Kapitel 25

Madelaine und Angel spazierten Hand in Hand über den Hauptweg. Das surrealistische Gemisch von Geräusch, Farbe und Licht explodierte um sie herum. Marktschreier riefen laut, lachten, drängten Angel, sein Glück beim Ringwerfen zu versuchen oder einen Schokoriegel zu kaufen oder ein Foto von sich und Heloise, der fetten Frau in Bude Nummer sechs, machen zu lassen.

Madelaine war von all dem fasziniert. Mit jedem Schritt spürte sie, wie die Jahre von ihr abfielen. Angels Verrat schwand zu Bedeutungslosigkeit und all die Tage und Nächte, die sie auf seine Rückkehr gewartet hatte, waren endlich vergessen. Sie konnte diese Last nicht mehr tragen, jetzt nicht, wo sie sich leichter als Luft fühlte und sehr jung ... so jung.

»Sieh doch!« Angel deutete auf eine Bude am Hauptweg und zog sie dorthin. Sie stolperte ihm nach, lachend, seine Hand festhaltend.

An der Bude setzte er seine Maske auf und beugte sich über den Holztisch. Der Budenbesitzer, ein alter Mann mit runzeligem Gesicht, grinste ihn an. »Möchten Sie Schmuck für Ihr Mädchen gewinnen, Mister?«

Madelaine sah, worauf Angel schaute, und hielt den Atem an. Es war ein Paar protziger roter Plastikohrringe, die an einem Kleiderhaken baumelten, der an der Rückwand der Bude befestigt war.

Sie wusste, dass sie ihn in genau diesem Augenblick nicht ansehen sollte. Wenn sie das tat, würde er alles in ihren Augen sehen. Er würde wissen, was dieser Moment ihr bedeutete, was es bei ihr auslöste, dass er sich erinnerte. Aber sie konnte nicht wegschauen.

Als ihre Blicke sich trafen, war sie wie elektrisiert. »Die Ohrringe«, flüsterte sie.

Er lächelte und berührte zärtlich ihre Wange.

»Okay, ihr Turteltauben«, rief der Budenbesitzer mit dröhnender Stimme und klimperte mit dem Beutel mit dem Wechselgeld, der er um die Hüfte trug. »Wollt ihr spielen oder was?«

Angel grinste. »Oder was.«

Bevor Madelaine fragen konnte, was er meinte, hatte er ihre Hand ergriffen und zog sie weiter über den Hauptweg. Lachend klammerte sie sich an ihn, ließ sich von ihm mitreißen. Erst als sie den Rand des Jahrmarkts erreicht hatten, begriff sie, wohin er sie führte. Sie hielt den Atem an und spürte plötzlich einen winzigen stechenden Schmerz in ihrem Herzen.

Er führte sie zu dem Baum, ihrem Baum.

Die Erinnerungen stürmten auf sie ein, drückten auf ihre Brust, bis sie kaum mehr atmen konnte.

Er kniete sich auf das welke Gras und zog sie neben sich hinunter. Wortlos ließ er ihre Hand los und begann, in der Erde zu wühlen, grub, bis ein Haufen Schmutz auf seinem Knie war. »Hab sie«, sagte er schließlich, wobei er die schmutzigen roten Ohrringe aus dem feuchten schwarzen Boden zog. Er streifte die Maske von seinem Gesicht, so dass sie ihm lose am Hals hing, wandte sich dann zu ihr, um sie anzusehen.

Madelaine starrte auf den billigen Plastikschmuck und erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Abend - als sie unter dieser alten Eiche gelegen und einander versprochen hatten, sich immer zu lieben.

Die Erinnerung daran sollte eigentlich schmerzen. Früher hatte sie immer geschmerzt. An diesem Abend aber, wo er die Ohrringe in seinen Händen hielt und die Luft vom Duft von Popcorn und Zauber erfüllt war, hatte nichts die Macht, ihr wehzutun.

»Du hast dich erinnert«, flüsterte sie und biss sich auf die Unterlippe. Als sie ihn ansah, kamen die Tränen, quollen hervor, rannen über ihre Wangen. Sie konnte sie nicht unterdrücken und wollte es auch nicht.

Er wischte ihr mit einem seiner schmutzigen Finger eine Haarsträhne aus den Augen. »Was hatten wir damals gesagt? Verrückte Worte von Teenagern darüber, dass unsere Liebe nie enden würde, dass diese Ohrringe auf ewig eine Erinnerung an unsere Liebe sein sollen ...«

Sie zwang sich zum Lachen und wollte etwas sagen, etwas Oberflächliches oder Unbekümmertes, aber nichts kam heraus, außer einem heiseren, leisen »Alberne Worte«.

Um seine Lippen spielte kein Lächeln. »Nicht albern. Du sagtest: >Wir werden sie hier lassen. Auf diese Weise wird ein Teil von uns immer unter diesem alten Baum existieren. Wenn wir alt sind, können wir mit unseren Enkelkindern hierher zurückkehren^«

»Oh, mein Gott«, flüsterte sie. »Das ist genau das, was ich gesagt habe.«

»Ich hab versucht, es zu vergessen, Mad. Ich rannte und rannte, bis es keinen Ort mehr gab, zu dem ich hätte laufen können. Vieles aus der Zeit habe ich vergessen, aber die Worte waren immer wieder da, tief in mir vergraben.« Er nahm ihre Hand und legte den billigen, schmutzigen Schmuck hinein.

»Ich habe dich niemals vergessen. Ich weiß, dass das nichts von all dem wieder gutmacht, aber ich habe dich nie vergessen ...«

Sie wollte darauf Ich liebe dich sagen, wollte es so sehr, weil die Worte in ihrer Kehle brannten. »Ich habe dich auch nie vergessen.«

Es war nicht das, was sie sagen wollte, aber es war alles, wozu sie den Mut hatte. Dieser Augenblick bedeutete zu viel. Sie konnte ihn nicht mit Worten in Gefahr bringen, die er noch nicht zu hören bereit war.

»Lass uns aufs Riesenrad gehen«, sagte er.

Sie lächelte ihn an und nickte. Er half ihr auf und zog sie eng an sich. Fest umschlungen, wie verliebte Teenager, schlenderten sie den Hauptgang hinunter. Auf halbem Wege kaufte sie eine riesige Portion Zuckerwatte und zog einen langen, klebrigen Streifen ab.

Er blieb vor dem Riesenrad stehen und schaute sie kopfschüttelnd an. »Ich kann nicht glauben, dass du dieses Zeug vor einem Herzpatienten isst.«

»Du hast es nie gemocht.«

Überraschung zeigte sich in seinen Augen. Dann lächelte er. »Ich vergaß, wie gut du mich kanntest.«

Sie zog ein weiteres Stück ab und steckte es sich in den Mund.

Er nahm das Halstuch heraus und wischte das klebrige Zeug von ihrer Nase. »So was hättest du als Kind haben sollen«, sagte er.

Sie versuchte zu lachen, aber es war nicht komisch, und sie beide wussten es.

»Komm.« Er nahm ihre Hand und führte sie auf das Riesenrad. Das Mädchen, das es bediente - jung, mit blondiertem Haar und einem gepiercten Nasenflügel -, starrte Angel ehrfürchtig an.

»M... Mr DeMarco«, sagte sie, »haben Sie uns für diesen Abend engagiert?«

Er nickte. »Lass uns lange fahren, ja, Kleine?« Er zog Madelaine auf den breiten, mit schwarzem Kunststoff bezogenen Sitz und legte den Sicherheitsbügel vor. Dann hielt er dem Mädchen seinen erhobenen Daumen hin. Die Fahrt begann mit einem winselnden, mechanischen Stöhnen und sie wurden von der Rampe hochgehoben.

Madelaine lehnte sich zurück und blickte zum Nachthimmel auf. Die Gondel schwankte und wippte und hob sie höher und höher in die Dunkelheit, bis rings um sie nur noch Sterne waren, so nahe, dass man sie berühren konnte, und der Hauptweg zu einem fernen Nebel von gelbem und weißem Licht schwand.

Angel legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie dicht an sich. In der Ferne konnten sie übermütiges Juchzen vom Karussell hören und das mechanische Rauschen der Achterbahn.

Hier oben aber, umhüllt von der Decke der Sterne und berührt vom Licht eines Halbmondes, schien der Jahrmarkt eine Million Meilen entfernt zu sein.

Angel drehte sich zu ihr, um sie anzusehen. »Mad ...«

Etwas war in seinem Tonfall, das sie erschreckte - er klang so ernst. Sie hatte plötzlich Angst, dass es das war, dass er all dies nur getan hatte, um ihr Lebewohl zu sagen. Vielleicht wollte er es dieses Mal richtig machen. Jetzt hatte er eine Tochter, an die er denken musste - er wollte nicht auf einer Harley dröhnend aus der Stadt fahren.

»Sag nichts«, flüsterte sie, während sie in seine Augen schaute. In diesem Moment wusste sie, dass sie ihn dieses Mal niemals mehr vergessen, es nie verwinden könnte. Wenn er gehen wollte, wäre es ihr lieber, wenn er es einfach tat, seine Sachen nahm und ging. Ein Lebewohl würde sie nicht ertragen können.

»Ich möchte dir dafür danken, dass du mein Leben gerettet hast.«

Sie atmete erleichtert aus. Sie war so dankbar für das, was er nicht gesagt hatte, dass es eine Sekunde dauerte, bis sie begriff, was er gesagt hatte. »Dafür danken, dass ich dein Leben gerettet habe?« Sie schluckte schwer. »Geht es darum, Angel? Du willst dich bei deiner Kardiologin bedanken?« Die Worte schmeckten bitter.

Er lächelte weich. »Nein. Ich will dir nicht dafür danken, dass du meinen Körper gerettet hast - wenngleich ich das zu schätzen weiß.« Er beugte sich zu ihr, berührte ihre Wange und schenkte ihr ein zärtliches Lächeln. »Ich meine, ich möchte dir dafür danken, dass du mein Leben gerettet hast. Wärst du in diesen vergangenen Wochen nicht gewesen, hätte ich nicht die Kraft gefunden, weiterzuleben. Ich glaube, ich hätte mich krank getrunken und wäre davongelaufen. Aber du... und Lina, ihr habt mir einen anderen Weg gezeigt.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Das ist meine Mad«, sagte er lachend und zupfte eine Haarsträhne von ihrer Lippe. »Ich werde dich jetzt küssen, Mad. Wenn du ein Problem damit hast...« Er beugte sich lächelnd zu ihr.

Sie starrte ihn an, hypnotisiert von dem Sehnen, das sie in seinen Augen sah. Der Wunsch, zu küssen und von ihm geküsst zu werden, war unwiderstehlich, und bevor sie sich's versah, beugte sie sich zu ihm.

Er nahm ihr Gesicht in die Hände und fuhr mit den Fingern durch ihr zerzaustes Haar, hob ihr Gesicht zu sich. Langsam küsste er sie.

Sein Mund passte perfekt auf ihren, genau, wie es vor so vielen Jahren gewesen war. Er begann sanft und zärtlich, dieser erste Kuss nach so vielen verlorenen und einsamen Jahren.

Sie klammerte sich an ihn, küsste ihn mit allem, was in ihr war, als ob sie diesen entscheidenden Funken aus ihm in ihre Seele ziehen könnte, als ob sie ein Stück von ihm nach dieser verzaubernden Fahrt mit sich nehmen könnte.

Der Kuss vertiefte sich, wurde kämpferisch und gefährlich. Seine Zunge drang in ihren Mund, kostend, forschend, sich einprägend, und noch immer klammerte sie sich an ihn, stöhnte antwortend, verschmolz mit seinem Körper.

Das Riesenrad ruckte und trug sie wieder zu den Sternen hoch, aber Madelaine bemerkte es kaum. Sie spürte nur ein überwältigendes Bedürfnis, von diesem Mann berührt und gehalten und gestreichelt zu werden.

Die Fahrt endete abrupt.

»War das lange genug, Angel?«

Madelaine löste sich aus seinen Armen und starrte das junge Mädchen an. Das Mädchen grinste.

»Ich denke, wir sind fertig«, sagte Angel, während er wieder seine Maske vors Gesicht zog. »Komm, Mad.«

Madelaine fühlte sich so leicht, als würde sie nach dieser Fahrt schweben. Er nahm ihre Hand und führte sie wankend den Hauptweg hinunter.

Sie spazierten stundenlang miteinander, redend, lachend, sich der guten Zeiten erinnernd und die schlechten auslassend. Angel war sein übliches überlebensgroßes Ich, warf den Leuten vom Jahrmarkt im Vorbeigehen Dollarscheine zu, gab Autogramme und blieb geduldig stehen, um sich fotografieren zu lassen.

Schließlich kehrten sie zum Eingang zurück. Dort hielt er, um mit einem älteren Herrn, der einen verschlissenen Wollmantel trug, zu sprechen. »Der erste Schwung Kinder wird morgen um zehn Uhr hier sein. Sorgen Sie dafür, dass die sich prächtig amüsieren, und Sie werden ein großes Trinkgeld bekommen.«

Madelaine schaute Angel stirnrunzelnd an, während sie weitergingen. »Wer war das? Welche Kinder?«

Er zuckte die Schultern. »Ich habe für morgen vereinbart, dass ein Haufen Kinder von der Wünsch-dir-was-Stiftung den Jahrmarkt für sich allein haben. Sie und die behinderten Kinder. Keine große Geschichte.«

Madelaine starrte ihn an. »Du hast dich wirklich verändert.«

Er nahm seine Maske ab und grinste sie an. »Du bist aus dem Riesenrad ausgestiegen und hattest noch deine Kleider an. Das ist eine Veränderung.«

Sie blinzelte nicht. »Was bringt dich auf die Idee, dass ich sie anbehalten will?«

Er schluckte schwer. Sein Lächeln schwand. »Steig ein.«

»Wohin...«

Er schloss ihre Tür auf und öffnete sie. »Lass uns fahren.«

Angel hatte sich noch nie so sehr danach gesehnt, mit einer Frau zu schlafen, wie jetzt. Jedes Mal, wenn er Madelaine ansah, spürte er das Verlangen wachsen und wachsen. Es hatte ihn all seine Selbstbeherrschung - und wahrscheinlich auch etwas von der Francis' - gekostet, aus dem Riesenrad zu steigen, ohne ihr die Kleider vom Leibe zu reißen.

Nur daran hatte er auf dem Jahrmarkt gedacht, sie gewollt, sie begehrt. Aber jetzt, wo er sie so dicht neben sich hatte, stand er Todesängste aus. Er fuhr langsam durch die verlassenen Straßen und seine Hände schwitzten am Lenkrad. Er versuchte, nicht daran zu denken, Sex mit ihr zu haben, aber der Gedanke kam ständig wieder und peinigte ihn. Er hatte einen Plan dafür entworfen, es sich in seiner Phantasie ausgemalt, aber ...

Konnte er es tun? Das war die Frage, die ihn lähmte, die Schweiß auf seine Stirn treten ließ. Er wusste nicht, ob er diese Strecke durchhalten konnte, ob er das Rennen überhaupt starten konnte. Vor der Operation? Kein Problem, aber das war, verdammt noch mal, vorher.

Als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten, war er kaum in der Lage, einen zusammenhängenden Satz herauszubringen. Er lenkte den Mercedes an den Straßenrand und stellte den Motor ab.

Sie keuchte leise und wandte sich ihm zu. Er brauchte nicht erst die Innenbeleuchtung einzuschalten, um ihren Gesichtsausdruck zu sehen. Ihre Augen mussten groß sein, blinzelten nicht, und ihre Zähne nagten nervös an ihrer Unterlippe. »Warum sind wir hier?«, sagte sie leise.

Er öffnete seine Tür und ließ das Licht auf ihr Gesicht fallen. »Du wirst schon sehen. Komm.« Er spürte ihren Widerwillen und zwang sich, ihn zu ignorieren. Er hatte lange über diese Sache nachgedacht und sie musste getan werden. Manche Dämonen konnte man unter den Teppich kehren, aber anderen musste man sich einfach stellen.

Er zog die Taschenlampe unter seinem Sitz hervor, stieg dann aus dem Wagen aus und wartete geduldig am Bordstein.

Nach einer langen Minute öffnete sie die Tür. Sie stieg aus, schlug die Tür heftig zu und blickte zu dem Haus auf, vor dem er gehalten hatte. Das Haus ihres Vaters.

Es stand wie eine Burg auf dem Hügel, eine spitz aufragende schwarze Silhouette vor einem sternübersäten Himmel. Mondlicht spielte auf den Scheiben der Sprossenfenster und wand sich um die Stangen vor ihrem Schlafzimmerfenster. Der weiße Säulengang beschützte die Vordertreppe vor Regen und tauchte die Veranda in Schatten. Vier Ziegelschornsteine hoben sich aus dem hohen Dach. Ein spitzenbewehrtes schwarzes Eisentor schützte das Anwesen auf dem Hügel, hinderte das Gesindel daran, einzudringen.

Es wirkte düster und drohend, dieses dunkle Haus, in dem sie aufgewachsen war. Skelettartige Bäume ragten längs dem Zaun auf. Die letzten Blätter des Herbstes klammerten sich an ihre Äste.

»Das Einzige, was fehlt, ist ein Schild mit der Aufschrift >Bates Motel<«, sagte Angel sarkastisch.

Madelaine erwiderte sein Lächeln nicht.

»Komm, Mad«, sagte er leise und hielt ihr die Hand hin.

Sie kam langsam zu ihm, nahm seine Hand, steckte ihre kleine, kalte in seine. Wortlos führte er sie zur Haustür, suchte dann nach einem Stein. Nachdem er einen gefunden hatte, holte er aus, bereit, ihn in die große Scheibe des Wohnzimmerfensters zu werfen.

Sie hielt seine Hand fest. »Was willst du tun?«

»Uns Einlass verschaffen.«

Sie warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Versuch's mit dem Schlüssel. Er liegt unter dem losen Ziegelstein der obersten Stufe.«

Er schaute nach unten, sah den losen Ziegel. »Das macht aber nicht so viel Spaß ...«

Sie lächelte nicht. »Nimm den Schlüssel.«

Er fand den Schlüssel in dem zerfallenden Mörtel seines Verstecks und steckte ihn in das Schloss. Die Tür öffnete sich mit einem winselnden Knarren. Er richtete seine Taschenlampe in das Dunkel und trat in die düstere Eingangshalle, hielt dabei fest ihre Hand. Er schlug die Tür hinter ihnen zu und führte sie durch die Halle, vorbei an der großen Küche, in den dunklen Raum, der einst das Büro ihres Vaters gewesen war. Selbst jetzt noch, all die Jahre später, roch er nach Zigarrenrauch und Macht.

Er angelte ein Streichholzheft aus seiner Tasche und kniete sich vor dem riesigen weißen Marmorkamin hin. Er nahm Brennholz aus dem Kupferkorb, der vor dem Kamin stand, und entzündete ein Feuer. Flammen leckten und züngelten um das trockene Holz. Wärme drang in das kalte Zimmer.

Und sie stand noch immer da, zitternd, reglos.

Er ging zu ihr und nahm ihre Hände in seine. Als ihre Blicke sich trafen, sah er ihre Angst, und die Worte, die er geübt hatte, blieben ihm in der Kehle stecken.

»Warum sind wir hier? Du weißt, wie ich mich in diesem Haus fühle.«

Er hörte die Angst in ihrer Stimme und er litt mit ihr, wie er es so viele Male in der Vergangenheit getan hatte. Er wusste nichts Genaueres darüber, was ihr in diesem Haus widerfahren war durch diesen verrückten, gemeinen alten Mann, der ihr Vater war, aber er wusste, dass sie verletzt worden war. »Hier ist es geschehen und ich fand, es sei richtig, dass es hier endet... und vielleicht beginnt.«

»Ich verstehe nicht.«

Er sah sich in dem Zimmer um. Es war genau so, wie er es in Erinnerung hatte, abgesehen von der feinen Staubschicht, die jetzt auf den Möbeln lag, und dem schwachen Geruch von Moder. Noch immer steckten dicke, weiße Kerzen in silbernen Leuchtern, die schwarz angelaufen waren. Zwei riesige burgunderrote Ledersessel standen in der Ecke dicht beieinander, ihre Rückenlehnen zu der getäfelten Wand gerichtet. Hohe, schmutzige Fenster flankierten den offenen Kamin. Ihre Scheiben waren halb von staubigen Vorhängen bedeckt. Noch immer bedeckte das dicke Bärenfell die schweren Dielen. »Hier habe ich meine Seele für zehntausend Dollar verkauft.«

»Darüber müssen wir nicht reden«, sagte sie und er wusste, dass es ihr ernst damit war. Aber zwischen ihnen war zu viel, stand zu viel auf dem Spiel, um so zu tun, als hätte er nicht getan, was er getan hatte. Wenn sie irgendeine Chance für die Zukunft haben wollten, musste er für die Vergangenheit sühnen.

»Ich weiß, dass wir nicht darüber reden müssen, aber ich muss mich entschuldigen für das, was ich getan habe. Ich weiß, dass eine Entschuldigung nicht viel bedeutet - nur ein paar Worte, die überstrapaziert sind -, aber es tut mir Leid, Mad.« Seine Kehle wurde eng. »Wenn ich gewusst hätte ...«

Sie wurde so still, als habe sie aufgehört zu atmen. Eine feine Ader pochte heftig an ihrem Halsansatz. Sie sah wie ein verängstigtes Reh aus, bereit wegzulaufen. »Was gewusst hättest?«

»Ich war siebzehn Jahre alt. Was wusste ich vom Leben? Du warst das erste Mädchen, in das ich mich verliebte, und durch dich schien alles so verdammt einfach und leicht zu sein - so, als ob man ein tolles Spielzeug in einer Wundertüte findet.« Er berührte ihre Wange, spürte ihre samtene Weichheit und er lächelte. »Ich wusste nicht, dass ich nie wieder so fühlen würde oder dass du mich verfolgen würdest. Ich wusste nicht, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringen würde, von einem Mädchen zu träumen, dem ich davongelaufen war.«

Ihre Blicke trafen sich. Der Ausdruck ihrer Augen war offen und unerschrocken - gänzlich anders als der des jungen Mädchens, in das er sich verliebt hatte. »Ich habe immer verstanden, was du getan hast, weißt du. Ich habe dir sogar ein bisschen vergeben - das dachte ich zumindest, bis du wieder auftauchtest. Mein Vater war ein mächtiger Mann, dem man sich nur schwer widersetzen konnte.« Sie stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich weiß das besser als irgendjemand sonst.«

Sie bot ihm einen leichten Ausweg und er wollte ihn nicht nutzen. Vor der Operation hätte er das getan, aber diesmal konnte er es nicht. Es war zu wichtig, dass er ehrlich war - um ihrer beider willen. »Es war nicht dein Vater. Ich hätte mich gegen dieses Arschloch stellen sollen. Ich war es. Ich hatte Angst davor zu schwören, dass ich dich für den Rest meines Lebens lieben würde.« Er schüttelte seinen Kopf. »Ob schwanger oder nicht, ich hätte zu dir stehen müssen. Das wusste ich. Und ich wusste, dass du dein Wort gehalten hättest, wenn du gelobt hättest, mich immer zu lieben. Du hättest mich geliebt...«

In ihren Augen standen Tränen. »Ja.«

»Es hat mir Angst gemacht, Mad. Ich konnte mit deiner Liebe nicht umgehen - nicht mit siebzehn, Teufel auch, nicht einmal im vergangenen Jahr. Ich wusste, dass ich wieder damit anfangen würde, auszurasten, dich betrügen würde, zu viel trinken würde - all die Dinge täte, die ich immer getan habe.« Er trat näher zu ihr und nahm sanft ihr Gesicht in die Hände. »Ich bin nicht mehr dieses verängstigte Kind. Ich weiß jetzt, was ich will.«

»Sag nichts mehr, Angel, bitte ...«

Er wusste, was sie tat. Sie hatte Angst, dass er ihr sagen würde, er liebe sie, und ihr dann wieder das Herz brechen würde. Er wünschte sich, ihr dafür einen Vorwurf machen zu können, aber sie hatte allen Grund, ihr Herz vor ihm zu schützen. Alles, was er tun konnte, war, es immer und immer wieder zu versuchen, bis sie ihm eines Tages wieder glaubte.

Er dachte an all die Dinge, die er ihr in diesem Augenblick sagen könnte, all die Worte, die er aussprechen könnte, um ihr zu vermitteln, dass er sie liebte, aber am Ende waren es nur Worte und die hatte sie schon einmal von ihm gehört. Stattdessen neigte er sich ganz nah zu ihr, nahm ihr feines, schönes Gesicht in die Hände und küsste sie langsam und innig, auf eine Art, die er sich nicht einmal hatte vorstellen können, als sie noch Jungendliche waren. Er hatte nichts von Liebe gewusst. Er hatte damals nicht gewusst, wie sie einem das Innerste verdrehte und einem das Gefühl gab, aus Glas zu sein. Dass man sich manchmal - wie jetzt - so zerbrechlich fühlte, dass ein kräftiger Windstoß einem die Seele zerschlagen konnte.

»Sag etwas«, sagte er leise.

Sie schloss die Faust um die Ohrringe, ließ sie dann geräuschlos zu Boden fallen. »Ich will nicht sprechen. Ich will nur...«

»Was?«, fragte er. »Was willst du? Sag es mir einfach und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit du es bekommst.«

»Dich«, flüsterte sie. Ein langsames, verführerisches Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Sie streifte einen Schuh ab - er prallte gegen den Spucknapf in der Ecke. Der andere traf das klauenfüßige Schreibtischbein. »Ich will dich, Angel DeMarco.«

Sein Atem ging in keuchenden, kurzen Zügen. Wäre sein Herz mit dem zentralen Nervensystem verbunden gewesen, wäre es außer Kontrolle geraten. Stattdessen behielt es seinen gleichmäßigen, unerschütterlichen Rhythmus bei. Er schluckte und bemerkte, dass seine Kehle trocken war.

Sie begann, ihren Sweater aufzuknöpfen, und er ergriff ihre Hand. Augenblicklich fühlte er sich wie ein Narr. Er versuchte, das mit einem Lächeln abzutun, aber sie hatte in seinen Augen gesehen, was ihn bewegte. »Ich weiß nicht, ob ich es kann, Mad«, flüsterte er. Das Gefühl von Erniedrigung war ein kalter Fleck in seinem Bauch.

Sie lächelte nicht, tat aber auch nicht so, als würde sie nicht verstehen. »Deine Ärztin hat dir gesagt, dass du sexuellen Verkehr haben kannst, wann immer dir danach ist... du kannst das.«

Ein Lächeln verzog einen seiner Mundwinkel. »Ich muss zugeben, dass es mich angemacht hat, als sie das sagte.«

»Und wie ist es jetzt?«, fragte sie leise, während sie sein Hemd aufknöpfte.

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sollten wir warten...«

Sie lächelte und öffnete den nächsten Knopf. Sie spreizte die Hand auf seiner Brust. Jeder ihrer Finger war sengend heiß. »Sollten wir das?«

Er konnte sich nicht konzentrieren, als sie das tat. Er spürte ihre Finger, die geschickt an dem Hemd arbeiteten, ihre Fingernägel, die das zarte Fleisch seiner Brust kratzten. Sie streifte das Hemd beiseite, enthüllte die hellrote Narbe.

Er zögerte einen Augenblick, spürte Unsicherheit. Es bedeutete so viel, sie zu lieben, mit ihr zu schlafen, und er hatte Angst, er könnte es nicht tun. Hatte Angst, dass sein gebrauchtes Herz einfach aufgeben würde.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf seine Narbe. Ihre Lippen waren warm und nachgiebig auf dem neuen Fleisch und er erschauerte. Er konnte sich nicht zurückhalten. Er wollte sie an sich ziehen, sich tief, tief in ihr vergraben, so tief, dass er nicht mehr wusste, wo sie anfing und er endete.

Mit einem Stöhnen zog er sie in die Arme und küsste sie mit einer Leidenschaft, die er nie zuvor empfunden hatte. Er küsste sie, bis er vor Verlangen nach ihr kaum mehr atmen konnte. Langsam ließ er sich auf den Bärenfellteppich sinken und sie folgte ihm, während ihre Finger noch immer die Knöpfe öffneten. Als sie auf dem Teppich lagen, streifte sie das Hemd ganz ab und warf es beiseite.

Er zog ihr den weichen, grünen Sweater aus und warf ihn über seinen Kopf, öffnete dann den BH und ließ ihn durch seine zitternden Finger auf das Fell gleiten.

Sie kniete auf dem Bärenfellteppich vor ihm, die Brüste im Feuerschein glänzend und perfekt. Sie hob die Hände, um sie zu bedecken.

»Das Baby...«

Er schob ihre Hände beiseite und musterte die winzigen, silbrigen Fältchen, die sie zu verbergen versuchte. Als er sie ansah, wusste er, dass sie glaubte, sie sei irgendwie unvollkommen, dass ihr Frauenkörper mit dem des Mädchens, das er einst geliebt hatte, nicht zu vergleichen sei.

Ganz langsam beugte er sich vor und umfing ihre kleinen, runden Brüste mit den Händen. »Du bist so schön«, flüsterte er, während er sich vorbeugte, um den weichen Hügel einer Brust zu küssen.

Sie erschauerte und stöhnte leise auf, bog sich ihm dann entgegen. Er nahm eine Brustwarze in den Mund, während er ihre Jeans aufknöpfte und sie auf den Fellteppich niederzog.

Er streifte ihr die Hose ab, dann den Slip, bis sie dort lag, im Feuerschein leuchtend, ihr nackter Leib ausgestreckt vor ihm, nur mit einem Paar fusseliger Socken bekleidet. Er griff tief in seine Tasche, suchte nach einem Kondom und zog es heraus, warf das kleine Folienpäckchen auf den Boden. Er wich zurück, streifte sich den Rest seiner Kleidung vom Leibe und warf ihn zur Tür. Dann legte er sich neben sie, küsste sie wieder, streichelte ihren Körper, bis sie sich ihm entgegenhob und bittend in sein Ohr flüsterte. Leise, gehauchte Worte, die seine Selbstbeherrschung überforderten.

Er wich schwer atmend zurück. Sein Herz pumpte in einem beunruhigend ruhigen Rhythmus, erinnerte ihn daran, dass nichts an dem normal war.

»Ich weiß nicht, Mad«, flüsterte er mit gebrochener Stimme.

»Hab keine Angst.« Sie nahm das Päckchen mit dem Kondom, riss es auf und ließ die Folienstücke auf den Boden fallen. Lächelnd griff sie nach unten. Ihre Finger schlössen sich um ihn, drückend, streichelnd. »Du scheinst so weit in Ordnung zu sein.«

Ihre Hand bewirkte Wunder. Er stöhnte, schloss seine Augen.

»Sollen wir weitermachen?«, hauchte sie ihm ins Ohr, während sie das empfindliche Fleisch seines Ohrläppchens leckte.

Er fühlte sich benommen. Er konnte nur nicken. Seine Kehle war zu trocken, um Worte herauszubringen. Er spürte, wie sie ihm das Kondom überstreifte und es über seinen Schaft zog.

Mit einem Stöhnen aus tiefer Kehle drehte er sich um und küsste sie. Lange, elektrisierende Küsse, die ihn wie von Sinnen machten. Er spürte, dass sie ihn wieder ergriff, ihn zu ihr führte, in sich führte.

Er wäre fast sofort gekommen, hielt sich aber zurück, biss sich heftig auf die Unterlippe. Sie umklammerte ihn, flüsterte seinen Namen, während ihre Hüften sich mahlend bewegten, gegen seine stießen. Sie fielen in einen Rhythmus, der so alt wie die Zeit ist, aber für Angel fühlte er sich neu an, so neu. Mit unglaublicher Anstrengung hielt er sich zurück, brachte sie näher und näher an die Schwelle ...

Er spürte, wie sie zum Höhepunkt kam, und war verloren. Seine Erlösung war eine zuckende Explosion. Danach fiel er neben ihr auf den Fellteppich und sein Atem kam in kurzen Stößen.

»So war es nie, als wir Teenager waren«, sagte er.

Sie lächelte und schmiegte sich enger an ihn. »Nicht ganz. Es war damals mehr wie schneller, schnellere«

Sie lachten zusammen und lagen da, umschlungen von den Armen des anderen, erinnerten sich an so viele Dinge. Er legte die Wange auf ihre Brust und musterte ihren nackten Körper in dem zuckenden, goldenen Feuerschein, strich mit einem Finger über ihren flachen Bauch. Sie war so schön ...

Er wollte sie niemals verlassen. Er wollte, dass dieser Augenblick, diese Intimität immer währte, wollte seine Seele in der Wärme ihrer Berührung, ihres Lächelns wiegen.

Aber wie sagte ein Mann wie er so etwas einer Frau wie ihr? Wie lauteten die magischen Worte, die sie dazu bringen würden, zu glauben, dass das, was sie gerade getan hatten, etwas Besonderes war und dass er endlich erwachsen genug geworden war, um das zu begreifen?

Ihm fielen keine Worte ein und so benutzte er seinen Körper, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, dass er nicht genug von ihr bekommen konnte. Seine Hände, seine Lippen, seine Zunge -er benutzte sie alle, um ihren Körper wieder zu verehren, bis sie vor Lust aufschrie und dann gegen ihn sank.

So lagen sie umschlungen eine Ewigkeit da. Dann versuchte sie sich mit einem zitternden Lachen von ihm zu lösen. »Wir sollten besser gehen...«

»Kommt nicht in Frage.« Er zog sie näher an sich, bis ihre Körper ein verschwitztes, nahtloses Ganzes waren. »Es ist wahrscheinlich noch nicht einmal Mitternacht.«

Sie drehte sich um und lächelte auf ihn hinab. Das Haar fiel in einem Durcheinander von Honigbraun herab, liebkost vom Feuerschein, und die Lippen waren von seinen Küssen gerötet und geschwollen. Ihre Brustwarzen streichelten über seinen nackten Oberkörper. »Willkommen im Club der Liebhaber alleinstehender Mütter.«

Die Worte waren wie der winzige Stich eines Messers. Er zuckte zusammen. »Bin ich das für dich? Ein Liebhaber?«

Ihr Gesicht verdunkelte sich. Nervös steckte sie sich eine Haarlocke hinter ihr Ohr. »Nun ja ... wie würdest du das nennen?«

Er führte eine Hand zu ihrem Gesicht, berührte die Wange, strich über die rosa Kontur der Oberlippe. Er überlegte plötzlich, wie ein Mann überleben könnte, wenn er eine Frau so sehr liebte. Wenn sie wollte, könnte sie seine Seele herausreißen und sie unter den Füßen zertreten. So, wie er es mit ihr getan hatte.

Zum ersten Mal verstand er - verstand er wirklich -, was er diesem wunderschönen, vertrauensvollen sechzehnjährigen Mädchen angetan hatte, und das Schamgefühl war fast überwältigend. Und über dieses Schamgefühl hinaus war da Bedauern, tief und schmerzend und unauslöschbar.

Er sah sie an, liebte sie so sehr, dass es wehtat. »Ich würde es >ein Verliebter« nennen.«