Kapitel 19

Lina starrte auf die glasige Oberfläche des Lake Union. Ein riesiger schwarzer Schatten glitt über das flache Wasser. Er erinnerte sie an das Monster, das hinter den Jalousientüren ihres Schrankes gelebt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Francis und ihre Mom hatten ihr erzählt, dass das Monster nur in ihrer Phantasie existiere, und sie hatte ihnen meistens geglaubt. Aber in manchen Nächten, wenn es draußen besonders dunkel war und Regen wie Salz in den Lichtkreis der Straßenlaterne vor ihrem Schlafzimmerfenster rieselte, hatte sie gewusst, dass das Monster nicht nur in ihrem Gehirn existierte. Sie hatte gehört, wie es sich bewegte, raschelte, an ihren Metallkleiderbügeln kratzte.

Als sie zwölf war, fing sie an zu begreifen, dass, was immer in dem Schrank leben mochte, ein Teil von ihr war. Sie spürte es in sich, wenn es sich dann und wann bewegte, seinen hässlichen Kopf mit einer Art formloser, wortloser Unzufriedenheit zurückwarf, die ihre Wahrnehmungen, ihre Träume und ihre Alpträume durchdrang. Es war eine Einsamkeit, die weder unzählige Monopolyspiele im Familienkreis oder Ferien in Disneyland ausfüllen konnten.

In ihrem dreizehnten Lebensjahr hatte es mit einigen wenigen schlimmen Nächten angefangen und sich zu schlimmen Wochen weiterentwickelt, als sie fünfzehn war. Sie erinnerte sich allzu gut an den Anfang - er war mit ihrer ersten Periode zusammengefallen, und gleich, wie viele Bücher ihre Mutter ihr gezeigt hatte, egal, wie viele Fotos von Gebärmüttern und Eierstöcken Lina gesehen hatte, sie kannte die Wahrheit. Das Gute blutete aus ihr heraus, hinterließ seine bräunlichen Flecken in ihrer Unterwäsche. Nachdem sie zu bluten begonnen hatte, hatten die schlaflosen Nächte angefangen. Mal weinte sie ohne ersichtlichen Grund, bekam dann wieder Wutausbrüche von so plötzlicher Heftigkeit, dass sie anschließend zitterte. Wenn sie in dieser schlechten Stimmung war, regte sie alles auf. Besonders ihre Mutter.

Aber so schlimm war es nie zuvor gewesen. Die Unzufriedenheit und Unglücklichkeit war immer gekommen und gegangen, Augenblicke, die sie auf irgendeinen Weg gebracht hatten und dann irgendwo stehen ließen, wo sie nicht wirklich sein wollte.

Jetzt wollte es einfach nicht von ihr lassen. Die Schwärze saß auf ihrer Brust und erfüllte ihren Mund mit einem bitteren Geschmack. Sie hüllte sich um Worte, die zu sagen sie nie eine Chance gehabt hatte - lebe wohl, ich liebe dich, es tut mir Leid.

Ohne Francis fühlte Lina sich verloren und allein. So allein, dass sie manchmal mitten in der Nacht aufwachte, unfähig zu atmen, unfähig sogar zu weinen. Sie wollte mit ihrem Fahrrad zum Pfarrhaus fahren, bis ihr dann einfiel, dass er nicht dort war.

Sie zerbrach förmlich. Nichts befriedigte sie oder machte sie glücklich und sie schien sich nicht einmal auf die einfachsten Dinge konzentrieren zu können. Alles, was sie fühlte, war Schuld und noch mehr Schuld, wie sie Francis behandelt hatte. Sie wollte mit ihrer Mutter darüber reden, konnte aber die Worte nicht finden. Und was nützte das überhaupt? Mom war ebenso eine wandelnde Leidende wie Lina. Sie trieben dahin, Seite an Seite in diesem großen, alten Haus, das überhaupt nicht wie ein Heim war, sagten nichts und lächelten nie.

Und jetzt, in all diesem Schmerz, hatte ihre Mutter den Vater hervorgezaubert.

Lina zuckte zusammen und zog die Beine an die Brust, starrte blicklos auf die glatte, silberne Oberfläche des Lake Union. Die großen, verrosteten Rohre, die Gasworks Park seinen Namen gegeben hatten, waren ein riesiger, ungeschlachter Schatten links von ihr.

Ein leichter Regen begann zu fallen, prasselte auf den See und spritzte klingend von der Metallkonstruktion ab.

Der bloße Gedanke an den Tag der Beerdigung brachte ihr Blut zum Kochen. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Mutter ausgerechnet diesen Augenblick ausgewählt hatte, um ihr die große Neuigkeit über ihren mysteriösen Vater mitzuteilen.

Sie kauerte sich zu einer festen, kleinen Kugel zusammen und rollte auf die Seite. Winzige Spitzen von totem Gras stachen ihr in die Wange und Regen peitschte auf die andere Gesichtshälfte, rann in eisigen Bächen in ihren Kragen.

Sie wollte ihre Mutter dafür hassen, dass sie das Thema angesprochen hatte, und ein Teil von ihr tat das auch, aber in diesem Augenblick war in ihr so viel mehr. Hass und Ärger und, am schlimmsten von allem, diese nagende Hoffnung, die nicht wachsen wollte und doch nicht ganz ersterben konnte.

Sie lag dort, bis ihre Kleidung völlig durchnässt war und ihr Haar am Gesicht klebte. Sie brauchte Francis, damit alles in Ordnung kam.

Aber Francis war gegangen und er würde nicht zurückkommen.

Wer würde ihr jetzt helfen, wo er fort war? Wer würde ihr Fels sein, auf den sie sich stützen konnte, wenn die düsteren Stimmungen kamen, wer würde seine Tür öffnen und grinsen und sagen: Komm herein, Lina-Ballerina...?

Daddy.

Sie dachte an das Phantom, das ihr Vater war, an den Mann, von dem sie seit Jahren geträumt hatte, auf den sie gewartet, um den sie gebetet und an den sie geglaubt hatte. Sie brauchte ihn jetzt mehr, als sie ihn je zuvor gebraucht hatte.

Ich möchte, dass er dich liebt, Lina. Ich möchte, dass er dich will, aber ich habe Angst... ich habe Angst, dass er dir das Herz brechen wird.

Als sie die Worte gehört hatte, hatte Lina gewusst, dass es die Wahrheit war. Ihre Mutter hatte Angst, dass er ihr das Herz brechen würde. Und vielleicht würde er das auch. Es war unmöglich, sich weiter an all ihre Kleinmädchenphantasien von einem perfekten Vater zu klammern. Seit Francis' Tod begriff sie, wie dunkel und erschreckend die Welt sein konnte.

Lina schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Flanelljacke über die tropfende Nase. Der Mann, der ihr Vater war, konnte ihr wehtun. Das verstand sie jetzt und wusste, dass die Angst ihrer Mutter echt war.

Aber vielleicht konnte er sie auch retten.

Sie wollte, dass dies wahr werden würde, wollte es so sehr, dass sie sich von ihrem Sehnen völlig zerschlagen fühlte. Sie war so entsetzlich einsam und die Liebe ihrer Mutter schien nicht zu helfen. Sie brauchte ihren Vater, der sie in seine Arme und sie in sein Haus nahm, um nach ihrem Leben zu fragen und zuzuhören. O Gott, einfach nur zuzuhören ...

Sie hatte Francis verloren, und alles, was ihr blieb, war ihr Daddy.

Sie würde ihn dazu bringen, dass er sie liebte. Sie würde ihn nicht als gegeben hinnehmen, wie sie es bei Francis getan hatte. Bei ihrem Daddy würde sie perfekt und geistreich und liebenswert sein. So liebenswert, dass er um die Jahre weinen würde, die er verloren hatte.

Es musste möglich sein.

Denn wenn es nicht so war - wenn er sie wirklich nicht wollte -, dann glaubte sie, das nicht überleben zu können.

 

Angel träumte, er ginge wieder über die Wiese. Diesmal war es Winter. Eine dicke glitzernde Schneedecke lag über allem und der Himmel war von einem strahlenden Blau.

Wie Francis' Augen...

Und plötzlich befand er sich in einer leeren Kirche. Er blinzelte und blickte um sich. Sonnenlicht fiel durch ein riesiges Bleiglasfenster, streute Scherben von vielfarbigem Licht über den Holzboden. Eine riesige Statue der Jungfrau Maria, aus weißem Marmor gehauen, starrte auf ihn herab, die Arme schützend um ein in Windeln gewickeltes Bündel gefaltet.

Angel drehte sich langsam um und sah eine Gruppe von Kindern in der offenen Tür stehen. Als er sich wieder umdrehte, war die Kirche voller Menschen - Eltern, die Kameras hielten und ihre Hälse reckten, um die Kinder zu sehen.

Nacheinander traten die Kinder in die Kirche ein. Sie waren alle ähnlich gekleidet - Mädchen in weißen, rüschenbesetzten Kleidern, Jungen in gebügelten schwarzen Hosen und gestärkten weißen Hemden, das Haar unnatürlich streng zurückgekämmt. Angel spürte, dass er zu lächeln begann. Es war ein Tag, an den er sich so deutlich erinnerte ...

Francis erschien zuerst, ein schlaksiger Neunjähriger mit übermäßig gestärkter schwarzer Hose, die ein winziges, kaum hörbares Geräusch von sich gab, als er ging. Angel folgte seinem großen Bruder so dicht, dass er gegen ihn stieß, als Francis plötzlich stehen blieb. Angel hörte sein Lachen durch die stille Kirche trillern, bevor er es unterdrücken konnte.

»Psst«, zischte Francis und drehte sich zu ihm um.

Angel grinste seinen Bruder breit an. »Tut mir Leid«, flüsterte er und versuchte, seine Kleidung in Ordnung zu bringen. Er zupfte an dem abgetragenen weißen Hemd und steckte es wieder in seine kleine schwarze Hose.

Dann bewegte die Reihe sich wieder. Sie marschierten an den Bankreihen vorbei und bezogen neben der Orgel ihre Plätze. Es gab einen Augenblick gedämpfter Stille, bevor das Lied begann. Eltern grinsten und beugten sich vor. Kameras klickten.

Angel rückte langsam näher zu seinem Bruder. Francis stand in der Mitte der Reihe - der größte Junge im Kirchenchor sein Rücken war steif und er hatte die Augen starr geradeaus gerichtet. Er sang das Lied mit der klaren, reinen Stimme eines wahren Gläubigen.

Angel griff langsam in seine Tasche. Seine Finger schlössen sich um den kleinen Laubfrosch, ertasteten die glatte, runde Oberfläche seines Rückens. Zentimeter um Zentimeter zog er den Frosch aus seiner Tasche heraus und setzte ihn dann behutsam, ganz behutsam auf Francis' Schulter.

Mitten in Francis' Solo stieß der Frosch ein lautes Ribbit aus und sprang auf Mary Ann McCallisters Kopf. Und danach brach die Hölle aus.

Mädchen kreischten und schlugen um sich und stoben auseinander. Die Jungen hüpften und sprangen hinter dem Frosch her. Und der Priester starrte Angel nur an und schüttelte seinen Kopf.

Angel lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. Nach einer langen Minute fiel Francis ein und die beiden standen dort und lachten inmitten des Infernos. Und schließlich wischte Francis sich die Tränen aus dem Gesicht und reichte Angel seinen ersten Kommunionsrosenkranz. »Hier, Angel«, sagte er grinsend. »Du wirst garantiert zwei brauchen.«

Francis' Worte hallten nach, während das Bild der Kirche sich verschob und zu verschwinden begann.

Plötzlich fand Angel sich auf der Wiese wieder, stand knietief in gefrierendem Schnee. Der Himmel über ihm war so schwarz wie ein Krähenflügel und Schnee fiel mit einer Heftigkeit, die ihn blendete, landete in winzigen brennenden Flecken auf seinen Wangen. Er stand allein dort, wusste nicht, was er sagen sollte, und sein Herz hämmerte in seiner Brust.

Dann kam Francis auf ihn zu, schwebte heran, streckte die Arme nach ihm aus.

Angel nahm die Hand seines Bruders und klammerte sich an sie. »Es tut mir Leid, Franco«, flüsterte er und merkte, dass er zu weinen begann. »Es tut mir Leid, Jesus Christus, es tut mir Leid...«

»Psst«, sagte Francis mit einem Lächeln, einem ruhigen, breiten Lächeln, bei dem seine Augen zu Schlitzen wurden. »Ich weiß.« Er drückte Angels Hand. »Halt dich fest, Bruder. Ich bin bei dir.«

Und Angel erwachte weinend.

 

Madelaine stand in der offenen Tür des Operationssaals 8 und überlegte, was sie mit Angel machen sollte. Allenford und seine OP-Schwester standen an dem Bett und bereiteten Angel auf seine erste Biopsie nach der Operation vor. Selbst von hier aus hörte Madelaine Angels wütende Stimme.

Seine Stimmungsschwankungen waren unberechenbar. In der einen Minute war er noch folgsam und charmant und in der nächsten - bumm\ Er bekam jene Art von Wutanfällen, die fast zur Legende wurden, bevor sie vorbei waren. Krankenschwestern hatten damit begonnen, Strohhalme zu ziehen, um zu sehen, wer seine Lebensfunktionen zu überprüfen und ihn mit Medikamenten zu versorgen hatte. Er war auf der Intensivstation zu einem gefürchteten Monster geworden.

Rein körperlich verlief alles gut. Alle intravenösen Medikamente waren abgesetzt worden, einschließlich Dopamin und Isuprel. Er machte sprunghaft Fortschritte und hatte die Intensivstation früher als die meisten Patienten verlassen können. Der Physiotherapeut hatte ihn bereits zweimal besucht und berichtet, dass er auf sei und täglich mindestens vierzig Minuten liefe. Die Blutkulturen waren negativ.

Ja, körperlich machte er prächtige Fortschritte. Seelisch war er eine Katastrophe. Er schien unfähig zu sein, sich mit der neuen Lebensweise abzufinden. Jede Pille oder Spritze und jeder Bluttest machten ihn verrückt. Er konnte die Schwellung seiner Wangen nicht ertragen und auch nicht den Gewichtsverlust, den er durch seine Krankheit erlitten hatte.

Kurz gesagt, er war meistens ungenießbar.

Aber lange würde dieser Zustand nicht mehr währen.

Bald würde Angel aus dem Krankenhaus entlassen werden und auf sich allein gestellt sein. Außer ihm selbst kümmerte sich dann niemand um ihn.

Und wenn sich nicht schnell etwas änderte, fürchtete sie, dass er das Ganze nicht ernst genug nehmen würde. War das nicht immer Angels Problem gewesen - dass er nichts ernst nahm?

Seine Medikation war etwas, das er nicht ignorieren konnte. Er musste sich an die Regeln halten, einmal in seinem Leben wenigstens. Wenn er das nicht tat ...

Sie verdrängte den Gedanken, weigerte sich, ihn weiterzuverfolgen. Angel hatte Francis' Herz - alles das, was von ihrem lachenden, blauäugigen Priester geblieben war - und sie wollte verdammt sein, wenn sie zuließ, dass er dieses Wunder einfach wegwarf.

Im Augenblick war er verloren. Sie konnte das in seinen Augen sehen, in der flüchtigen Weichheit seiner Berührung spüren. Und wann immer Angel Angst hatte, wurde er wütend. Das wusste sie, hatte es immer gewusst.

Die Frage war, was sie dagegen tun sollte.

Sie ging zu seinem Bett hinüber, nahm seine Hände in ihre.

»He, Mad«, sagte er mit schläfriger Stimme, »ich nehme an, du willst sehen, wie der alte Allenford wieder in mich reinsticht.«

Chris tauchte etwas Watte in die Jodlösung und betupfte damit eine Stelle an Angels Hals.

Angel zuckte bei der Berührung zusammen und kniff die Augen zu.

Madelaine konnte sehen, welche Angst er hatte, und sie hielt seine Hand fester. Sie wollte ihm sagen, dass alles gut sein würde, aber sie war Ärztin und wusste - ebenso wie er -, dass diese Prozedur zu wichtig war, um sich über Allgemeinplätze zu ergehen. Sie würde sie warnen, falls sein Körper Francis' Herz abstieß.

»Ich brauche mehr Valium«, murmelte er und öffnete die Augen, um sie anzusehen.

Sie versuchte zu lächeln. »Wir haben dir bereits mehr gegeben, als dir zusteht.«

Er verzog eine Hälfte des Mundes zu einem lässigen Grinsen. »Ich war noch nie gut beim Teilen meiner Drogen. Ich vertrage eine Menge - ich brauche mehr.«

Sie hörte die Gereiztheit in seiner Stimme und wünschte, sie könnte ihn beruhigen.

Er lag dort, den Kopf stark zur Seite verdreht. In dem Teil des Halses, der orangerot bemalt war, pulsierte eine dicke blaue Ader. Allenford injizierte direkt unter Angels Adamsapfel ein Lokalanästhetikum. Als das Betäubungsmittel wirkte, führte er eine Nadel in die Drosselader ein und führte das Bioptom weiter, immer weiter auf Angels Herz zu.

Alle vier Köpfe drehten sich zu dem Monitor am Fußende des Bettes. Angels Herz tauchte als ein pumpender, sich windender Schatten auf dem Bildschirm auf. Allenford knipste ein winziges Stück des Herzmuskels ab - nicht größer als ein Stecknadelkopf - und zog das Bioptom heraus.

»Das ist alles, Leute«, sagte er und lächelte, während er die Probe in einen Behälter legte und den kleinen Einschnitt verband. Er streifte die weißen Gummihandschuhe ab, warf sie in den Mülleimer und stand dann auf. »Die Ergebnisse sollten wir in ein paar Stunden haben.«

Die Operationsschwester packte alles ein und verließ das Zimmer.

Allenford nahm seine Akte und studierte die Notizen. »Beschäftigt Sie irgendwas, Angel?«

Angel drehte sich dem Chirurgen zu und starrte ihn an. »Da Sie schon fragen, ja. Mad will mir nichts über meinen Spender sagen.« Er sprach das Wort Spender aus, als schmecke es bitter auf seiner Zunge.

Chris' Blick wanderte für eine Sekunde zu ihrem Gesicht und Madelaine spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. Dann sah er wieder Angel an. »Bei diesen Dingen gibt es strenge Vorschriften, Angel. Wir haben in den Jahren unserer Praxis festgestellt, dass das Übergangsstadium besser verläuft, wenn Vertraulichkeit gewahrt bleibt.«

Angel verdrehte die Augen und richtete sich mühsam auf. Das gepunktete Krankenhaushemd war an seiner verbundenen Brust geöffnet. Das orangefarbene Jod leuchtete wie ein wütendes Brennen an seinem blassen Hals. »Ihr Ärsche von Ärzten haltet euch für Gott, aber das seid ihr nicht. Ihr seid nichts weiter als Leute, die die Universität ein paar Jahre länger als eine Zahnarzthelferin besucht haben. Ihr habt kein Recht, mit meinem Leben zu spielen.«

Allenford schaute ihn mitfühlend an. »Es ist der Schmerz und es sind die Medikamente, die Sie so reagieren lassen, Angel. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Das ist völlig normal. Natürlich wollen Sie wissen, wer Ihr Spender ist - das wollen alle Empfänger -, aber die Wahrheit ist, dass eine Kurzschlussreaktion keine gute Idee ist. Die Familie des Spenders hat ebenso ein Recht auf Geheimhaltung wie Sie.« Er beugte sich zu dem Bett vor, lehnte die Arme auf das Gitter und sah Angel eindringlich an. »Also denken Sie nicht über etwas nach, was Sie nicht ändern können. Denken Sie daran, dass bald alles allein bei Ihnen liegt. Sie können weiter über die Ungerechtigkeit all dessen fluchen oder mit dem weitermachen, was von Ihrem Leben übrig geblieben ist.«

»Ja, was macht's schon, wenn ich sterbe - das ist nur ein kleiner Patzer in Ihrer Laufbahn als Chirurg. Sie werden darüber hinwegkommen.«

Allenford runzelte die Stirn. Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Glauben Sie das, Angel?«

Angel schien vor ihren Augen zu schrumpfen. Er sank auf das Kissen und seufzte schwer. »Das ist das Problem, Doc. Ich scheine überhaupt nichts mehr zu glauben. Sie wollen, dass ich aufhöre, >über die Ungerechtigkeit all dessen zu fluchen<, und mit meinem Leben weitermache. Wie, zum Teufel, soll ich das denn tun? Wenn das Ergebnis der Biopsie negativ ausfällt, könnten mir vielleicht noch zehn Minuten bleiben. Es ist verdammt schwer, für ein solches Leben zu planen.«

»Das stimmt nicht unbedingt, Angel, und das wissen Sie. Sie könnten noch lange leben. Es gibt einen Mann in Kalifornien, der jetzt schon achtzehn Jahre ...«

»Kommen Sie mir doch nicht wieder mit Statistiken, denn sonst wird Schwester Ratchet aufwischen müssen, was ich auf den Boden gekotzt habe. Glauben Sie mir, nichts erfüllt mein Herz so sehr mit Freude wie das Wissen, dass ich ein langes, erfülltes Leben leben kann, wenn ich Karottensaft trinke und Gymnastik mache.« Er lachte bitter. »Ich habe eine zweite Lebenschance bekommen - yippie. Ich brauche mich nur wie Richard Simmons zu verhalten.«

Allenford lachte leise und richtete sich auf. »Den mit Richard Simmons kannte ich noch nicht. Ich komme wieder zu Ihnen, wenn ich die Ergebnisse der Biopsie habe. Denken Sie positiv.«

Angel schnaufte. »Hand aufs Herz und freu dich aufs Sterben.«

Allenford warf Madelaine einen bedeutungsvollen Blick zu und verließ dann den Operationssaal. Angel öffnete den Mund, um etwas zu Madelaine zu sagen, doch bevor er sprechen konnte, trat Dr. Marcus Sarandon in den Raum.

Angel verdrehte die Augen. »Oh, prächtig, noch ein Arzt. Und der sieht aus wie Malibu Ken.«

Marcus lachte laut auf. Sein Blick fiel auf Madelaine. Er verstand ihr kurzes Nicken und wandte sich wieder an Angel. »Nun, ich denke, wenn's jemand gibt, der Show durchschauen kann, dann ganz bestimmt ein Filmstar.«

Angel schenkte dem Mann ein widerwilliges Lächeln. »Die Runde geht an Sie, Doc.«

Marcus hielt ihm seine Hand hin. »Ich bin Marcus Sarandon. Ich werde ... Madelaine in Ihrem Fall vertreten.«

Angel runzelte die Stirn. »Kommt nicht in Frage.«

Madelaine trat schnell an das Bett. »Ich werde es später erklären. Hör ihm einfach zu. Er ist ein guter Kerl.«

»Ist Clint Eastwood auch. Das bedeutet nicht, dass ich ihn als Arzt haben will.«

Marcus zog ein blaues Notizbuch aus seinem Ärmel hervor. »Dies ist Ihr täglicher Kalender - Dosierungen von Medikamenten und Zeiten. Sehen Sie sich das an. Wir reden morgen darüber.«

»Ich will morgen nicht reden.«

Marcus grinste. »Der perfekte Patient. Gut. Dann werde ich reden und Sie hören zu.« Er schenkte Angel noch ein schnelles, blitzendes Lächeln und verließ dann den Raum.

Angel nahm den Medikationskalender und warf ihn durch den Raum. Er traf die nackte Wand und fiel zu Boden.

Madelaine hob ihn mit einem Seufzer auf und legte ihn vorsichtig auf das Fußende des Bettes. Dann zog sie einen Stuhl heran. »Du benimmst dich wie ein unartiges Kind.«

»Halt den Mund.«

Sie lächelte. »Eine schlagfertige Antwort, Angel. Was tust du als Nächstes - wirst du mir die Zunge rausstrecken?«

»Überspann es nicht.«

»Du machst das Leben für jeden auf dieser Etage zur Hölle.«

Er schaute sie freudlos an. »Was glaubst du, wie das für mich ist? Ich liege hier jeden Tag, werde durchstochen und abgeklopft und kontrolliert, als sei ich ein Stück Fleisch auf einem Förderband. Und ich träume weiter...« Seine Stimme wurde leiser und er wandte sich von ihr ab. »Geh weg, Mad.«

Sie rückte näher. »Was ist denn, Angel?«

Er wartete ein paar Augenblicke, bevor er antwortete. »Ich träume immer wieder von Francis. Die Träume fangen alle verschieden an, aber sie enden gleich. Wir reden kurze Zeit und dann beugt er sich über mich. Ich kann fühlen, wie mein Herz in meiner Brust schlägt, wie ein gefangener Vogel, der gegen ein Fenster stößt. Er flüstert etwas - ich kann mich nie erinnern, was es ist - und dann nimmt er meine Hand und verschwindet. Aber das ist nicht alles. Es ist, als ... sei er in mir. Gestern bat ich die dicke Oberschwester, Betty Boop oder wie sie heißt, einen anderen Radiosender einzustellen. Ich bat sie, etwas von den Beatles einzustellen.« Er seufzte. »Die Beatles, um Himmels willen. Vor der Operation habe ich nichts außer Hard Rock gehört - du weißt schon, diese Art von Musik, bei der man sich nur die Klamotten ausziehen und sich ganze Busladungen Kokain reinziehen will. Und jetzt will ich >Yesterday< hören.« Er blickte zu ihr auf und diese Augen, die immer so voller Leben gewesen zu sein schienen, wirkten trüb und farblos. »Ich hab das Gefühl, ich verliere meinen verdammten Verstand, Mad.«

Sie saß sehr still da. Ihr eigener Herzschlag flatterte in ihrer Brust. Es war durchaus üblich, dass Transplantationspatienten glaubten, von der Persönlichkeit des Spenders vereinnahmt zu sein, aber Angel wusste nicht, dass er Francis' Herz hatte. Er sollte diese Dinge nicht fühlen. Es war medizinisch nicht möglich. »Wir haben eine wundervolle Psychiaterin im Team, Angel. Sie weiß, was du durchmachst - es ist ganz normal -, und sie würde sich freuen, mit dir zu reden.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt, noch eine Ärztin. Ach ja, das Beste hast du noch gar nicht gehört. Letzte Nacht habe ich um ein Glas Milch gebeten.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Fettarme Milch ist gut für dich.«

»Wenn du mich hier mit ärztlichem Geschwätz voll sülzen willst wie irgendein medizinischer Kommunist, dann kannst du dich zum Teufel scheren. Ich versuche, mit dir zu reden, Mad. Ich versuche, dir zu erzählen ...« Er stieß einen schweren Seufzer aus und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. »Ist ja auch egal.«

Sie rückte näher. »Was?«

Er schaute zu ihr auf und die Traurigkeit in seinen Augen brach ihr fast das Herz. »Ihr Ärzte bietet mir ständig >Leben< an, als ob das eine Bombenrolle in einem Streifen von Spielberg sei, aber es ist nicht mein Leben, Mad. Dieses Herz ist wie ein Schuh, der nicht richtig passt. Es lässt mich nie vergessen, dass ich nicht mit ihm geboren wurde. Vielleicht, wenn Francis lebte oder ich jemand hätte, mit dem ich reden könnte, jemand, der meine Hand nehmen könnte und mir helfen würde, mich irgendwohin führte ... ich weiß nicht. Ich fühle mich wie ein Monster.«

Sie streckte eine Hand nach ihm aus, ergriff seine und drückte sie sanft. »Ich bin für dich da, Angel.«

Er versuchte zu lächeln. »Ich will dich nicht kränken, Mad, aber du bist wie eine Fata Morgana, die ich sehen, aber nicht berühren kann. Manchmal denke ich, ich hätte unsere gemeinsame Zeit nur geträumt. Dieser verrückte, verknallte Junge könnte ich nicht gewesen sein. Nein, der Junge, der auf einer brandneuen Harley aus der Stadt gedröhnt ist, dieser Junge war ich.«

Sie starrte auf ihn hinab, sah den Schmerz und die Einsamkeit, die in seinen grünen Augen spukten. In diesem Moment sorgte sie sich so sehr um ihn, dass das Gefühl fast wie ein Schmerz in ihrer Brust war. Er litt jetzt, trauerte um sich und seinen Bruder, den er verloren hatte. Sie wusste, was für ein Gefühl es war, plötzlich jemand zu verlieren. Alles, was einem blieb, war Glaube, und wenn man den nicht hatte, konnte einen die Leere völlig verschlingen.

Und Angel hatte nie wirklich an etwas geglaubt, am allerwenigsten an sich selbst.

»Ein Traum, den du im Lauf der Zeit vergessen hast.« Sie beugte sich zu ihm. »Hast du mich vergessen, Angel?«

In der Sekunde, in der sie die schicksalhafte Frage stellte, sah sie die Antwort in seinen Augen, das Aufblitzen von Sehnen, die Furcht vor Ablehnung. »Nein«, erwiderte er leise.

»Ich weiß, dass ich nicht Francis bin. Ich weiß, dass ich nicht zur Familie gehöre, aber ich bin für dich da und ich werde nirgendwo hingehen.«

»Versprochen?«, fragte er mit heiserer Stimme.

Madelaine nickte. »Darum kann ich nicht länger deine Kardiologin sein. Von jetzt an werde ich Marcus Sarandon diese Aufgabe überlassen. Er ist ein ausgezeichneter Arzt. Ich werde dennoch für dich da sein, wann immer du willst... als deine Freundin.«

Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht...«

»Ich bin emotional zu vorbelastet.« Sie schluckte schwer und sagte leise: »Ich sorge mich zu sehr um dich.«

Er schwieg für eine lange Minute, musterte sie und sagte dann: »Ich habe dich nicht verdient, Mad.«

Sie schenkte ihm ein schnelles, zögerndes Lächeln. »Das hast du nie.«

»Ja, frag nur Fr...«

»Francis«, schloss sie und ihr Lächeln schwand. Schweigen senkte sich schwer zwischen sie.

»Er liebte dich«, erzählte Angel ihr und schaute sie ruhig an, während er sprach.

Für einen Augenblick war der Kummer so stark, dass sie nicht sprechen konnte. Schließlich nickte sie. »Er liebte dich auch.«

»Ich vermisse ihn. Es ist seltsam ... in all diesen Jahren der Trennung wusste ich immer, dass er nur einen Anruf entfernt war. Ich habe selten an ihn gedacht, und wenn ich's tat, lachte ich und genehmigte mir noch einen Drink und nahm mir vor, ihn am nächsten Morgen anzurufen. Natürlich tat ich das nie. Und jetzt ist er fort, manchmal vermisse ich ihn so sehr ...«

Madelaine konnte nicht dagegen an. Sie trat zu ihm. Sie legte die Hände auf seine Wangen, starrte in sein schönes Gesicht, schaute tief, tief in seine Augen.

Francis, dachte sie. Bist du da? Du solltest jetzt besser da sein...

Sie musste ihm eine Chance geben - ihnen allen. Es war an der Zeit.

»Er ist nicht die einzige Familie, die du hast, weißt du«, sagte sie ruhig.

Angel schaute sie stirnrunzelnd an. Sie wusste genau, in welchem Augenblick er verstand, was sie da sagte - sein Stirnrunzeln verflog und eine kalte, tiefe Furcht weitete seine Augen. Er schüttelte den Kopf. »Tu das nicht, Mad«, sagte er, noch immer den Kopf schüttelnd. »Tu mir das nicht an.«

Madelaine wandte ihren Blick nicht ab. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich stark und als Herrin der Lage, und Gott, es war ein gutes Gefühl. Sie schenkte ihm ein tiefes, ruhiges Lächeln. »Ihr Name ist Lina.«