Kapitel 26
Ich würde es >ein Verliebter< nennen.
Für eine Sekunde konnte Madelaine sich nicht bewegen, konnte nicht einmal atmen. Sie lag neben ihm, noch immer nackt, und der Bärenfellteppich unter ihrem Körper war feucht. Sie biss sich auf die Lippe, fürchtete plötzlich, dass sie Dinge sagen würde, die sie nicht sagen sollte, Worte, die, einmal ausgesprochen, nicht zurückgenommen werden konnten, niemals ungesagt sein konnten.
Sie wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken, aber sie kehrte wieder zu ihr zurück, schlich auf winzigen, flüsternden Füßen in ihren Verstand. All die Dinge, die sie jemals einander gesagt hatten, blähten sich zwischen ihnen auf, hingen über ihnen in der Luft. So viele ihrer Träume waren mit diesem Mann verknüpft gewesen und sie hatte Angst - solche Angst -, ihn wieder diese Macht über sich haben zu lassen. Und doch hatte er sie, hatte sie bereits.
Sie drehte sich zu ihm, um ihn anzusehen. Ihre Lippen geöffnet zu einer stummen Bitte, einer Einladung.
Er richtete sich vom Boden auf und streckte die Hände nach ihr aus. Sie sah, dass er sich langsam bewegte, als fürchte er, sie würde sich abwenden.
Sie blieb bewegungslos. Seine Hand streifte über ihren nackten Arm und löste eine Gänsehaut aus. »Angel...« Sein
Name kam ihr in einem atemlosen Flüstern des Sehnens über die Lippen.
Sie starrte in seine grünen Augen, hypnotisiert von den Möglichkeiten, die sie darin sah. Sie wusste mit solcher Gewissheit, wie sie noch nie in ihrem Leben etwas gewusst hatte, dass er nicht mehr der Junge war, der er mit siebzehn gewesen war. In seinen Augen war ein tiefer Schmerz, der neu war, eine Furcht und ein Bedauern, das sie verstand. Er war auf seine Art in diesem Augenblick ebenso verängstigt wie sie. Und dies zu sehen, seine Furcht und seine Unsicherheit, war wie das Streicheln eines warmen, tröstenden Windes ihrer eigenen Unsicherheit.
Dann küsste er sie, eine leichte, wehende Berührung von Lippen, die irgendwie tiefer in ihre Seele drang, als es jedes Liebesspiel vermochte. Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest. Nacheinander schienen die Jahre von Einsamkeit und Verlust von ihr zu fallen. Als er sich zurückzog, sah sie das gleiche dämmernde Gefühl von Staunen in seinen Augen, das ihr eigenes Herz erfüllte.
»Ach, Madelaine«, sagte er. Nur das und sonst nichts, und doch schien es alles zu sein.
Um zwanzig vor eins schaltete Lina den Fernseher aus und stand auf. Zum zehnten Mal in ebenso vielen Minuten warf sie einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Der rotbraune Truthahn aus Pappmache, den sie im Kindergarten gebastelt hatte, stand dicht daneben, eine jährliche Erinnerung daran, dass das Erntedankfest bevorstand.
Wo, zum Teufel, war Mom?
Sie verschränkte die Arme und ging in dem Zimmer auf und ab. Sie hatte alle Lichter in dem Raum eingeschaltet, aber noch immer schien es dunkel hier zu sein, ein wenig einsam. Es war das erste Mal, dass sie jemals so spät allein in ihrem Haus war. Wann immer Mom zum Noteinsatz im Krankenhaus gerufen wurde, kam Francis sofort herübergefahren, um Lina Gesellschaft zu leisten.
Der Gedanke erinnerte sie wieder daran, wie sehr sie Francis vermisste, und sie seufzte schwer. Sie ließ sich in den großen, schwer gepolsterten Sessel neben der Haustür fallen und blieb dort sitzen, wartete und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Holzboden.
Ihre Mutter hatte kein Recht, so spät noch aus zu sein -wusste sie nicht, dass Lina krank vor Sorge sein würde? Als Lina vorher mit Angel gesprochen hatte, sagte er, er wolle abends mit ihrer Mutter reden. Reden. Und wo waren sie?
Sie warf einen Blick auf das Telefon und überlegte, ob sie die Krankenhäuser anrufen sollte. Sie war schon im Begriff aufzustehen, besann sich dann aber anders. Es war lächerlich, sich solche Sorgen zu machen. Ihre Mutter war dreiunddreißig Jahre alt. Wenn sie wollte, konnte sie die ganze Nacht fortbleiben.
Aber das war untypisch für ihre Mom. Madelaine war viel zu verantwortungsbewusst, um so etwas zu tun.
Es war Angels Schuld.
Plötzlich dachte sie über Angel nach. Schließlich, was wussten sie denn schon wirklich über ihn? Er war wie ein Wirbelwind in ihr Leben gekommen, mit Lächeln und Versprechungen und Spaß. Aber er stand in einem schlechten Ruf - was, wenn er ihn verdient hatte, was, wenn er mit jeder Frau schlief und ihre Namen am nächsten Morgen vergessen hatte, was, wenn er in Wirklichkeit ein Massenmörder war und die Polizei wegschaute, weil er Angel DeMarco war, was, wenn ...
»Reiß dich zusammen, Lina«, sagte sie laut und versuchte, die Besorgnis zu verdrängen. »Mom geht's gut. Wahrscheinlich hat sie ihn dazu gebracht, mit fünfzig zu fahren und einen Sturzhelm zu tragen.«
Aber sie konnte selbst nicht glauben, was sie sich einzureden versuchte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie erinnerte sich an den Anruf, den sie mitten in der Nacht wegen Francis bekommen hatten, und ihr Herz fing an zu rasen. Sie schaute nervös zum Telefon. Ein solcher Anruf konnte jederzeit kommen, konnte wie ein Blitz ins Wohnzimmer einschlagen und einen brennend zurücklassen ...
Gerade jetzt brauchte sie Zach, jemand, mit dem sie reden konnte ...
Aus dem Augenwinkel sah sie draußen Scheinwerfer. »Gott sei Dank.«
Der Mercedes kam die Auffahrt hoch und hielt an. Die Scheinwerfer erloschen.
Sie saß da, die Arme verschränkt, starrte aus dem Fenster und wartete darauf, dass sie hereinkamen. Das taten sie nicht.
Schließlich stiegen sie aus dem Wagen aus und schlenderten gemächlich den Weg hoch. Das Schloss klickte und die Tür schwang auf. Mom und Angel traten in das Zimmer, hielten sich bei den Händen, schauten einander an, einen strahlenden, abwesenden Ausdruck in ihren Augen.
Lina fühlte sich plötzlich ausgeschlossen. Sie wollte, dass Angel sie so anschaute, nur sie. Sie wusste, dass sie dumm und egoistisch und kindisch war, aber es schmerzte. Gott, wie es schmerzte. Sie wollte einen Daddy, der ihr gehörte und nur ihr allein. Der ihr bester Freund auf der ganzen Welt war. Die Art, wie sie sich ansahen - als ob sie verliebt seien -, machte Lina wütend und sie fühlte sich innerlich leer. »Mom?«, flüsterte sie.
Sie wirkten überrascht - als ob sie nicht einmal bemerkt hätten, dass sie im Zimmer war - und ihre Missachtung machte sie noch wütender. Mom blinzelte und entzog Angel ihre Hand. »Hi, Baby«, sagte sie mit schläfriger Stimme. »Wir dachten, du seist schon im Bett. Du hättest nicht aufbleiben müssen.«
Die Worte waren wie Pfeile. Sie trafen tief. Sie hatten nicht einmal an Lina gedacht. Sie hatten sie völlig vergessen. Sie lachte bitter. »Ja, richtig. Als ob ich schlafen könnte, wenn du nicht da bist.« Sie schleuderte ihrer Mutter die Worte entgegen und spürte eine winzige Erregung, als sie zusammenzuckte.
Mom machte einen Schritt auf sie zu. Das Verstehen in ihren Augen machte den Schmerz nur schlimmer. »Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest, Liebes. Nichts kann unsere Gefühle für dich ändern.«
Lina wusste, dass es eine Lüge war. Wenn ihre Mutter Angel liebte, würde das alles ändern, und plötzlich wollte sie nicht, dass sich etwas änderte. Sie wollte ihr altes Leben wiederhaben, wollte Francis draußen auf dieser alten Verandaschaukel haben, wollte, dass Mom im Rosengarten werkelte. Sie wollte nicht, dass dieser dunkelhaarige Fremde zwischen ihnen stand.
Sie hatte das Gefühl, explodieren zu müssen, wusste aber nicht, warum. Es war, als ob all ihre Kleinmädchenträume zerbrechen würden. Sie starrte Angel an. »Du sagtest, du seist mein Freund.« Schmerz durchfuhr sie bei diesen Worten, erschütterte sie und machte sie wütend. Plötzlich wollte sie ihn verletzen, wollte sie beide ebenso verletzen, wie sie sie verletzten. »Du bist nicht mein Vater«, sagte sie mit kalter Stimme. »Du hast sein Herz, aber du bist nicht er.« Ihre Stimme brach und es machte sie wütend, dass sie diese Schwäche zeigte. »Du hast sein Herz nicht verdient.«
»Lina!«, sagte Mom barsch.
»Halt den Mund!«, zischte Lina.
Angel schaute plötzlich finster drein und die Art, wie sein Gesicht sich veränderte, war erschreckend. Er warf seinen Mantel auf das Sofa und traf dabei den Lampenschirm. Die Kristalllampe zerschellte auf dem Boden. »Wag es ja nicht, so mit deiner Mutter zu reden, junge Dame.«
Es brachte sie zum Lachen, dass er plötzlich versuchte, wie ihr Vater mit ihr zu reden. Aber er war nicht ihr Vater. Er war jetzt oben im Himmel und er hatte Lina nie so angesehen, hatte Lina niemals das Gefühl gegeben, in ihrem eigenen Haus eine Fremde zu sein. »Du bist nicht mein Vater.«
»Lina«, sagte Mom, »das kann nicht dein Ernst sein.«
»Du weißt nicht, was mein Ernst ist. Du kennst mich gar nicht. Ich hasse dich ... ich hasse euch.« Sie hörte, dass sie sie anschrie, und sie wusste, dass es ein Fehler war, aber sie schien nicht aufhören zu können. Ärger und Schmerz zerrissen sie innerlich.
»Geh auf dein Zimmer«, sagte Angel mit einer Stimme, die so gelassen und ruhig war, dass es Lina Schauer über das Rückgrat jagte. »Geh raus. Auf der Stelle.«
Tränen erstickten sie, brannten in ihren Augen. Sie wirbelte herum, wandte sich äb von dieser Liebesszene, wie man sie auf Weihnachtskarten fand, und wankte blindlings über den Korridor, rannte zu der Geborgenheit ihres Zimmers. Aber als sie dort war, hatte sie überhaupt nicht mehr das Gefühl, dass es ihr Zimmer war. Es wirkte fremd und beengend. Sie öffnete das Fenster und kletterte hinaus.
Sie riss ihr Fahrrad auf der Veranda an sich, schwang sich auf den harten Plastiksitz und fuhr schnell die Auffahrt hinunter, über den Bordstein und auf das Pflaster. Ärger trieb sie an, ließ sie in die Pedale treten, bis sie von dem Haus fortraste.
Als sie die Ecke erreicht hatte, hatte es zu regnen begonnen. Spärlicher, tröpfelnder Regen fiel auf sie und in glitzernden Tropfen auf ihren Lenker. Wind zerrte an ihrem Haar und stach ihr in die Augen.
Mit jedem Kilometer spürte sie, wie die Träume über ihren Vater, die sie sich ausgemalt hatte, von ihr glitten. Sie war eine Idiotin gewesen, an ihn zu glauben, zu glauben, dass irgendein Fremder in ihr Leben treten könne und ihr Daddy sei. Sie hätte es besser wissen müssen ...
Ich fürchte, er wird dir das Herz brechen.
Wieder hörte sie die Warnung ihrer Mutter und es gab ihr noch mehr das Gefühl, dumm und naiv zu sein. Lina wusste es besser - sie wusste, dass Träume nicht immer Wirklichkeit wurden. Hatte sie das nicht immer gewusst? Warum war sie nur so dumm gewesen?
An der Laurel Street erinnerte sie sich an die Samstagnacht-Partys, die eine Institution im Quilcene Park waren. Sie bog nach links ab und raste den Hügel hinunter. Zehn Minuten später bog sie um die letzte Ecke und sauste auf die Zufahrtsstraße des alten Parks. Ihre dünnen Reifen holperten über die Furchen in der Straße. Die Finger klammerten sich erstarrt um die Gummigriffe des Lenkers.
Sie hielt ihr Fahrrad am Rand des asphaltierten Parkplatzes an und sah sich um. Sie wartete atemlos darauf, dass jemand ihren Namen rief, ihr auf den Rücken klopfte und sie zu der Party willkommen hieß.
Aber niemand kam. Jugendliche drängten sich am Fluss und um das Feuer. Sie konnte das Gegacker und Gelächter und das leise Gesumme Dutzender Gespräche hören. Aber je näher sie zum Feuer kam, desto älter sahen die Jugendlichen aus. Sie hatte geglaubt, dies sei eine Party der Highschool, doch eine Gruppe von Jungen, die um das Feuer hingen, sah aus, als seien sie auf dem College - oder sollten es zumindest sein.
»Zach«, flüsterte sie und wollte, dass er in diesem Augenblick bei ihr wäre. Aber es war zu spät, bei ihm zu Hause anzurufen, und er würde auf einer solchen Party nicht sein.
Sie steckte die Hände tief in die Taschen, versuchte cool zu wirken, als ob sie dazugehörte, während sie an einer Gruppe Jugendlicher nach der anderen vorbeischlenderte, nach jemandem suchte, mit dem sie reden könnte.
Schließlich erreichte sie das Flussufer und stand da, schaute auf die wirbelnde Strömung. Der Ärger, den sie vorher empfunden hatte, verflog und ohne seine Hitze fühlte sie sich kalt. Ringsum lachten die Jugendlichen und sprachen und amüsierten sich, aber mit ihr hatte überhaupt niemand gesprochen. Es war, als sei sie ein Geist, unsichtbar und isoliert.
Sie hörte ein leises, trillerndes Lachen und es klang vertraut. Sie riss den Kopf in dem Augenblick hoch, als ein Mädchen und ein Junge an ihr vorbeispazierten. Linas Blick begegnete dem des Mädchens - Cara Milston. Es gab einen Moment betroffenen Wiedererkennens auf beiden Seiten. Vor langer Zeit - in den sieben ersten Schulklassen - waren sie die besten Freundinnen gewesen, aber jetzt trennten sie Welten. Gewöhnlich schauten sie sich nicht einmal an - der Cheerleader und das böse Mädchen.
Lina fühlte einen plötzlichen Schmerz von Verlust für das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie überlegte, wie es hätte sein können, wenn sie in der achten Klasse nicht die Freunde gewechselt hätte, wenn sie nicht damit angefangen hätte, vor der Schule unten am Fluss zu rauchen, wenn sie niemals diesen ersten brennenden Schluck Whiskey getrunken hätte, als sie vierzehn war.
Sie wollte das jetzt alles rückgängig machen, wollte Cara wiederhaben. Eine beste Freundin, mit der sie sprechen konnte.
Cara schenkte Lina ein kurzes, schnelles Lächeln und ging an ihr vorbei.
Lina seufzte schwer und ließ sich am Flussufer auf die Knie sinken. Sie spürte den kalten, weichen matschigen Lehm um sich, der sie bis auf die Knochen frösteln ließ, aber es war ihr egal.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich je so einsam gefühlt hatte. Alles an ihrem Leben war ein Witz. Niemand war jemals da, wenn es wirklich wichtig war. Selbst jetzt, mitten auf der besten Schulparty des Jahres, war sie allein. Vergessen.
Plötzlich wünschte sie sich, dass die Dinge anders wären. Sie wollte nicht wütend auf ihre Mutter sein, wollte nicht diese heftigen Wutausbrüche haben, die ihr so natürlich wie das Atmen erschienen. Sie wollte sich mit ihrer Mom und ihrem Daddy hinsetzen und ihnen sagen können, dass sie sie liebte.
Aber sie hatte sich ausgeschlossen gefühlt, als sie heimkamen, beiseite geschoben. Und so hatte sie natürlich, statt wie eine Erwachsene mit ihnen zu reden, einen Wutanfall bekommen und war fortgelaufen.
Der Traum von dem, was sie gewollt hatte - einen Daddy -, schien so weit weg, der Gutenachtwunsch eines kleinen Mädchens. Alles, was sie jetzt wollte, war, ihn zu lieben und umgekehrt geliebt zu werden - geliebt so, wie sie war. Und das bedeutete, dass sie Angel so lieben musste, wie er war ...
Er war nicht Francis und würde es niemals sein. Francis hatte Lina auf seine ruhige, zärtliche Art geliebt. Angels Art würde anders sein. Er war wie sie - laut und rebellisch und hitzköpfig. Die Dinge würden mit Angel anders sein als das, was sie gewollt hatte... aber hatte sie wirklich gewusst, was sie wollte?
»Nein«, flüsterte sie in die Nacht. Bis jetzt, bis zu dieser Minute hatte sie das nicht gewusst. Sie wollte, dass sie eine Familie waren - sie alle zusammen. Und eine Familie gab es nun einmal nicht über Nacht. Eine Familie konnte es ohne Wutausbrüche und verletzte Gefühle und Entschuldigungen nicht geben.
Heiße Tränen drangen unter ihren Lidern hervor und rollten ihr über die Wangen, vermischten sich mit den kalten Regentropfen und fielen auf ihre lehmverschmierte Hose. Sie war es leid, wegzulaufen und ständig wütend zu sein, müde, das Gefühl zu haben, nirgendwohin zu gehören. Sie dachte an zu Hause - an den perfekten Hof, der wie aus dem Bilderbuch war, an den Rosengarten ihrer Mutter und an die Verandaschaukel, die Francis ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte -und ein Sehnen erfüllte ihr Herz.
Eine Familie, das wusste sie, bedeutete heimzugehen.
Angel schlug die Schlafzimmertür zu. »Da ist sie nicht.«
Er drehte sich um, starrte Madelaine an. Sein Mund öffnete sich zu Worten, die nicht kommen wollten.
Sie stand im Wohnzimmer, lächelte nicht, reglos. Die Farbe, die ihre Wangen vorher gerötet hatte, war einer kalkigen Blässe gewichen. Sie kaute auf der Unterlippe und blickte besorgt auf die Haustür.
»Hast du gehört? Sie ist nicht da. Wir müssen die Polizei anrufen oder sonst was.« Er wusste, dass er schrie, aber er konnte sich nicht beherrschen. Panik erfüllte mit Eiseskälte sein Blut. Er rannte zur Haustür und riss sie auf.
Alles, was er draußen sah, war Dunkelheit. Ein sanfter Regen hatte zu fallen begonnen, schlug auf den Zufahrtsweg, klopfte auf das Dach über seinem Kopf. Sie war irgendwo da draußen, allein inmitten all dieser Schwärze, allein und wütend und verletzt.
Was, zum Teufel, war passiert? Was hatte er denn so falsch gemacht?
Madelaine trat neben ihn. Er konnte durch seine heftigen, kurzen Atemzüge das leise Tappen ihrer Schritte hören. Sie berührte sanft seinen Arm und er spürte, dass sie versuchte, ihn zu trösten, aber er wollte keinen Trost.
»Ich wusste es nicht«, flüsterte er. Bedauern war ein bitterer Geschmack in seinem Mund. Er begriff plötzlich, wie leicht er alles genommen hatte, wie unbekümmert er die Bürden einer Vaterschaft akzeptiert hatte.
»Was wusstest du nicht?«
Er hörte die Zärtlichkeit in ihrer Frage und dadurch fühlte er sich noch schlimmer. Er wandte sich zu ihr und für eine Sekunde, als er in ihre besorgten Augen schaute, konnte er nicht atmen. Er konnte nicht Linas Vater oder Madelaines Geliebter sein ... Vor allem aber konnte er nicht sein, was Francis für sie gewesen war.
Francis.
Sein Bruder hätte gewusst, was jetzt das Richtige war, was zu tun war, zu sagen war, wie man alles in Ordnung brachte. Er warf den Kopf zurück und schloss die Augen zum Gebet. Was mache ich jetzt, Francis?
Die Frage brannte ihn aus. Langsam wandte er sich wieder Madelaine zu, und was er in ihren Augen sah, beschämte ihn bis auf den Grund der Seele. Sie sorgte sich um ihn, sogar jetzt. Er konnte es sehen, es fühlen, und obwohl er sie in die Arme nehmen und ihre Wärme spüren wollte, verdiente er es nicht. »Ich wusste nicht, was es bedeutet, ein Vater zu sein. Ich dachte, ich könnte einfach mit ihr zusammen sein und ihr Freund sein. Ich dachte, sie würde mich bedingungslos lieben und niemals um etwas bitten, was ich nicht geben kann.« In dem Augenblick, als er die Worte sagte, hörte er, wie hohl und egoistisch sie waren. Er schloss die Augen und schwieg, angewidert von sich selbst. »Ich wusste nicht, dass es so schwer sein würde. Wie hast du das all diese Jahre allein schaffen können?«
Sie berührte ihn, legte ihre warme Hand auf seine kalte, feuchte Wange. »Ich hätte dir sagen sollen, was Elternschaft bedeutet.«
Er riss die Augen auf und Ärger erfüllte ihn wieder. »Es geht nicht um dich, Madelaine. Zieh dir diesen Schuh nicht an, dass du etwas hättest tun sollen. Ich hab's versaut. Ich. Ich hätte nicht sagen sollen, dass ich ihr Daddy sein würde - ich bin diese Verpflichtung eingegangen, als ob es so unwichtig sei wie die Entscheidung, welchen Mantel man anzieht. Ich hatte nicht nachgedacht.«
Sie zog ihre Hand zurück. »Und was willst du nun tun? Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, vor Dingen wie diesen davonzulaufen, Angel. Willst du nun wieder davonlaufen - wieder deine Furcht mit einer Flasche Tequila bekämpfen, bis du vergessen hast, wie sehr es schmerzt?«
Die Worte trafen ihn wie Schläge. Er zuckte zusammen. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist nicht genug. Sie wird wiederkommen - wenn sie sich wie üblich verhält, wird sie in etwa einer Stunde zurück sein und dann wird sie so wütend wie eine Hornisse sein. Was willst du ihr dann sagen? Hallo oder Lebewohl?«
Er schüttelte seinen Kopf. »Tu mir das nicht an, Mad. Ich bin nicht stark genug ...«
Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Wage es ja nicht, mir das zu sagen. Dieses Mal nicht. Niemand ist stark genug, Vater oder Mutter zu sein. Wir tun es einfach blindlings, kommen mit Glaube und Liebe und Hoffnung weiter. Das ist alles, Angel. Angst zu haben, Angst zu haben bis tief ins Mark und weiterzumachen.«
Er beruhigte sich. Ein Fünkchen Hoffnung glomm in seinem Herzen auf. »Du hast Angst um sie?«
Sie gab ein schnaufendes Geräusch von sich, das fast ein Lachen war. »Ich habe Angst seit dem Augenblick, als man sie mir in die Arme legte. Jedes Mal, wenn sie zur Schule oder zum Haus einer Freundin oder zu einer Verabredung geht. Ich habe Angst. Ich habe Angst davor, was die Welt meinem wunderschönen kleinen Mädchen antun wird, Angst davor, was ich ihr antun werde. Es geht nie vorbei, niemals. Man lebt einfach damit und liebt sie und ist für sie da.«
Er stieß seinen Atem mit einem langen, zitternden Seufzer aus. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Sie löste sich von ihm. »Das kannst nur du allein entscheiden, Angel. Nur du allein.«