Kapitel 10

Ladendiebstahl.

Der Telefonhörer glitt aus Madelaines Hand und fiel scheppernd auf den Boden. Sie wankte und griff haltsuchend nach der Platte des Arbeitstisches in der Küche. Sie atmete tief ein, dann nochmals und nochmals. Ihre Schultern bewegten sich Zentimeter um Zentimeter zurück. Die in langen Jahren erlernte Beherrschung von Gefühlen wirkte. Hör auf zu schmollen, Mädchen. Tränen machen es auch nicht besser.

Sie hörte die dröhnende Stimme ihres Vaters, als ob er bei ihr im Zimmer wäre. Kopf hoch, benimm dich wie eine Hillyard und nicht wie ein ängstliches, dummes Kaninchen. Himmel auch, du bringst mich in Verlegenheit, Mädchen.

Madelaine schauderte bei der Erinnerung und verdrängte sie.

»Nimm deine Handtasche, Madelaine.« Sie sagte das laut zu dem leeren Raum. Sie bückte sich hölzern und hob den Telefonhörer auf, legte ihn mit übertriebener Ruhe auf die Gabel. Dann nahm sie ihre Handtasche von der Arbeitsplatte, hängte sie über ihre Schulter und begab sich zur Haustür.

In dem Moment, als sie nach dem Türknopf griff, klopfte es. Die Tür schwang auf, während Madelaine stolpernd stehen blieb.

Francis stand in der Tür. »Hi, Maddy.«

Sie bemerkte, dass er nicht lächelte - eigenartig, aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, konnte sich darüber keine Gedanken machen. »Hallo, Francis«, antwortete sie automatisch. Sie wartete darauf, dass er sich bewegte oder etwas sagte, aber das tat er nicht. Sie blinzelte ihn verwirrt an. »Waren wir zum Essen verabredet?«

»Nein. Ich fahre heute Abend nach Portland. Ich werde erst in ein paar Wochen zurückkommen. Es ... es gibt da etwas, worüber ich mit dir sprechen wollte ... Ich habe An...«

»Ach ja. Portland. Ich wünsch dir eine gute Reise.« Sie schenkte ihm ein besorgtes Lächeln und wartete darauf, dass er ging. Als er das nicht tat, sagte sie: »Ich muss jetzt gehen ... in die Stadt.«

»Maddy? Ich versuche, dir etwas Wichtiges zu sagen.« Er trat näher zu ihr, schaute besorgt auf sie hinab. »Was ist los, Maddy-Mädchen ?«

Seine Sanftheit brachte sie dazu, weinen zu wollen. Es machte sie traurig, dass sie sogar jetzt, sogar bei Francis, so große Schwierigkeiten hatte, über ihre Probleme zu sprechen. »Es geht um Lina. Sie ist...« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Sie ist wegen Ladendiebstahls verhaftet worden.«

»Oh, mein Gott. Es ist meine Schuld.«

»Was?«

»Komm. Ich fahre dich zur Polizeiwache.« Er legte seinen Arm um ihre Hüfte und führte sie aus dem Haus.

Sie schlug die Tür hinter sich zu und ließ sich von ihm fortziehen, von ihm wieder helfen. Aber als sie die Garage erreicht hatten, wusste sie, dass es falsch war. Sie hatte zu viele Augenblicke wie diese mit Lina weggegeben, hatte Francis zu viele Male die schmerzlichen Momente ihres Lebens tragen lassen. Sie musste das alleine durchstehen und als Mutter so stark sein, wie sie als Ärztin war.

Sie blieb stehen.

Francis wandte sich zu ihr. »Maddy?«

»Ich muss dies allein machen, Francis. Ich bin ihre Mutter.«

Er trat schnell einen Schritt zurück. »Ich habe die Nummer in Portland auf deinen Anrufbeantworter gesprochen.«

Sie trat zu ihm, steckte zärtlich eine Haarlocke hinter sein Ohr. »Ich werde dich heute Abend anrufen und dich wissen lassen, wie es gelaufen ist.«

»Wirst du das?« Er sah sie noch immer nicht an und seine Stimme klang seltsam angespannt.

Sie berührte seine Wange, zwang ihn, sie anzusehen. Als ihre Blicke sich trafen, sah sie den Schimmer von Tränen in seinen Augen, und es verwirrte sie. Er wirkte verletzt. »Francis?«

Er starrte sie einen Herzschlag lang an, kniff dann die Augen zu und schüttelte den Kopf. »Lina war heute bei mir. Ich habe sie hängen lassen.«

»Oh, Francis...« Sie versuchte zu lächeln. »Ich habe sie hängen lassen, Francis. Ich.«

»Nein. Du ziehst dir wie gewöhnlich jeden Schuh an, Maddy. Aber dieses Mal trage ich etwas Mitschuld.«

Sie zögerte. »Vielleicht solltest du mich doch begleiten, Francis...«

»Nein, sie ist deine Tochter und du musst damit fertig werden. Außerdem muss ich mich auf den Weg machen. Vier verheiratete Paare brauchen den Rat, den ihnen nur ihr zölibatärer Priester geben kann.« Er lächelte matt und schüttelte über die Ironie den Kopf.

Sie wollte mehr sagen, wusste aber nicht, welche Worte er brauchte, wusste nicht, wie sie diesen Augenblick zu dem machen könnte, den er wollte. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, er sei ein Fremder. »Fahr vorsichtig«, sagte sie, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

»Tu ich das nicht immer?«

Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf die verbeulte Seite seines Käfers.

Er grinste sie an. »Ich gehe, bevor du dich über meine Fahrweise auslässt. Leb wohl.«

Sie schaute zu, wie er in den verbeulten alten Volkswagen stieg, sich dabei zusammenfaltete und losfuhr. Der Wagen stotterte die schmale Straße hinunter, bog dann um die Ecke und verschwand. Und sie war wieder allein.

Sie starrte auf die leere Straße und seufzte. Francis, ihr Francis, der seine Gefühle immer offen zeigte, dessen Seele in seinen Augen zu lesen war, Francis, der sie alle so sehr liebte und nur Teil ihres Lebens sein wollte, er hatte nichts weiter gewollt, als zu helfen. Sie vergaß manchmal, wie leicht er verletzt werden konnte.

Bedauern überkam sie. Wieder einmal hatte sie die falsche Wahl getroffen, zur falschen Zeit das Falsche gesagt.

Aber sie würde das wieder gutmachen.

Wenn Francis von seiner Reise zurückkam, würde sie wieder gutmachen, dass sie ihn heute verletzt hatte.

 

Im Jugendgericht herrschte Betrieb wie in einem Bienenstock. Gequält wirkende Männer und Frauen liefen wie Ameisen über den Fliesenboden hin und her, sprachen und gestikulierten. Braune Vinylstühle, die meisten davon leer, säumten die Wände. Aber auf einigen saßen Erwachsene, die ebenso nervös wirkten, wie Madelaine sich fühlte. In der Mitte von all dem saß eine weißhaarige Frau an einem riesigen Schreibtisch, bediente das Telefon und dirigierte den Verkehr mit einem Kopfnicken oder einem Schnippen ihres Zeigefingers.

Madelaine fühlte sich von allen Seiten beobachtet, als sie die betriebsame Lobby durchquerte und zu dem Schreibtisch ging.

Die Frau mit dem dicken Doppelkinn blickte zu ihr auf. »Hallo.«

Sie musste ihre Stimme heben, um durch den Lärm verstanden zu werden. »Ich bin hier, um meine Tochter abzuholen. Lina Hillyard.«

Die Empfangsdame blätterte in ihren Papieren. »Oh. Ladendiebin. John Spencer ist der Sozialarbeiter, dem ihr Fall übertragen worden ist. Sie finden ihn in Zimmer hundertacht, den Gang runter, dann die zweite Tür rechts.«

Madelaine bewegte sich durch den bevölkerten Korridor, ohne zu jemand Blickkontakt aufzunehmen. Ihre Handtasche hielt sie fest an ihre Seite gepresst. Als sie schließlich Zimmer 108 erreicht hatte, wütete ein schrecklicher Schmerz in ihrem Magen, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

Sie blieb vor der geöffneten Tür des Zimmers stehen. Drinnen saß ein junger Afroamerikaner an einem wuchtigen Metallschreibtisch in einem Büro mit braunen Wänden. Drei Tassen offensichtlich kalten Kaffees standen in exakter Linie an der oberen rechten Schreibtischkante aufgereiht. Er blickte auf, als sie eintrat. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin Doktor Madelaine Hillyard. Linas Mutter.«

Er nickte und suchte in dem Stapel von Akten auf seinem Schreibtisch, zog dann vorsichtig eine heraus. Er wies auf einen Stuhl und schlug die Akte auf. »Nehmen Sie bitte Platz, Doktor Hillyard.«

Madelaine ging zu dem kleinen schwarzen Metallstuhl und hockte sich nervös auf die Vorderkante der Sitzfläche.

Nach einem Moment blickte er von der Akte auf und lächelte sie an. »Ihre Tochter ist eine richtige Giftspritze.«

»Ja.«

»Der Ladendetektiv von Savemore Drugs erwischte sie beim Ladendiebstahl. Make-up. Hat sie auch auf dem Überwachungsvideo festgehalten. Wollen Sie's sehen?«

Madelaine wünschte sich, dass es nötig wäre, aber sie wusste, dass Lina das getan hatte - und sie wusste warum. Es war Linas Art, sich an einer Mutter zu rächen, die einen Anruf nicht tätigen wollte.

»Nein.«

»Gut. Manche Eltern können einfach nicht glauben, dass ihre wundervollen Kinder etwas Falsches tun.« Er schob seinen Sessel vom Schreibtisch zurück und stand auf. »Ich mache Ihnen folgendes Angebot. Es ist ein Erstdelikt und der Laden ist bereit, zu ignorieren, was sie getan hat.«

Madelaine sank vor Erleichterung fast zusammen. Doch bevor sie in dem Gefühl versinken konnte, fuhr Spencer fort: »Aber das nützt Ihrer Tochter einen Scheiß - entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Sie muss sich über die Konsequenzen dessen, was sie getan hat, im Klaren sein.«

Er sah Madelaine direkt an. »Sie ist verängstigt - das sind sie alle beim ersten Mal -, aber von jetzt an liegt's bei Ihnen.«

Sie wollte fragen, was sie tun sollte, um Hilfe bitten, wusste aber nicht wie. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie hatte Dutzende von Büchern über Erziehung gelesen und in allen stand, sie solle vernünftig mit Lina reden, sie solle ihrer Tochter Alternativen anbieten und sie lehren, Entscheidungen zu treffen. Es war ein guter Rat. Das wusste Madelaine. Aber es funktionierte nicht, bei ihr nicht und bei Lina ohnehin nicht. Der einzige andere Weg, den sie kannte, war der Weg, den ihr Vater gewählt hatte.

»Ich arbeite hier schon ziemlich lange, Doktor Hillyard. Ihre Tochter steht kurz vor echten Problemen.« Spencer trat näher und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz. »Dies ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Der nächste Schrei wird vielleicht nicht so leicht zu lösen sein. Die Selbstmordrate unter Teenagern, die Probleme haben ...«

Madelaine keuchte und löste den Blickkontakt, starrte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. Selbstmord. Ein Frösteln erfüllte sie.

»Hat sie das schon mal gemacht?« Das war die Frage, die sie stellte. Die Worte, die sie formulierte. Aber was sie wirklich wissen wollte, wissen musste, war: Wie viele Schreie habe ich nicht gehört?

»Sie ist sehr entschlossen vorgegangen. Scheint mir, als hätte sie's schon vorher getan.«

Madelaine schloss ihre Augen. Natürlich hatte Lina es schon vorher getan. Wenn Lina die Tochter von irgendjemand anderem wäre, hätte Madelaine die Alarmzeichen längst schon bemerkt - unzufriedener Teenager, verärgert und rebellisch, suchte nach Aufmerksamkeit.

Das alles passte auf Lina. Alles. Dieses neue Interesse an Heavy-Metal-Musik. Diese Verrücktheit, sich Ohrlöcher stechen zu lassen. Die Schulschwänzerei. Die Kleidung. Das Verhalten. Lina war ein Teenager, der Probleme hatte. Und Ladendiebstahl war - ob sie's wusste oder nicht - ein Hilfeschrei. Madelaine musste stark genug sein, um auf diesen Schrei zu reagieren.

»Doktor Hillyard?«

Sie hob langsam ihr Kinn und sah den Sozialarbeiter an. »Ich will ihr helfen, Mr Spencer, aber...« Die Worte schienen sie nach unten zu ziehen und es machte sie traurig, dass sie Angst davor hatte. Wie konnte eine so hoch geschätzte Ärztin Fremden gegenüber so stark sein und so schwach bei ihrem eigenen Kind? Sie spürte, dass Tränen der Scham und der Niederlage in ihren Augen brannten.

»Ich habe selbst eine sechzehnjährige Tochter, Doktor Hillyard. Man kann sie mehr als sein eigenes Leben lieben und ihnen alles geben, was man hat. Aber ...« Er zuckte die Schultern. »Dabei kommt Scheiße raus. Passiert eben.«

»Ich ... hätte sie besser erziehen sollen ... hätte öfter da sein müssen...«

»Es geht nicht um die Schuldfrage, Doktor Hillyard. Sie sind Mutter, sie ist ein Teenager - glauben Sie mir, man kann jede Menge Schuldzuweisungen machen. Aber worauf Sie sich jetzt konzentrieren müssen, ist Veränderung.«

Sie riss sich zusammen. »Wie mache ich das?«

»Das ist die große Preisfrage. Ich mache das mit Ehrlichkeit und Konsequenz.« Er lächelte. Seine Augen zwinkerten. »Und wenn das nicht funktioniert - nehmen Sie ihr den Fernseher weg, geben Sie ihr Stubenarrest und verbieten Sie ihr, das Telefon zu benutzen.«

Madelaine blickte überrascht auf. Das war nicht der Ratschlag, den sie erwartet hatte. Sie dachte an ihre eigene Kindheit, an dunkle, erschreckende Bilder der »Disziplin« ihres Vaters, und spürte Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen. »Das funktioniert? In allen Büchern steht...«

Er wies die Expertenmeinungen mit einer Handbewegung weit von sich. »Die Bücher sind in Ordnung, denke ich, aber es gibt Zeiten, in denen Reden überhaupt nicht mehr hilft. Ein Kind braucht ganz klare und einfache Regeln. Ach ja - und ich würde sie auffordern, sich beim Geschäftsführer des Drugstore zu entschuldigen.« Er stand auf. »So, Doktor Hillyard. Wie wär's, wenn wir Ihre Tochter aus der Arrestzelle holen?«

Lina lag zusammengekauert auf der schmalen, stinkenden Pritsche. Sie hatte die Knie an die Brust gezogen. Die Tränen, die sie geweint hatte, waren schon längst auf ihren Wangen getrocknet.

An diesem düsteren Ort gab es überall Geräusche - das Klirren von Gittertüren, die geöffnet und geschlossen wurden, die mürrischen Stimmen und schrillen Schreie von jugendlichen Bandenmitgliedern, das schwere Stapfen von Schritten auf dem Steinboden. Jedes Geräusch bewirkte, dass sie sich auf dem schmutzigen Bett noch mehr zusammenkauerte.

Dieser Ort wird dir wie ein Kinderspiel vorkommen, junge Dame, wenn man dich erst einmal in den Knast geschickt hat.

Die Worte des Sozialarbeiters fielen Lina wieder ein, machten ihr wieder Angst. Sie musste ständig an ihr Bett daheim denken - groß und frisch duftend und mit Laura-Ashley-Bettwäsche bezogen.

»Ich liebe Schinken und Käse-Omeletts«, flüsterte sie, spürte, dass wieder Tränen aufstiegen, ihr die Kehle zuschnürten und in ihren Augen brannten.

Was hatte sie dazu gebracht, sich so gemein gegenüber ihrer Mutter zu verhalten? Lina wusste, wie sehr sich ihre Mutter bemühte, ihr zu gefallen - sie hatte die weite Trainingshose bemerkt, das Fehlen von Make-up, das viel zu breite Lächeln, das die tiefe Verzweiflung in den Augen ihrer Mutter kaschieren sollte.

Ja, sie wusste, dass ihre Mom sie liebte, wusste, dass sie für sie, Lina, nur das Beste wollte. Warum also konnte sie es ihr nicht leichter machen? Warum wachte sie wütend auf und blieb den ganzen Tag über wütend? Manchmal wusste sie, warum sie verrückt war, aber viel häufiger nicht. Sie fand keinen Grund dafür. Sie war einfach nicht glücklich. An manchen Morgen fühlte sie sich dick, am nächsten Tag glaubte sie, dürr zu sein. Und die halbe Zeit hatte sie das Gefühl, völlig grundlos zu weinen.

Sie wollte, dass alles so war, wie es einmal gewesen war. Sie wollte sich nicht die ganze Zeit so hässlich und verloren fühlen. Sie wollte irgendwohin gehören.

Sie wusste, dass sie eine Enttäuschung für ihre perfekte Mutter war - Madelaine, das Wunderkind, das ihr Highschool-Diplom gemacht hatte, bevor sie fünfzehn war. Die heilige Madelaine, bei der jedes Haar korrekt saß, die während ihres Medizinstudiums eine Tochter allein großgezogen hatte, die nie die Beherrschung verlor oder weinte oder jemand um Hilfe bat.

»Ich werde nie wieder stehlen, lieber Gott«, flüsterte sie gebrochen und presste die Augen zu, um eine neue Welle von Tränen zu unterdrücken.

Plötzlich rappelte die Tür ihres Schlafraumes. Schlüssel rasselten im Schloss, klickten schnappend, und dann öffnete sich die Tür quietschend.

»Hillyard, aufstehen.«

Lina drehte sich zur Tür und sprang auf. Ihr Herz schlug, weil sie von plötzlicher Angst erfüllt war. »Wohin komme ich?«

Die dicke, polyesterbekleidete Frau verzog keine Miene. »Sehe ich wie eine Reiseführerin aus?« Sie neigte ihren Kopf Richtung Korridor. »Beweg dich.«

Lina riss sich zusammen und ging an der Frau vorbei. Langsam bewegte sie sich über den Gang, hielt den Blick gesenkt.

Schließlich erreichten sie eine weitere verschlossene Tür. Die Frau drückte einen Knopf an der Gegensprechanlage und sagte mit lauter, dröhnender Stimme: »Hillyard!«

Die Tür schwang auf.

Lina zögerte eine Sekunde. Die Frau gab ihr einen Schubs und Lina stolperte vorwärts. Das erste Gesicht, das sie sah, war das von John Spencer. Das zweite das ihrer Mutter.

Sie starrte ihre Mom an, sah die Traurigkeit in den Augen ihrer Mutter, die Enttäuschung, die ihre Lippen kräuselte, und spürte ein schmerzliches Gefühl von Schuld. Sie wollte einen Schritt vorwärts machen, sich in die Arme ihrer Mom werfen und von ihr umarmt, getröstet und gehalten werden, aber sie schien sich nicht bewegen zu können.

»Lina«, sagte Mr Spencer, »deine Mutter ist bereit, dich nach Hause zu bringen - nachdem du dich bei dem Geschäftsführer von Savemore Drugs entschuldigt hast.« Er ließ ihren Rucksack auf den Tisch neben sich fallen. Er schlug dumpf auf.

Lina schluckte schwer. »Okay.« Das Wort kam quiekend heraus.

Spencer trat ganz nahe zu ihr. Sein Schatten fiel auf Linas Gesicht. »Du hast eine Stunde im Arrest verbracht, kleines Mädchen. Glaube mir, du wirst dort nicht mehr Zeit verbringen wollen.«

Sie hatte solche Angst, dass sie nur nicken konnte.

»Ich werde mit deiner Mom in Verbindung bleiben, und wenn du mehr Ärger machst...« Er ließ die Drohung im Raum stehen. »Hast du mich verstanden?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Ja, was?«, fragte er mit dröhnender Stimme.

»J... ja, Sir.«

»Gut.« Er wandte sich an Madelaine. »Ich erlaube Ihnen, das minderjährige Kind jetzt nach Hause zu bringen, Doktor Hillyard. Aber ich werde einmal wöchentlich anrufen. Ich nehme an, dass dies das letzte Vergehen ist, von dem ich höre.«

Madelaine nickte. »Danke, Mr Spencer.«

Darauf verließ Spencer den Raum und Lina war mit ihrer Mom allein. Sie standen eine Minute da und starrten einander an.

Lina überlegte, was sie sagen sollte, wie sie es sagen sollte. »Es ... es tut mir Leid, Mom.«

Eine unerträglich lange Zeit verging, bevor ihre Mutter antwortete. Sie wirkte verwirrt, ebenso erschreckt, wie Lina sich fühlte. »Es tut mir auch Leid.« Sie machte einen zögernden Schritt vorwärts, streckte eine kleine Hand aus.

Es war nicht genug, nur diese Hand auszustrecken. Lina wollte von den Armen ihrer Mutter umschlungen sein, aber sie wusste nicht, wie sie darum bitten sollte, und sie hatte Angst, sich zum Narren zu machen.

Madelaine hielt inne. Ihre Hand fiel langsam herab. »Ich denke, wir gehen besser nach Hause und sprechen mal ernst miteinander.«

Lina starrte ihre Mutter an, fühlte sich ihr ferner denn je, noch einsamer. Die Tränen waren so nahe, dass sie ihren Kopf abwenden musste. Sie starrte mit brennenden Augen auf den Boden. »Ja, sicher. Was du willst.«

 

Madelaine wusste, dass Lina Angst hatte, aber sie musste endlich einmal Mutter sein, nicht Freundin. Sie musste den Ton angeben, und das entschlossen, und wenn sie scheiterte -wieder einmal -, würde sie ihre Tochter verletzen.

»Nimm deine Sachen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Wir fahren heim.«

Seite an Seite, in fast unerträglichem Schweigen, verließen sie das Gebäude. Spätes Nachmittagssonnenlicht, durch die Jahreszeit zu einem kühlen Gold geschwächt, fiel auf ihre Gesichter. Noch immer schweigend, stiegen sie in den Volvo und fuhren zu dem Drugstore. Madelaine schaute von weitem zu, als Lina sich bei dem Geschäftsführer dafür entschuldigte, das Mascara gestohlen zu haben, und als Lina sich schließlich abwandte, sah Madelaine die Tränen, die in den Augen ihres Kindes schwammen.

Gott, wie sehr es schmerzte, die Qual ihrer Tochter zu sehen. In diesem Augenblick wollte Madelaine Lina in ihre Arme nehmen, sie halten und trösten, aber sie bot all ihre Willenskraft auf und rührte sich nicht. Ihre Augen blieben trocken. Dann führte sie Lina wortlos zum Wagen zurück und sie fuhren nach Hause.

Als sie das Haus erreichten, waren Madelaines Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wusste, es war eine Sache zu beschließen, Regeln durchzusetzen - aber es war eine ganz andere, ihre Tochter anzusehen, die sie mehr liebte als ihr eigenes Leben, und nein zu sagen. Und wirklich nein zu meinen.

Sie stellte den Motor ab und ergriff ihre Handtasche. Lina sprang aus dem Wagen und eilte auf das Haus zu, verschwand darin.

Als Madelaine in das Haus trat, war Lina bereits am Telefon. Die Stimme ihrer Tochter war laut, ein lebhaftes Geschwätz, unterbrochen von schallendem Gelächter.

»Und dann haben sie mich in diesen kleinen Raum eingesperrt... Ja, war irgendwie cool. Genau wie das, was Brittany Levin passiert ist...«

Madelaine starrte ihre Tochter ungläubig an. Es war einer dieser Augenblicke im Leben, in denen Gedanken eine kristallklare Form annehmen, winzige Herzschläge von Zeit, nach denen man verändert ist, wenn sie vorbeigegangen sind. Lina hatte diese schreckliche Zeit im Jugendarrest durchgemacht, sie war verängstigt gewesen und ganz kleinlaut, zurückhaltend. Doch jetzt verflogen diese Gefühle, schwanden auf der Welle der Entfernung, die zwischen dem Jetzt und der Arrestzelle lag.

Und sie rechnete damit, dass Madelaine die Erinnerung daran verdrängen würde, rechnete damit, dass ihre Mutter eine Phantasiewelt erschaffen würde, in der dieser Ladendiebstahl nie stattgefunden hatte.

Madelaine empfand heftigen Ärger. Er kam so schnell und plötzlich, dass es sie überraschte. Lina war sicher, dass Madelaine die ganze blöde Geschichte unter den Teppich kehren wollte, dass der Diebstahl nur eine von so unendlich vielen anderen Dingen sein würde, über die Madelaine Angst hatte, zu sprechen.

Diesmal nicht.

Madelaine hob ihr Kinn und durchquerte die Küche. Sie nahm wortlos den Telefonhörer aus der Hand ihrer Tochter und knallte ihn auf die Gabel.

»Wa... wie?«, stammelte Lina, stemmte ihre Hände in die Hüften und funkelte ihre Mutter wütend an. »Nett, Mom. Jetzt muss ich Jack zurückrufen.«

Madelaine blieb eisern. »Nein, das wirst du nicht«, sagte sie gleichmütig. »Du wirst nicht mehr telefonieren.« Sie streckte ihre Hand zu Lina aus, die Handfläche nach oben. »Das Fahrradschloss. Sofort.«

Lina starrte ihre Mutter schockiert an. »Du machst wohl Witze.«

»Sehe ich so aus?«

Lina runzelte plötzlich die Stirn. Sie trat einen Schritt zurück. »He, Mom, nun hör mal...«

»Gib mir das Schloss und die Schlüssel.«

Sie angelte sie aus ihrem Rucksack und warf sie Madelaine zu. »Schön. Jett kann mich zur Schule fahren.«

Madelaine schüttelte ihren Kopf. »Ich werde dich jeden Morgen zur Schule bringen und abholen. Ohne meine Erlaubnis wirst du nirgendwohin gehen - nirgendwobin.«

Lina stieß ein bellendes Lachen aus. »Ja, in Ordnung. Frau Niemals-daheim wird mein Leben regulieren.«

»Ich kann's einrichten, daheim zu sein, Lina. Ich kann mich von der Arbeit für ein Jahr beurlauben lassen und die ganze Zeit daheim sein. Willst du das?«

»Ich will meinen Vater«, schrie sie zurück.

Madelaine hätte es wissen müssen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lina den unglaublichen, unbekannten Vater benutzte, um ihre Mutter zu verletzen - aber es schmerzte dennoch. »Lass uns über ihn reden, Lina. Das willst du doch, richtig? Du willst alles über deinen Vater wissen. Na schön. Dein Vater war ein rücksichtsloser, zorniger junger Mann, der keine Familie wollte.«

»Dich hat er nicht gewollt.«

Madelaine spürte, wie ihr Ärger jäh verflog, als sie die schlichte Wahrheit hörte. »Das stimmt«, sagte sie leise. »Mich hat er nicht gewollt. Mich hat er nicht geliebt. Aber er wollte auch nicht...« Madelaine starrte ihre Tochter an, wusste nicht, was sie sagen sollte, welche Wahrheit sie ihr sagen sollte.

»Mich?«, fragte Lina flüsternd.

»Nein.« Madelaines Stimme war leise, nicht einmal ein Flüstern. »Er wollte nicht erwachsen werden und schwere Entscheidungen treffen und Opfer bringen. Er wollte nur Vergnügen haben, und mit siebzehn Vater zu sein, ist wirklich kein Vergnügen.«

Lina wandte ihren Blick ab und verschränkte die Arme. »Er ist jetzt erwachsen«, sagte sie stur. »Er wird mich haben wollen.«

Madelaine starrte auf das Profil ihrer Tochter, auf den zitternden Mund und die blasse Haut, auf die Tränen, die in ihren Augen glitzerten. Sie trat näher, legte ihre warme Hand auf Linas kalte Wange. »Ich möchte, dass er dich liebt, Lina, ich möchte, dass er dich will, aber ...«

Lina drehte sich zu ihr. »Aber was?«

»Ich habe Angst, Lina. So einfach ist das.«

Sie blinzelte. Eine Träne rollte über ihre Wange. »Ist er gewalttätig?«

»Nein, das nicht.« Madelaine streifte Linas Träne mit ihrem Daumen fort. »Er ist... egoistisch. Ich habe Angst, dass er dir das Herz brechen wird.«

Lina starrte sie an. »Verstehst du denn nicht, Mom? Er bricht mir jetzt das Herz.«

Madelaine seufzte, dachte plötzlich an all die Versprechungen, die sie im Laufe der Jahre nicht gehalten hatte - kleine Dinge, eine Verabredung zum Essen hier, ein Kinobesuch, der nicht stattfand, da -, und wie sich das alles addiert hatte, sie beide zu diesem Augenblick gebracht hatte. Eine Mutter und eine Tochter, die einander liebten und einander verletzten und nicht wussten, wie sie das ändern sollten. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, mein Schatz«, flüsterte sie. »Aber ich will ganz einfach das Richtige tun.«

»Ich will dir glauben, Mom«, sagte Lina.

Madelaine hörte die leise gesprochenen Worte und sie gaben ihr einen winzigen, glitzernden Funken Hoffnung. Ein Dutzend Erwiderungen fielen ihr ein, aber am Ende blieben nur leere Worte, Versprechungen, gemacht von einer Frau, die zu viele gebrochen hatte.

Schließlich sagte sie das Einzige, was wirklich zählte. »Ich liebe dich, Lina.«

Linas Augen füllten sich mit Tränen. »Das weiß ich, Mom.«

Das waren nicht die Worte, die Madelaine hören wollte. Überhaupt nicht die richtigen Worte.