Kapitel 17
Lina konnte es nicht ertragen, im Haus zu sein. Wohin sie auch blickte, entdeckte sie Erinnerungen an Francis.
Sie stand auf der Veranda und starrte auf die ersten rosa Streifen der Dämmerung, die über die schon dunkle Straße krochen. Ihre Lunge schmerzte von der Zigarette, die sie geraucht hatte, und ihre Augen brannten vom Weinen. Sie fühlte sich wackelig und leer und traurig ... O Gott, wie konnte man nur so traurig sein?
Sie biss sich auf die Unterlippe und spürte wieder das Brennen in den Augen. Sie wandte sich ab und sah die Hollywoodschaukel - die er ihnen letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte - und plötzlich begann sie wieder zu weinen.
Komm zurück, Francis. Es tut mir so Leid. O Gott, es tut mir so Leid ...
In irgendeinem düsteren Teil ihres Verstandes hörte sie das Winseln eines Automotors. Sie blickte benommen auf und sah den Wagen ihrer Mutter die Auffahrt hochkommen. Sie trat an den Rand des Geländers und blieb dort stehen.
Mom stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen. Das Bumms der zuschlagenden Tür des Volvo wirkte in der frühabendlichen Stille geradezu unanständig laut. Sie hatte die Hälfte des Weges, der zur Haustür führte, zurückgelegt, als sie Lina auf der düsteren Veranda erblickte.
Mom stieg die knarrenden Stufen hoch und blieb stehen, lehnte sich an das von Glyzinien umrankte weiße Geländer. Ihr Blick fiel kurz auf den Aschenbecher auf dem Boden, auf die Zigarettenkippen, die überall verstreut lagen. Aber als sie Lina ansah, sagte sie kein Wort.
Tränen stiegen in die Augen ihrer Mutter, und sie trat vor und breitete ihre Arme aus.
Lina begab sich hölzern in die Umarmung ihrer Mutter, spürte, wie die warmen Arme sie liebevoll umfingen, und plötzlich war sie wieder ein Kind, sechs Jahre alt, und sie wollte glauben, dass ihre Mutter einfach alles besser machen konnte.
Sie wartete darauf, dass ihre Mutter etwas sagte, Lina irgendwelche magischen, wunderbaren Worte nennen würde, die die Uhr zurückdrehen würden.
Aber ihre Mutter sagte nichts, sondern hielt sie nur.
Und da wusste Lina es. Es würde nie wieder in Ordnung sein.
Er sitzt auf der Verandaschaukel und versucht, sie zum Schwingen zu bringen, aber die Holzleisten bleiben völlig bewegungslos. Die Luft ist dick und schwer und riecht nach nichts. Vorher hatte er nicht wissen können, was das ist, dieses Nichts, aber jetzt weiß er es. Er versucht, sich an die Millionen Düfte zu erinnern, die sonst vorne um ihre Veranda schwebten. Rosen und frisch geschnittenes Gras, die fruchtbare Feuchtigkeit von lehmiger Erde, wenn der Regen kam, der Geruch des Windes selbst, wenn er Blätter über den Bürgersteig wehte. Selbst die toten braunen Glyzinienranken, die sich um ihr weißes Geländer schlangen, hatten ihren eigenen winterlichen Geruch.
Jetzt ist dort nichts. Der Wind geht an ihm vorbei. Er kann sehen, wie er die gefallenen Blätter berührt, sie in winzigen Wirbeln auf dem braunen Gras zusammentreibt, aber keines davon berührt ihn dort, wo er auf der Verandaschaukel sitzt, die er nicht in Bewegung versetzen kann.
Er wartet darauf, dass etwas geschieht. Das ist alles, was er weiß. Da drüben ist eine Bewegung, die sich außerhalb seiner Reichweite vollzieht. Er spürt dies so, wie er einst den Regen auf seinen Wangen oder den Wind in seinem Rücken spürte. Etwas bleibt ihm noch zu tun.
Er hat gelernt, dass er sich, wenn er sich sehr, sehr angestrengt konzentriert, in ihrem Hause orientieren kann, zwischen ihren Dingen umhergehen kann, nach Kleinigkeiten greifen kann - Erinnerungsstücke an eine Vergangenheit, die er immer schneller vergisst. Aber es macht ihn müde, all dieses Denken, bringt ihn dazu, Dinge zu spüren, die ihn schmerzen, und wenn er fertig damit ist, wünschte er sich, sich nicht bewegt zu haben, einfach auf dieser Schaukel sitzen geblieben zu sein, auf der er sich so zu Hause fühlt.
Gestern Abend war Lina neben ihm, und als sie sich setzte, spürte er, wie die Schaukel knackte und sich unter ihm bewegte. So sehr, dass er die Bewegung des Windes fast spüren, das Knarren der Holzlatten fast hören konnte. Aber am Ende glaubt er, dass es einfach nur eine Erinnerung war, dass er all diese Dinge überhaupt nicht hören könne.
Sie hatte geweint, sein kostbares Baby, und in irgendeinem Winkel seiner Seele hatte er gewusst, dass sie um ihn geweint hatte. Er hatte sich danach gesehnt, sie zu berühren, sie zu trösten, aber er konnte sich bei ihrem heftigen Schluchzen, das ihn überschwemmte, nicht konzentrieren. So hatte er getan, was er tun konnte, die Kraft genutzt, die zusammengerollt in der Leere seines Bauches lag. Er hatte die Augen fest geschlossen und in Gedanken zu ihr gesprochen. Worte, klägliche Reste von Worten, derer er sich kaum erinnern konnte.
Ich bin hier, Lina, ich bin hier...
Er hatte diese Worte wieder und wieder und immer wieder gedacht, aber dennoch waren ihre Tränen weiter geflossen, hatten ihn durchdrungen, ihm Schmerzen bereitet.
Schließlich war sie ins Haus gegangen und er war ihr gefolgt, war von Zimmer zu Zimmer gewandert, hatte verzweifelt gehofft zu fühlen, dass er in dieses Haus gehöre, das einzige wirkliche Heim, das er je gekannt hatte. Aber mit dem Vergehen der Zeit hatte er gespürt, wie er schwächer und schwächer wurde. Einmal, als er nach unten blickte, konnte er seine Füße nicht sehen und in der nächsten Sekunde begannen seine Beine zu verschwinden. Schließlich hatte er sich am Fußende ihres Bettes wie eine Katze zusammengerollt und die Augen geschlossen.
Das Nächste, was er weiß, ist, dass er wieder hier ist, auf der Verandaschaukel sitzt. Sonnenschein ist rings um ihn, fällt aus flauschigen Wolken, die hoch an einem klaren, blauen Himmel hängen. Ein letztes gelbbraunes Blatt fällt raschelnd von einer Glyzinienranke und sinkt auf den Rasen.
Er blickt nach unten und seine Füße sind noch immer verschwunden, seine Beine ein unbeständiges Schimmern von Schatten vor der weißen Farbe der Dielen der Veranda. Er fragt sich, wie lange das so weitergehen wird, dieses langsame Verschwinden, und was aus ihm werden wird, wenn es vorbei ist.
Und so wartet er.
Angel lag sehr still da. Alles war dunkel. Er konnte Geräusche hören, Geräusche, die ein verwirrendes, erschreckendes Getöse waren. Er blinzelte, versuchte, die Augen zu öffnen. Es gelang ihm nicht.
»Angel?«
Er hörte ihre Stimme, die von irgendwo aus der Dunkelheit zu ihm drang. Er brauchte sie plötzlich, brauchte sie so sehr... Er versuchte wieder, die Augen zu öffnen. Seine Lider zuckten. Es kostete so viel Energie ...
Er hörte wieder ihre Stimme, die ihm gut zuredete, seinen Namen flüsterte. Er kämpfte, um die Schichten von Baumwolle und Nebel, die sich um ihn ballten, beiseite zu schieben. Schließlich öffnete sich ein Auge langsam und Licht traf ihn, ließ ihn wieder enteilen, den tröstenden Schatten zu.
»Komm schon, Angel, öffne deine Augen.«
Langsam, zögernd versuchte er es wieder. Und fand sie neben sich sitzend, ihr maskiertes Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt. Für einen Sekundenbruchteil war er wieder siebzehn und sie war seine Madelaine, wartete auf ihn.
Er versuchte sich zu erinnern, wo er war, warum sie hier war.
Dann bemerkte er seinen Herzschlag, kräftig und gleichmäßig. Ta-dum, ta-dum, ta-dum.
Er presste seine Augen fest zu, und alles, was er hören konnte, war das Hämmern seines - oder das von jemand anderem -Herzens in seiner Brust, sein Pochen unter seiner Haut. Er wollte nach den Nadeln und Schläuchen greifen und alles herausreißen, aber seine Hände waren schwach und zitterten.
Nie zuvor hatte er solch ein vernichtendes Gefühl von Vergewaltigung erlebt, von Verlust. Er fühlte sich überfallen. Das Herz des Fremden gehörte ihm nicht. Er spürte es bei jedem Atemzug, zu laut pochend, schmerzend in seiner geschundenen Brust. Wo war sein eigenes Herz? Es war zwar schwach und nutzlos gewesen, hatte aber ihm gehört, und jetzt war es weg. Lag irgendwo im Abfall...
Sein Herz, das Lagerhaus seiner Seele, seiner Träume, seiner Ideen...
»O Gott...«, flüsterte er mit einer krächzenden, brüchigen Stimme, die er nicht wiedererkannte. Panik überkam ihn.
Gott, es war nicht einmal mehr seine Stimme. Nichts von ihm war übrig geblieben, nichts...
Dann bremste ein Wort seinen Sturz, ließ ihn atemlos und zitternd und noch verängstigter, als er je zuvor in seinem Leben gewesen war, zurück. SPENDER.
Er zwang seine Augen wieder auf und starrte zu Madelaine auf. Er wusste, dass er weinte, konnte spüren, wie die Tränen über seine Wangen rannen. Aber es war ihm egal. »Wer?«
Sie zuckte zusammen, als sei sie von einem Schlag getroffen. »Angel«, sagte sie mit einer Stimme, die für eine Sekunde so ruhig war, dass er schwankte. Er wollte nichts weiter, als in diese Stimme fallen, in diesen Blick ihrer Augen. »Denk jetzt nicht über diese Dinge nach. Entspann dich einfach. Die Operation ist gut verlaufen. Du machst gute Fortschritte. Dein Zustand ist gut. Gut.«
Die Operation. Er dachte wieder an sein Herz, sein eigenes, wertloses Herz, und die Tränen flössen weiter und weiter. Er hatte das Gefühl, zu trauern, aber er wusste nicht, für wen, für was. Er wusste nur, dass dieses Herz nicht seins war, aber es war in ihm, klopfte zu laut, pumpte zu effizient. Seine Hände und seine Füße waren unangenehm warm und plötzlich zog er die kalte Taubheit, die er zuvor gespürt hatte, diesem ... Ding vor, das in ihm schlug.
Die Frage kam wieder, lastete auf seinem klopfenden Herz. "Wessen Herz war das? Er wollte die Frage wieder stellen, eine Antwort verlangen, konnte es aber nicht, konnte entweder die Worte nicht bilden oder sie nicht durch seine wunde, brennende Kehle zwingen. Er fragte sich plötzlich, ob er es wirklich wissen wollte. Lieber Gott - will ich wirklich wissen, wer in mir ist, mich am Leben erhält, meine Hände und Zehen wärmt?
Madelaine streichelte die eine Seite seines Gesichts und es fühlte sich so gut an, so gut. Er schloss wieder die Augen und schüttelte den Kopf. Er wollte etwas zu ihr sagen, aber was? Was?
Die Dunkelheit kehrte wieder zu ihm zurück, streckte ihre stummen Finger aus, zog ihn zurück in diesen dunklen Kokon, in dem er sich an nichts erinnerte, ihm alles egal war.
»Angel, du wirst gesund werden, alles wird gut werden«, kam ihre Stimme wieder, tröstend, beruhigend. »Du wirst dich besser fühlen, wenn die Narkosenachwirkungen vorbei sind. Vertrau mir. Du erlebst im Augenblick eine Desorientierung. Das ist normal. Das war zu erwarten. Mach dir keine Sorgen.«
Er drehte den Kopf ein wenig, spürte, wie das Kissen unter seiner Wange nachgab. Das EKG-Gerät neben ihm spuckte Unmengen von Papier aus, zeigte seine hellrosa Herzlinie auf dem schwarzen Bildschirm. Für eine Sekunde konnte er nicht deutlich sehen, konnte nicht klar erkennen, was er sah. Dann begriff er plötzlich. Auf dem Computerbildschirm liefen zwei verschwommene Linien nebeneinander, wo zuvor nur eine gewesen war.
Furcht stieg in ihm auf, durchdrang ihn mit einer Welle nach der anderen. Er begann zu zittern, spürte, wie sich in seinem Inneren alles verkrampfte.
Dann schaute er wieder auf den Monitor. Er zeigte nur einen Herzschlag. Die Erkenntnis, dass es nur eine Halluzination gewesen war, hätte ihn beruhigen sollen. Doch das geschah nicht.
Er spürte, wie die Medikamente durch seinen Blutkreislauf wirbelten, seine Bewegung lähmten, sein Sehvermögen beeinträchtigten, aber es war egal. Das Herz des Fremden schlug weiter und weiter und weiter ...
»O Gott«, wimmerte er. Er hatte sich noch nie in seinem Leben so elend gefühlt oder solche Angst gehabt. »Du hättest mich sterben lassen sollen.«
»Entspann dich doch einfach, Angel. Entspann dich. Wir reden später.«
Er spürte, dass sie seine Hand drückte, spürte, dass sie seine tränennasse Wange streichelte, und er wollte von ihr getröstet werden, sehnte sich geradezu danach.
Aber er konnte es nicht. Es war egal, was sie später sagen würde, was normal sei oder zu erwarten gewesen war, wie sie erzählt hatte. Er kannte die Wahrheit, kannte sie mit jedem Schlag des Herzens des Fremden.
Jemand lebte in ihm.
Es war kalt an dem düsteren Flussbett, an dem Lina allein stand, auf ihre Freunde wartete, um am Ufer entlangzulaufen. Sie würden wie immer auf dem Hang auftauchen, einer nach dem anderen, ihre Körper silhouettenhaft gegen das kalte Blau eines Herbsthimmels gezeichnet, ihre Hände tief in die Taschen gesteckt, Zigaretten aus den Mundwinkeln baumelnd. Sie hatte sie reden gehört, bevor sie den Gipfel des Hügels erreichten, und ihre Stimmen waren hoch und ausgelassen.
Es löste immer einen kurzen stechenden Schmerz von Sehnsucht in ihr aus, dieser erste Klang ihrer lachend geführten Unterhaltungen. Sie stand dann auf, reckte den Hals, um das erste vertraute Gesicht zu sehen, das erste »He, Lina! Halt den Platz für mich frei!«, gerufen zu hören.
Wann immer sie den Hohlweg hinab auf sie zugeschwankt kamen, ihre Tennisschuhe durch das feuchte Herbstlaub rutschten und schlitterten, ihre Rucksäcke auf ihren Rücken tanzten, hatte sie - für einige kurze, schöne Augenblicke - das Gefühl, zu ihnen zu gehören.
Die Bande traf sich hier jeden Morgen vor der Schule, sammelte sich wie verlorene Seelen, zueinander hingezogen, um Zigaretten, Schnaps, Hasch und eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl zu teilen.
Sie waren die »missratenen« Kinder, die Problemkinder. Jeder wusste das, von den Lehrern über die Studienberater bis hin zum Direktor. Einmal in jedem Schulhalbjahr kam einer der neuen Lehrer diesen bröckelnden Erdwall heruntergeeilt, richtete anklagend einen Finger auf sie und schalt sie alle. Doch am Ende des Jahres würde dieser Lehrer müde sein und es würde viele weitere Tage geben, an denen sie hier allein standen, miteinander sprachen, über ihren eigenen Mut lachten, sich für unbesiegbar hielten.
Aber Lina fühlte sich nicht mehr unbesiegbar und nichts, was so leicht erhältlich war wie ein paar Zigaretten, würde den Schmerz lindern, der auf ihre Lunge drückte, so stark, dass sie manchmal glaubte, nicht atmen zu können, ohne dabei anzufangen zu weinen.
Sie steckte die Hände in ihre weiten, verschlissenen Jeans und setzte sich auf einen bemoosten Fels. Zwei hoch aufragende Kiefern standen gelassen zu beiden Seiten von ihr, ihre anmutigen Äste nach unten gesenkt, einem Schirm gleich, der nach einem Regen halb offen gelassen worden war.
»He, Lina!« Es war Jett, der auf dem Kamm des Hügels stand, ganz in Schwarz gekleidet, sein kurz geschnittenes Haar dazu passend gefärbt. Er sprang wie ein Skiläufer über den Rand, die Knie angezogen, die Arme weit ausgestreckt. Seine Schuhe trafen hart auf den Boden und rutschten unter ihm weg. Mit einem juchzenden Schrei rannte er den ganzen Weg hinunter, sprang über den Bach und kam neben ihr atemlos zum Halt.
Sie starrte ihn an, diesen Jungen, in den sie seit fast zwei Jahren verknallt war, und hatte plötzlich das Gefühl, ihn vorher nie gesehen zu haben. Das löste in ihrem Bauch leichte Übelkeit aus und sie fühlte sich unsicher, als sie sich erhob.
Er grinste sie an, ließ seine weißen Zähne blitzen. »Kann ich mir 'ne Zigarette schnorren?«
Es war immer das Erste, was er zu ihr sagte. »Sicher«, murmelte sie, griff in ihre Ledertasche und zog ein Päckchen heraus. In der Sekunde, als sie es berührte, wusste sie, dass es leer war. Sie verzog überrascht das Gesicht. Wann hatte sie all diese Zigaretten geraucht?
Dann erinnerte sie sich an die letzte Nacht, als sie auf dem SeaTac-Flughafen gelandet waren. Mom hatte Lina in ein Taxi gesetzt und sie nach Hause geschickt.
In dieses leere Haus, wo überall Bilder von Francis hingen. Wohin sie auch schaute, es war, als ob sie ihn überall sah, spürte, hörte. Schließlich war sie aus ihrem Zimmer gerannt, hatte sich auf die Verandaschaukel gehockt - auf die, die er ihnen letztes Jahr zu Weihnachten gekauft hatte - und hatte geweint und geraucht, bis ihre Mutter heimgekommen war.
»Tut mir Leid«, sagte sie und blickte zu Jett auf. »Ich glaube, ich hab keine mehr.«
Seine Enttäuschung war offensichtlich. »Kein Problem.«
So standen sie noch einen weiteren Moment da, warteten darauf, dass die anderen kamen. Gestern hätte sie versucht, mit ihm zu sprechen, hätte versucht, irgendein Thema aus der frostigen Luft ringsum zu greifen und sich an jedes Wort geklammert, das er ihr gab, aber heute war sie zu müde, um auch nur diese Mühe aufzuwenden.
Sie hörte das Geplapper ferner Gespräche und blickte in dem Moment auf, als fünf oder sechs Jugendliche über die Hügelkuppe sprangen und nach unten schlitterten. Binnen weniger Sekunden standen alle am Fluss mit brennenden Zigaretten, laut redend und lachend.
Lina sah sie an, schaute von einem Gesicht zum anderen und spürte ein sich verstärkendes Gefühl von Verwirrung. Warum fühlte sie sich hier, wo sie doch bei ihren Freunden war, so einsam, dass ihr nach Weinen zumute war?
Es dauerte eine Sekunde, um zu begreifen, dass niemand mit ihr sprach, eine weitere Sekunde, um zu erkennen, dass es ihr egal war.
Jett zog eine Thermosflasche aus seinem Rucksack und schraubte den Deckel ab. Mit einem Grinsen sagte er: »Kahlüa und Cola. Möchte jemand?«
Alle jubelten und griffen nach der Thermosflasche. Aber bevor Jeff den ersten Schluck nehmen konnte, tauchte eine weitere Silhouette auf dem Hügel auf.
»Ihr geht sofort zurück zur Schule. Vor fünf Minuten hat es zum ersten Mal geläutet.«
Alle blickten gleichzeitig auf und sahen Vicki Owen, die neue Beratungslehrerin, hoch über ihnen stehen. Direktor Smithson, der neben ihr stand, wirkte erschöpft und müde und Lina war von seinem Gesichtsausdruck nicht überrascht. Smithson hatte diesen Hohlweg ein paar tausendmal zu oft kontrolliert, um zu glauben, dass es irgendetwas ändern würde.
Die Jugendlichen lachten darüber, dass sie erwischt worden waren, und warfen ihre noch brennenden Zigaretten in den Fluss. Lina beobachtete, wie die weißen Kippen wirbelten, sich mit den gefallenen Blättern vermischten und flussabwärts trieben. Ihr kam der Gedanke, dass ein Vogel diesen kleinen weißen Zylinder sehen und sich darauf stürzen könnte, das tödliche, von Menschen geschaffene Ding verschluckte, bevor er verstand, was geschehen war.
»Du, Lina Hillyard, ich möchte mit dir reden.«
Es war Miss Owens Stimme. Lina blickte auf und merkte, dass sie die Einzige war, die noch am Fluss stand. Die anderen und Direktor Smithson waren gegangen. Der einzige Beweis dafür, dass sie hier gewesen waren, war eine Rutschspur in dem weichen Lehm, die durch das Laub und den Farn schnitt.
Lina sprang mit einem Seufzer über den Fluss und erklomm das Ufer. Oben blieb sie neben Miss Owen stehen und sah dann ihre Mutter, nur wenige Meter entfernt.
Lina verdrehte die Augen. »Toll.«
Miss Owen trat beiseite, zog sich dann wortlos zurück. Lina schaute zu, wie die Beratungslehrerin über das Footballfeld ging und in der Schule verschwand.
Schließlich drehte sie sich um und sah ihre Mutter an. Sie stand etwa drei Meter entfernt. Ihr Haar war wirr und ungekämmt, die Augen geschwollen und rot. So hatten sie beide in diesen zwei Tagen seit Francis' Tod ausgesehen. Die Leichtverwundeten.
»Was willst du?«, sagte sie barsch, obwohl sie wusste, was ihre Mutter wollte - wusste, dass es das war, was sie beide wollten. Trost, Erleichterung von dem heftigen Schmerz. Aber es gab keinen Trost. Lina hatte das schmerzlich erfahren müssen. Es kam einfach wieder, schlängelte sich wie eine Schlange durch die Gedanken, schlug in dem Augenblick zu, wenn man es am wenigsten erwartete. Jedes Mal, wenn das Telefon läutete, dachte Lina, es sei Francis - und dann wuschl, der Schlangenbiss.
Ihre Mutter schwieg lange, bevor sie sprach. Eine Stille entstand, in der Lina das Krächzen der Krähen hörte und das ferne Winseln eines Laubsaugers. »Vicki Owen rief mich heute Morgen an und sagte mir, wo du bist. Ich dachte ... ich dachte, wir sollten miteinander reden.«
Lina schluckte schwer. »Bringt ihn das zurück, Mom?«
Sie schüttelte den Kopf. »Komm, Schatz. Lauf ein Stück mit mir.«
Sie starrte ihre Mutter an, sah, wie Madelaine sich abwandte und langsam zu den leeren Tribünen hinüberging. Lina wollte ihr nicht folgen, dachte daran, einfach wegzugehen -irgendwohin. Aber sie wollte nicht allein sein und ihre Mutter war der einzige Mensch, der wirklich verstand, was Lina fühlte.
Sie folgte ihrer Mutter über das Footballfeld und hoch zu den Tribünen. Sie saßen Seite an Seite, weit genug auseinander, dass sie sich nicht berührten und doch irgendwie zusammen zwischen all diesen leeren Sitzen.
Lina sah sich um, schaute auf die schwarze Anzeigetafel, die weder für Heimmannschaft noch Gäste Einträge zeigte. Eine schwarze Katze schlich heran und kroch über den Holzzaun, den Schwanz durch das Zeichen gesteckt, das stolz verkündete, dass dieser Ort das Heim der Panthers war.
Natürlich war Lina schon hier gewesen, aber niemals zu einem Spiel. Sie hatte nie das Zusammenprallen der Helme gehört oder das Gebrüll der Menge, war niemals mit einer Gruppe von Freunden hier gewesen, um zuzuschauen, wie ihr Team gegen ein anderes kämpfte.
Vor Jahren hatte sie das tun wollen, damals, als sie in der siebten Klasse und Cara Milston ihre beste Freundin war. Sie hatte versucht, ihre Mutter zu überreden, mit ihr zu einem Spiel zu gehen, aber das war der Anfang von Madelaines »geschäftigen Tagen« gewesen. Tage und Nächte und weitere Tage, die zu nie endenden Schichten im Krankenhaus verschmolzen. In diesem Jahr hatte es nur wenige Heimspiele gegeben, aber Madelaine hatte zu keinem davon gehen können. Im darauf folgenden Jahr hatte Lina eine Gruppe von Freunden gefunden, die sich nicht bei einem Footballspiel langweilen wollten. Stattdessen verbrachten sie ihre Freitagabende unten am Fluss, schluckten alles an Alkohol, was sie irgendwie besorgen konnten, und rauchten Kette.
Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn Lina einen Bruder gehabt hätte oder einen Freund, oder wenn sie und Cara die besten Freundinnen geblieben wären. Oder vielleicht hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ihre Mom zur Highschool gegangen wäre.
»Du hast nie mehr gefragt, ob du zu einem Footballspiel gehen kannst«, sagte Mom leise.
»Na ja, ich hatte bessere Dinge zu tun.«
»Wie rauchen, unten am Fluss?«
Lina zuckte die Achseln und schaute sich auf der Tribüne um, sah die Schicht von Einwickelpapier und altem Popcorn und verschütteter Cola, die haufenweise auf dem Metallboden klebte. »Ich dachte, du wolltest reden.«
Eine lange Pause entstand. Dann begann ihre Mutter zu sprechen, langsam und ruhig. »Ich war sechs Jahre alt, als meine Mom starb. Eines Abends gab ich ihr einen Gutenachtkuss und ging ins Bett... Als ich aufwachte, war sie tot. Niemand hatte mir sagen wollen, wie krank sie war - mein Dad hielt es, glaube ich, für unwichtig, ein kleines Mädchen auf den Verlust seiner Mutter vorzubereiten. Aber da waren so viele Dinge, die ich nie sagen konnte.« In der Stimme ihrer Mutter klang eine überraschende Bitterkeit mit, eine Härte, die sie nie zuvor gehört hatte. Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Danach sah ich die Welt anders. Ich wusste, dass sie kein sicherer Ort war.«
Lina spürte, dass die Tränen wiederkamen, stechend, brennend. Sie überlegte, ob sie sie wegwischen sollte, kümmerte sich dann aber nicht darum. »Er - er war immer für mich da.«
»Das ist er noch, mein Schatz.«
Lina schniefte und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Komm mir nicht mit diesem Kram von Gott. Das hilft nicht.«
»Du kannst es Gott nennen oder Jesus oder Allah oder Hokuspokus. Das ist egal. Was allein zählt, ist, dass du in dich schaust und entdeckst, was du glaubst. Tust du das nicht, hast du nichts, an dem du dich festhalten kannst, nichts, an das du glauben kannst, und alles wird anfangen zu zerfallen. Glaube mir, ich weiß das.«
»Ich will jetzt nicht über diesen Kram nachdenken«, sagte sie mit einer winzigen, gebrochenen Stimme. »Wenn ich das tue, endet das damit, dass ich daran denke, dass er weg ist, dass er niemals zurückkommen wird und wie sehr ich ihn vermisse. «
»Wenn Francis hier wäre, jetzt, in diesem Augenblick, was würde er dann zu dir sagen?«
Für einen Sekundenbruchteil konnte sie ihn fast neben sich spüren, ihn in ihr Ohr flüstern hören. Ein trauriges kleines Lächeln zupfte an ihren Lippen. »Er würde mir sagen, dass ich diese Bande von Verlierern, die meine Freunde sind, sausen lassen und nach Hause gehen soll.«
»Verstehst du jetzt? Er ist da, in dir. Das wird er immer sein.«
Lina wollte lächeln, wollte es so sehr, aber sie konnte es nicht. »Er hasste meine Freunde. Er meinte, mit ihnen sei es nicht weit her.«
Madelaine antwortete darauf nicht, aber ihr Schweigen schien alles zu sagen.
»Ich weiß, dass er Recht hat«, sagte Lina zitternd, »aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Habe ich nie gewusst.«
»Die längste Reise fängt mit einem einzigen Schritt an. Vielleicht solltest du zum Weihnachtsball gehen. Da wirst du völlig andere Menschen sehen. Ein so hübsches Mädchen wie du wird sofort einen Partner finden.«
Lina verdrehte ihre Augen. »Ach, Mom. Jett Rodham würde nie auf so was Doofes wie einen Schulball gehen.«
»Und was ist mit dir, Lina? Möchtest du hingehen?«
Es war genau das, womit Francis gekommen wäre. Lina dachte darüber nach und wünschte sich sofort, es nicht getan zu haben. Der Gedanke, bei einem Schulball dabei zu sein, war, oh, so verlockend. Sie dachte daran, was sie anziehen würde, wie sie sich frisieren würde, wie sie die Treppe herunterkam und das Foto von ihr mit einem Jungen gemacht werden würde, der scheu in die Kamera lächelte. Sie dachte an ihre Mutter, die über beide Ohren grinste, einen Arm um Francis' Hüfte gelegt ...
Nein. Francis würde nicht dort sein. Er würde nie wieder da sein ...
Lina sprang auf. »Komm mir ja nicht mit solchen Sachen«, zischte sie. Es schmerzte so sehr, ihn zu vermissen. Sie hätte nie geglaubt, dass etwas so wehtun könnte. »So lebe ich nun mal nicht, verdammt. Es ist zu spät für mich, eine idiotische Ballkönigin zu werden, so schicklich und sittsam. Ich komme ganz gut allein zurecht.«
»Oh, Schätzchen ...«, sagte Madelaine mit einem Seufzer und streckte die Arme nach ihr aus.
Lina konnte die Liebe ihrer Mutter spüren - eine Hitze, die nur Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite lag. Aber sie konnte das Bild nicht verdrängen, wie sie zum Schulball ging, von Francis und ihrer Mutter, die auf sie warteten.
Der Gedanke an ihn verdrehte ihr Inneres zu einem festen, hämmernden Knoten. Wortlos wandte sie sich von dem traurigen Gesicht ihrer Mutter ab und rannte über das Footballfeld. Sie wusste nicht, wohin sie lief. Es war auch völlig egal.
Sie wusste nur, dass sie laufen musste.