann immer ich versuche, über ihn zu reden, endet es damit, dass wir beide weinen und sich keiner von uns besser fühlt. Ich weiß, dass sie Hilfe sucht, aber ich habe keine Kraft, ihr etwas zu geben, und wenn ich es versuche, wartet sie nicht einmal, bis ich die richtigen Worte gefunden habe.«

»Ich weiß, was Sie fühlen. Mein Bruder und seine Frau sind im vergangenen Jahr gestorben und ich habe meinen Neffen zu mir genommen. Wir sind wochenlang danach wie Löwen miteinander umgegangen, die um ein Revier kämpfen. Es ist eine unerträgliche Zeit.«

»Was soll ich also tun?«

»Geben Sie nicht auf. Versuchen Sie, zu ihr durchzudringen. Und schauen Sie, ob es Anzeichen für wirkliche Probleme gibt. Ich werde versuchen, sie mit meinem Neffen bekannt zu machen, aber das wird nicht leicht sein.« Sie lachte. »Ihre Tochter wird ihn für einen totalen Deppen halten.«

Madelaine lächelte müde. »Damit wollen Sie wohl sagen, dass er ein großes Kind ist.«

»Im Augenblick... ja. Versuchen Sie, für Lina jemand zu finden, mit dem sie sprechen kann. Ich werde das auch weiter versuchen, aber sie wird auf niemand hören, der Autorität verkörpert.«

»Ja«, antwortete Madelaine. »Das werde ich. Vielen Dank, Vicki.«

Als sie aufgelegt hatte, erhob Madelaine sich und ging den Korridor hinunter. Sie erreichte Linas Zimmer, noch bevor sie sich einen Plan zurechtgelegt hatte. Aber in der Minute, als sie auf die geschlossene Tür schaute, wusste sie, was sie zu tun hatte.

jemanden, mit dem sie reden konnte.

Sie klopfte an die Tür.

Keine Reaktion.

Madelaine sammelte sich und öffnete dennoch die Tür.

Lina saß auf ihrem Bett, hörte mit großen, schwarzen Kopfhörern Musik und rauchte eine Zigarette. Sie trug ein Sweatshirt mit dem Aufdruck: Wenn du meine Musik nicht magst, bist du einfach zu alt. Tränen rannen über ihre Wangen.

Der Anblick ihres Kindes, das allein in seinem Zimmer saß, sich hin und her wiegte und weinte, war fast mehr, als Madelaine ertragen konnte. Sie ging zu der Stereoanlage hinüber und schaltete sie ab.

»Verdammt, Mom!« Lina riss sich die Kopfhörer vom Kopf und warf sie auf das ungemachte Bett. »Du hast kein Recht, hier hereinzuplatzen und meine Musik abzustellen.«

Madelaine nahm Lina wortlos die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in dem überquellenden Aschenbecher auf dem Boden aus. Dann setzte sie sich neben ihre Tochter.

Für eine Sekunde sahen sie sich einfach nur an und der argwöhnische Groll, der in Linas Augen zu sehen war, schmerzte. Gott, wie er schmerzte.

Madelaine streckte die Hand aus und strich das struppige Haar aus den Augen ihrer Tochter.

Lina zuckte zusammen und wich zurück, lachte unsicher. »Ich werde mir das Haar nicht anders schneiden lassen.«

Madelaine seufzte. So viele Missverständnisse. »Ich dachte nicht daran, dass du einen anderen Haarschnitt brauchst. Ich dachte, dass du einen Vater brauchst.«

Lina erblasste. »Du hast gesagt, er will mich nicht sehen.«

»Er glaubt, dass er das nicht will, aber manchmal kann ein Mensch nicht sehen, was unmittelbar vor seinen Augen ist.« Sie lächelte ihre Tochter zaghaft an. »Genau wie du. Ich bin hier. Ich war immer hier und doch siehst du mich nicht.«

»Mom ...«

»Unterbrich mich nicht. Ich war keine gute Mutter für dich, Lina. Das weiß ich. Glaubst du vielleicht, ich wüsste das nicht? Aber das hat nie daran gelegen, dass ich dich nicht liebe.« Sie lächelte weich. »Ich erinnere mich an deine Geburt, daran, wie sie dich auf meinen Bauch gelegt haben. Du warst so klein, so perfekt in jeder Hinsicht, und ich begann zu weinen. Alle glaubten, ich weinte, weil du so schön warst.« Sie streichelte Linas feuchte Wange. »Aber ich weinte, weil ich siebzehn Jahre alt war und solche Angst hatte. Ich wusste, dass ich nie gut genug für dich sein würde.«

»Mom, sag doch nicht...«

»Weil ich Angst hatte, bin ich egoistisch gewesen. Ich habe versucht, dich immer bei mir zu haben, hoffte, dass ich es eines Tages richtig machen würde. Aber ich habe es nicht richtig gemacht. Hätte ich das, würdest du nicht die Schule schwänzen und stehlen und allein in deinem Zimmer hocken und weinen. Du brauchst etwas, das ich dir gerade jetzt nicht geben kann.«

»Ich brauche Francis«, sagte sie mit dünner, zitternder Stimme.

»Wir brauchen ihn beide, Liebes. Und wir werden ihn für den Rest unseres Lebens jeden Tag brauchen. Vielleicht wird der Schmerz eines Tages nachlassen - alle sagen, dass es so sein wird - und ich bete darum, dass es so sein wird. Aber im Augenblick müssen wir unser Leben weiterleben, alles an Glück nehmen, was wir finden können. Wenn es etwas gibt, das ich aus Francis' Tod gelernt habe, dann das, wie schnell alles vorbei sein kann. Ein Anruf mitten in der Nacht und das Leben verändert sich.«

»Ich will mein altes Leben wiederhaben.« Lina lächelte sie mit feuchten Augen an und zuckte die Schultern. »Ich weiß, ich weiß, ich hab's gehasst, als ich es hatte.«

Madelaine wollte Lina in diesem Augenblick in die Arme schließen und sie an sich ziehen, aber sie hatte Angst, dass das die Unterhaltung beenden würde, und sie hatte noch einen so langen Weg vor sich. Meilen, so viele Meilen. Stattdessen fasste sie Lina beim Kinn und lächelte. »Ich möchte ändern, was ich falsch gemacht habe.« Sie atmete lang und tief ein und sammelte sich für ihre nächsten Worte. »Ich möchte dich deinem Vater vorstellen.«

Linas Augen weiteten sich und sie begann, den Kopf zu schütteln. »Noch nicht...«

»Doch. Jetzt.«

»Was wird er tun?«

Da war die Frage, die stechende kleine Furcht, die in ihr nagte und die sie nicht verdrängen konnte. Doch die neue Ehrlichkeit war ein gutes Gefühl, viel besser als all dieses Verstecken und Heucheln, furchtlos und perfekt zu sein. »Ich weiß es nicht.«

»Und wenn er mich nicht sehen will?«

»Dann versuchen wir es morgen wieder und übermorgen und überübermorgen.«

Lina schwieg eine lange Zeit. Dann sagte sie: »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Du bist stärker, als du denkst.«

»Nein.«

Madelaine schaute ihre Tochter an, liebte sie so sehr, dass es schmerzte. Sie wusste, dass Lina das Recht hatte, Angst zu haben, wusste aber auch, dass die Furcht kein Grund war, auszuweichen. Wenn jemand diese Lektion gelernt hatte, dann Madelaine. Sie hatte ihr Leben lang Angst gehabt und was hatte ihr das gebracht? Ein Bett, in dem sie allein schlief, und eine Tochter, die sich ungeliebt fühlte.

»Wenn er dich verletzt, werde ich da sein, Lina.«

»Ich habe Angst.«

»Ich weiß. Die habe ich auch.«

Lina wandte sich ab, starrte auf das riesige Poster von Johnny Depp, das über ihrem Bett hing. Schließlich seufzte sie und sah Madelaine wieder an. »Ich muss es versuchen, nicht wahr?«

Madelaine war plötzlich sehr stolz auf ihre Tochter. »Das tun wir alle. Mehr bleibt uns nicht.«

 

Angel träumte, er sei wieder auf der Wiese.

Er stand dort, sah sich um, fühlte sich friedlich und zufrieden. Vögel kreisten hoch über ihm, zwitscherten und zirpten und schössen auf das süße grüne Gras hinab. Er konnte seinen Herzschlag hören, dieses gleichmäßige Pochen, dieses Pulsieren und Klopfen in der Brust.

Er wusste, dass Francis kommen würde, bevor er eintraf.

Angel drehte sich ganz langsam um und sah seinen Bruder bei den Bäumen stehen. Francis trug sein ernstes, schwarzes Priestergewand und für einen Sekundenbruchteil erkannte Angel ihn fast nicht. Dann ging Francis auf ihn zu, schwebte über dem von Blumen durchsetzten Gras.

Er konnte das Lachen seines Bruders in der leichten Brise hören, das sich mit dem Zwitschern der Vögel vereinte, dem Flüstern der Blätter, und Angel merkte, dass er selbst auch lachte.

Plötzlich wurde die Welt still. Die Vögel verschwanden und der Wind legte sich. Alles, was er hören konnte, waren ihre beiden Herzen, die wie Schnellfeuergewehre klangen.

Ohne nachzudenken, streckte er eine Hand aus. Er spürte, dass Francis seine Hand nahm, spürte die warme Kraft des Griffes seines Bruders und fühlte sich geborgen und sicher. Ihre Herzen schlugen synchron, wurden zu einem einzigen Schlag auf dieser stillen Wiese.

Ich habe nicht viel Zeit.

Angel hörte die Worte seines Bruders, obwohl Francis' Lippen sich nicht bewegt hatten.

»Bleib«, flüsterte Angel verzweifelt. »Ich habe dir so viel zu sagen.«

Die Worte sind unwichtig.

»Und ob, das weiß ich jetzt. Bleib.«

Doch Francis schwand bereits. Sein Bild schimmerte und er löste sich von ihm.

Er lief Francis nach, streckte wieder die Hände aus, versuchte, das Bild zu halten, aber es bewegte sich schneller als er, verschwand in den dunklen Schatten der Bäume.

Und Angel war allein. Der Himmel über ihm wurde dunkel und hässlich, warf ein düsteres Leichentuch auf das Feld, begrub die Blumen und das Gras.

»Angel?«

Er hob sein Gesicht zum Himmel und starrte auf die "Wolken, die sich zusammenballten. Komm zurück, Francis, komm zurück ...

»Angel?«

Er erwachte jäh und sah, dass Madelaine neben seinem Bett stand. Er starrte zu ihr auf. Sein Atem kam in tiefen, heftigen Stößen. »H... hi, Mad.«

Sie zog einen Stuhl heran. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Nein«, erwiderte er, ohne nachzudenken, und warf seine Verwundbarkeit auf die Decken zwischen ihnen. Fast hätte er das zurückgenommen und gesagt: Ja, Teufel, ja. Aber dann sah er in ihre graugrünen Augen und er begriff, dass er das Lügen satt hatte, es leid war, die Wahrheit zu verheimlichen. Gestern hatte er das Gefühl gehabt, ganz kurz das gelobte Land gesehen zu haben, heute aber fühlte er sich wieder verloren. Einsam und vergessen und krank. Die Träume von Francis brachten ihn um.

»Nein«, sagte er wieder, leiser dieses Mal. »Es geht mir nicht gut. Ich träume ständig von Francis. Es ist nicht normal. Es ist, als ob ... als ob er in mir sei. Ich fühle ihn die ganze Zeit. Ich höre, wie er zu mir spricht. Manchmal denke ich sogar so, wie er gedacht hat.«

»Du könntest niemand Besseren in dir haben, Angel.«

»Ich weiß.« Er seufzte. »Gestern sagte er in meinem Traum zu mir >lebe für mich<.« Er schluckte schwer. »Wie könnte ich das tun - leben für einen Mann wie ihn? Er war so viel besser, als ich je sein werde.«

Sie beugte sich näher zu seinem Bett. »Du hast die zweite Chance bekommen, die er nie hatte, Angel. Nur du kannst entscheiden, was du damit anfangen wirst.«

»Oh, großartig. Jetzt lade mir noch ein bisschen Schuld auf.«

»Nicht Schuld. Hoffnung.«

Er griff nach der Patientenkarte, die neben seinem Bett lag. »Wie viel Hoffnung kann ich haben, wenn dies mein Leben ist?«

»Hör endlich auf, so melodramatisch zu sein. Diese Karte ist nicht dein Leben - darin steht nur, was du tun musst. Die Regel für dein neues Leben. Die Medikamente, die du einnehmen musst - täglich, wie ich hinzufügen möchte, wenn du den nächsten Sonnenaufgang erleben willst -, und die Lebensmittel, die du essen sollst. Die Übungen, mit denen du beginnen musst. Die Termine der Untersuchungen und Tests in den nächsten sechs Monaten. Ein ganz einfacher Terminplan. Normale Menschen folgen dem täglich.«

»Oh, ich kann's gar nicht erwarten.«

»Zu schade, dass du heute in so schlechter Stimmung bist. Ich habe nämlich eine Überraschung für dich. Da ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.«

»Wenn du mich wieder mit diesem verdammten Seelenklempner zusammenbringst, werde ich deine Terminpläne aus dem Fenster werfen.«

»Keine Psychiater, keine Physiotherapeuten, keine Krankenschwestern. Nur ein sechzehnjähriges Mädchen.«

Angel erstarrte. Er hörte das Dröhnen seines Herzschlages in den Ohren und dieses Geräusch löste Panik in ihm aus. Dann folgten Francis' Worte. Sei ihr Freund.

Er wollte es. Gott, er wollte es, aber er hatte Angst. Er war jemand, der alles versaute, aber dies war wichtig. Das war keine Sache, die man mal eben so einfach angehen konnte, bereit, beim ersten Anzeichen von Problemen davonzulaufen. »Ich kann das nicht, Mad. Ich bin nicht dazu geschaffen, Vater zu sein.«

Sie wollte etwas sagen, tat dann aber stattdessen etwas Seltsames. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf seine Brust. Er spürte die Wärme ihrer Berührung durch den dünnen Stoff seines Krankenhaushemdes, durch die Gazeschichten, die seine Narbe bedeckten. »Oh, Angel«, sagte sie und beugte sich näher, so nahe, dass er die silbernen Lichter in ihren grünen Augen sehen konnte, so nahe, dass er den feinen Duft ihres Haarsprays riechen konnte. »Du hast das in dir. Glaube mir.«

Er war von ihren Augen hypnotisiert. Er dachte verrückterweise, dass ihm ihr Blick irgendwie vertraut vorkam, aber das musste Jahre her sein. Er konnte sich einfach nicht erinnern ...

»Ich werd's versauen«, sagte er, versuchte, den Zauber zu brechen.

»Dann werde ich Hackfleisch aus dir machen.«

Er wusste, dass sie es diesmal ernst meinte, und er begriff plötzlich, welches Risiko sie einging. Sie liebte Lina und sie hatte Angst, dass Angel alles verderben und ihre Tochter verletzen würde. Er wusste auch, dass er das, wenn er das tat, niemals wieder gutmachen könnte. Niemals würde es eine zweite Chance geben.

»Ich will nicht, dass sie etwas von der Transplantation weiß -sie wird mich wie ein Monster behandeln.«

»Nein, das wird sie nicht. Aber es ist deine Entscheidung, wann - und ob - du ihr von der Operation erzählen willst.«

»Wie soll ich mich verhalten? Was soll ich tun?« »Sie liebte Francis wie einen Vater und sie leidet, weil er tot ist. Sie braucht jemanden, der ihr zuhört, dem wichtig ist, was sie denkt und fühlt. Das wäre schon einmal ein Anfang. Sei ihr Freund.«

Er lächelte sie nervös an. »Das ist das, was Franco ... gesagt haben würde.«

»Ja«, sagte sie und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie blickte ihn erwartungsvoll an und ihre Augen strahlten.

Sei ihr Freund.