Kapitel 27
Lina hielt ihr Fahrrad am Ende des Zufahrtsweges an. Die Lichter im Haus brannten. Sie konnte Schatten sehen, die sich hinter dem Wohnzimmerfenster bewegten. Ein sich verstärkendes Gefühl von Scham erfüllte sie, aber sie verdrängte es.
Sie schob das Fahrrad die Auffahrt hoch und lehnte es an die Mauer. Langsam stieg sie die knarrende Verandatreppe hoch und blieb vor der Haustür stehen. Sie wappnete sich, drehte den Türknopf und öffnete die Tür.
Ihre Mutter und ihr Vater standen an gegenüberliegenden Enden des Raumes. Sie drehten sich gleichzeitig zur Türe um und erstarrten.
Ihre Mutter lächelte sie an mit einem zärtlichen, verstehenden Lächeln, bei dem Lina am liebsten wieder zu weinen begonnen hätte. »Hallo, mein Schatz.«
Lina sah ihren Vater an - aber der schaute rasch beiseite. Die Panik, die sie unterdrückt hatte, erfasste sie, erfüllte sie ganz. Sie hatte es verdorben, mit ihrem dummen Kleinmädchen-Wutausbruch hatte sie alles verdorben. Sie rannte zu ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie schaltete die Stereoanlage ein und drehte die Musik ohrenbetäubend laut auf.
Sie ließ sich auf das Bett sinken und versuchte zu weinen, aber die Tränen, die so heftig brannten, wollten nicht kommen. Sie beugte die Schultern vor und ließ den Kopf hängen, starrte auf ihre Füße.
»O Gott«, flüsterte sie.
Sie dachte daran, wie ihre Mutter vorher ausgesehen hatte -das Haar war völlig durcheinander und der Sweater nur halb zugeknöpft. Die Augen waren verschleiert und weich gewesen und sie schien nicht aufhören können zu lächeln.
Glücklich. Ihre Mutter hatte glücklich ausgesehen.
Und Lina hatte ihr das weggenommen, sie hatte es ihnen allen weggenommen.
Jemand klopfte an die Tür.
»Geh weg«, flüsterte sie, wartete auf das Geräusch von Schritten. Ihre Mutter blieb immer ein paar Sekunden stehen und ging dann. Morgen würden sie beide so tun, als sei nichts vorgefallen.
Aber das Pochen kam wieder, lauter, hartnäckiger. Lina ignorierte es und die Tür wurde so heftig geöffnet, dass sie gegen die Wand knallte. Ein gerahmtes großes Brad-Pitt-Poster fiel zu Boden, Glassplitter lagen überall auf dem blauen Teppich.
Angel stand im Türrahmen und füllte ihn aus. Seine dunklen Augenbrauen waren eng zusammengezogen und das allgegenwärtige Lächeln war verflogen. Er wirkte unsicher und verlegen. Ohne direkt in ihre Richtung zu schauen, betrat er das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Er durchquerte den Raum und schaltete die Stereoanlage ab. Dann drehte er sich langsam zu ihr um.
»Geh weg«, sagte sie. In dem Moment, als die Worte herauskamen, wünschte sie sich, sie nicht gesagt zu haben. Sie wollte sagen Geh nicht weg, aber sie konnte nicht sprechen.
Er stand da, die Hände tief in die Taschen seiner Levi's versenkt. »Sieh mal, ich glaube, ich bin mit dieser Sache blöde umgegangen. Ich hab absolut keine Ahnung, wie's ist, Vater zu sein.« Er stieß einen kleinen Seufzer aus und setzte sich neben sie. Die Matratze quietschte in der Stille. »Aber eines weiß ich - die Frau da drin liebt dich und du hast heute Nacht ihre Gefühle verletzt. Du weißt, dass du das getan hast.«
Sie spürte eine Welle von Bedauern und schaute weg, unfähig, seinem Blick standzuhalten.
Er fasste ihr Kinn und zwang sie sanft, aber bestimmt, ihm in die Augen zu sehen. »Du hast dich da draußen wie ein egoistisches Kind verhalten und ich habe mich für dich geschämt. Du solltest dich schämen.«
Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte, und es traf. Sie spürte, dass die Tränen wiederkamen, und sie versuchte, sie mit dem Ärmel fortzuwischen, aber sie kamen wieder. »Ich ... ich weiß«, flüsterte sie.
Sie wartete darauf, dass er sie tröstete, dass er ihr sagte, es sei nicht ihre Schuld oder dass es in Ordnung sei, manchmal gemein zu sein, oder dass er verstehe - all die Dinge, die ihre Mutter gesagt hätte. Aber er saß einfach da und ließ sie die Last ihrer eigenen Scham spüren.
Schließlich lächelte er und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Erwachsen werden ist schwer - aber du hast dir zumindest nicht das Herz rausschneiden lassen müssen.«
Es erinnerte sie an das, was sie zu ihm gesagt hatte. »Ich ... es tut mir Leid, was ich gesagt habe ... ich hab's nicht so gemeint... du weißt, das mit dem Herz.«
Er seufzte leise. »Es macht mir auch Angst, Angelina. Francis war der beste Mensch, den ich je gekannt habe, und ich kann nicht er sein. Ich kann nicht mal versuchen, er zu sein. Aber ...« Er schwieg darauf und sah sie an.
Sie hatte das Gefühl, als hinge alles, schwebe zwischen ihnen. Sie konnte nicht einmal richtig atmen. »Aber was?«
»Es war falsch, dass ich dein Freund sein wollte. Es war die Antwort eines Kindes auf die Frage eines Mannes. Ich weiß jetzt, was ich wirklich will.«
»Und was ist das?«
»Ich will dein Dad sein. Und wenn du's mich versuchen lässt, werde ich alles geben, was ich habe.«
Sie spürte, dass die Tränen wieder kamen, stechend und brennend. »Das will ich auch«, sagte sie und hickste dabei ein wenig.
»Es wird nicht leicht sein. Ich mache Dinge nicht immer richtig - wie heute Abend. Da hätte ich dir sagen sollen, dass ich mit deiner Mutter ausgehen wollte. Ich hätte dir sagen sollen, dass ich sie liebe und dass ich will, dass wir eine Familie sind. Aber egal, was zwischen deiner Mom und mir geschieht, es wird nichts dran ändern, wie ich für dich fühle. Du bist meine Tochter und ich liebe dich.«
Sie warf sich an ihn und hielt ihn fest. »Ich liebe dich auch, Daddy.«
Er streichelte ihr Haar und seine Berührung war weich und zärtlich, sie gab ihr zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, geborgen zu sein.
Nach einer langen Zeit löste er sich von ihr. »Ich glaube, dass du jetzt mit noch jemand sprechen solltest, nicht wahr?«
Sie starrte in seine grünen Augen und sah Anerkennung. Er gab ihr Kraft, dieser Ausdruck in seinen Augen. Sie nickte und stand langsam auf. An der Tür blieb sie stehen und schaute zu ihm zurück.
Er lächelte. »Du kannst es.«
Und sie konnte es. Das wusste sie jetzt. Sie wandte sich von ihm ab und verließ ihr Zimmer, ging über den langen Korridor zum Wohnzimmer.
Ihre Mutter stand neben dem Kamin. Sie biss sich auf die Unterlippe - so, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war -und Lina verstand endlich, wie sehr und wie oft sie ihre Mutter verletzt hatte.
Ihre Mutter, die sie liebte und immer lieben würde, egal, was passierte ...
»Es tut mir Leid, Mom«, sagte sie leise und wünschte sich, all das zurücknehmen zu können. Alles, all die kleinen Kränkungen und die unfreundlichen Worte und die Grausamkeiten.
Madelaine schenkte ihr ein langsames, verständnisvolles Lächeln. »Ich liebe dich, mein Schatz.«
Lina warf sich in die wartenden Arme ihrer Mutter und klammerte sich an sie. »Ich liebe dich auch, Mommy.«
Die bloße Menge von Nippes war erstaunlich. Wohin Angel auch schaute, sah er Truthähne und Pilger und Füllhörner -Kerzenleuchter, Zuckerwerk und Tafelaufsätze. Während er vor dem Kamin stand und die Wärme der Flammen an den Knöcheln spürte, starrte er auf die Reihe von Zierstücken, die auf dem Kaminsims standen. Ein rostfarbener, halb bemalter Truthahn aus Pappmache hockte in der Mitte von all dem. Linas unleserlich gekritzelter Name stand auf einem Flügel.
Er bewegte sich von Stück zu Stück und betrachtete jedes einzelne. Er fühlte sich, als bewege er sich in der Zeit zurück. Die einzigen fertig gekauften Dekorationsstücke waren Kerzen - alles andere hatte Lina in der Schule gebastelt. Aus der Kindergartenzeit stammte der Truthahn. Die erste Klasse wurde durch einen Pilgerhut repräsentiert, der aus einer Einkaufstüte gefertigt war. Die zweite Klasse war ein Topf aus glasiertem Ton in Form und Farbe eines Kürbis.
Bei diesem Stück verweilte er und strich mit den Fingern über die glatte Oberfläche. Mit jedem Jahr konnte er sehen, welche Fortschritte sie beim Schreiben und mit ihren künstlerischen Fähigkeiten gemacht hatte. Er versuchte, sie sich als Fünfjährige mit langen, schwarzen Zöpfen und einem Zahnlücke-Lächeln vorzustellen, wie sie mit ihrem neuesten Schatz durch die Haustür stürmte, aber es gelang ihm nicht recht und dieses Unvermögen machte ihn traurig. Er hatte so viel von ihrem Leben verpasst... so viel... und es gab kein Zurück. Keine Rückforderung der verlorenen Jahre.
Erntedankfest.
Er zwang sich, nicht an die Vergangenheit zu denken, sondern stattdessen in die Zukunft zu blicken. Es stimmte, er war nicht da gewesen, um sie an ihrem ersten Lebenstag zu halten oder ihre Hand an ihrem ersten Schultag zu fassen, aber jetzt war er hier und er würde nirgendwo mehr hingehen. Er würde an ihrem Hochzeitstag da sein und er würde sein erstes Enkelkind zur Schule begleiten.
Er wandte sich ab, dachte, dass das schmerzliche Aufwallen von Gefühlen in seiner Brust sich irgendwie in perfekt passende Worte von Liebe übersetzen lassen müsste, aber nichts kam heraus.
Stattdessen schaute er ihnen zu, den Frauen in seinem Leben. Madelaine war damit beschäftigt, nach Rezept eine fettarme Soße zuzubereiten - doch nach ihrem zerknirschten Gesichtsausdruck zu urteilen, ging das nicht so gut. Lina deckte den Tisch.
Solche Vorbereitungen für ein Essen hatte er nie gesehen. Ma hatte sich am Erntedankfest nie Mühe gegeben, das wusste er gewiss. Plötzlich kam ihm eine Erinnerung an diesen Feiertag aus seiner Kindheit.
»Wer möchte weißes Fleisch?« Er konnte die heisere Stimme seiner Mutter durch die schmuddelige Dunkelheit des Wohnwagens bellen hören. Niemand antwortete. Eine Minute später kam sie aus der Küche gewankt, zwei dampfende Portionen Truthahn vom Schnellimbiss balancierend, und stellte sie auf dem braunen Kunststofftisch ab. »Deins steht auf dem Bord, Angel. Drei konnte ich nicht tragen.«
Sie hatte nicht einmal die ersten Bissen geschafft, als der Schnaps zu wirken begann. Mitten im Satz fiel sie, das Gesicht voran, in das Kartoffelpüree und die Soße. Er und Francis hatten gelacht, bis ihnen Tränen die Wangen hinunterliefen, dann ihre Blechtabletts ins Wohnzimmer getragen. Gemeinsam hatten sie sich auf das durchgesessene Sofa gesetzt, gegessen, ferngesehen und geredet.
Brüder ...
»Das Essen ist fertig.« Madelaines Stimme brachte Angel in die Gegenwart zurück. Die dunklen Erinnerungen an die Vergangenheit schwanden.
Er blinzelte und schaute auf den Tisch. Er war lang und oval, mit einem weißen Leinentischtuch bedeckt. Darauf standen flackernde Kerzen und Anrichteplatten mit Essen. Er löste sich vom Kamin und begab sich zu der Essecke.
Auf halbem Wege blieb er stehen. Farbspritzer störten das perfekte Weiß des Tischtuchs und er brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, was er sah. Auf dem Tuch waren drei Paar farbiger Handabdrücke. An einem Ende des Tisches, zu beiden Seiten des weiß und burgunderrot gemusterten Porzellans, waren zwei marineblaue Handabdrücke und daneben waren sorgfältig der Name und das Datum geschrieben. Madelaine, 1985, stand neben dem einen. Neben zwei winzigen roten, links davon, war Lina zu lesen.
Am Kopfende des Tisches zwei gelbe Handabdrücke, kräftig und allein. Francis.
Über den Tisch hinweg traf sein Blick Linas. »Wir... wir haben die vor langer Zeit gemacht. Ich dachte nicht daran ...«
Angel sah, dass für ihn neben Madelaine gedeckt war. Da gab es natürlich keinen Handabdruck, nur das reine, weiße Leinen zu beiden Seiten seines Tellers. Es vermittelte ihm albernerweise das Gefühl, fehl am Platze zu sein.
Schließlich kam Madelaine aus der Küche. Sie trug einen Topf mit grüner Farbe. Sie sah seinen Blick und blieb stehen. Die Blässe auf ihren Wangen und das leichte Zittern der Unterlippe entging ihm nicht. »Es ist eine Familientradition«, sagte sie leise. Sie lächelte ihn zärtlich an. »Ist ein bisschen schmutzig.«
Er nahm ihr die Farbe und den Pinsel aus den Händen und strich sich wortlos die Handflächen ein, drückte dann sorgfältig zu beiden Seiten seines Tellers die Hände auf das Tuch. Als er fertig war, starrte er auf sein Werk, auf den ganzen Tisch und fühlte sich, als sei er endlich heimgekommen.
»Ich werde nach dem Essen 1996 über deine Hände schreiben«, sagte Lina.
Angel ging, um die Hände zu waschen. Als er zurückkam, hatten Madelaine und Lina Platz genommen. Sie schauten beide auf Francis' Handabdrücke am Kopfende des Tisches, auf seinen leeren Platz.
Angel hatte nicht daran gedacht, wie schwer dies für sie sein würde - der erste Feiertag ohne Francis. Er hätte daran denken müssen, hatte es aber nicht. Er setzte sich leise.
Stille breitete sich um sie, durchdrang die Düfte, die den Mund wässrig machten. »Ihr beide seid glücklich«, begann er leise. »Ihr habt so viele Erinnerungen an ihn und die werdet ihr nie verlieren. Eure Tradition hat ihn an diesen Tisch gebracht und er wird für immer hier sein, sein Geist wird für immer in diesen verrückten gelben Fingerabdrücken sein.«
Er hörte Lina schniefen und sah, dass sie sich die Augen wischte.
»Es gibt so viele Dinge, die ich ihm und euch sagen möchte, aber das müssen wir nach und nach tun, immer an einem Feiertag. Seien wir im Augenblick dankbar dafür, dass wir hier sind, gemeinsam. Das ist es, was Francis gewollt hätte.«
Madelaine schaute ihn an, lächelte über den Tisch hinweg und griff nach seiner Hand. »Es ist wohl deine Aufgabe, den Truthahn aufzuschneiden, denke ich.«
Er spürte, dass der Geist seines Bruders sich über ihn neigte, ihm ins Ohr hauchte, während er nach dem Messer griff. Tausend Dinge gingen ihm durch den Kopf, Dinge, die er sagen wollte, sagen musste, aber alles, was an die Oberfläche kam, war: »Komm schon, Bruder, zeig mir, wie man diesen Vogel aufschneidet.«
Er wollte gerade aufstehen, als er eine vertraute Stimme in seinem Kopf hörte: Fang bei der Brust an, Angel. Bei Gott, du solltest wissen, wie man das macht.
Angel spürte, dass er zu lachen begann. Als er aufblickte, lächelten Madelaine und Lina ihn an. Ihre Tränen waren fort.
Und er machte sich daran, den Vogel aufzuschneiden.
Der Dezember senkte sich mit einer knarrenden, klagenden Schicht von Grau und Weiß auf Seattle. Dicke Wolken hingen tief am Himmel und verdeckten selbst die kühnsten Strahlen der schwachen Sonne. Kahle, zitternde Bäume duckten sich an den Straßenrändern. Der Wind winselte jammernd in den kahlen Ästen. Der Abend hatte gerade begonnen, den Horizont zu verdunkeln.
Angel war nervös, als er zu Madelaines Haus hochfuhr. Seit er zum ersten Mal mit ihr geschlafen hatte, war er ein Dutzend Nächte und Tage hier gewesen, aber heute sah das Haus anders aus. Eis glänzte auf den Ziegeln des Fußweges, funkelte auf den alten braunen Schindeln des Daches. Die Kälte ließ alles gläsern und zerbrechlich erscheinen.
Er ließ den Motor laufen und stieg aus dem Wagen. Rauchwolken strömten aus dem Auspuff und verschwanden in der eisigen Luft.
Er schritt zur Haustür und blieb stehen, richtete den Sitz seines dunkelblauen Anzuges und klopfte dann.
Lina öffnete ihm die Tür. Sie trug ein grünes Samtkleid mit einem weißen Spitzenkragen und eine breite, weiße Schärpe. Sie sah so wunderschön aus. Er empfand unbändige Freude darüber, dass er nach all diesen verlorenen Jahren und diesen entgangenen Augenblicken hier war. Er streckte die Hand nach dieser schönen jungen Frau aus, die seine Tochter war.
»Wie geht's meinem Mädchen?«, sagte er.
Sie lächelte. »Gut. Ist alles bereit?«
Er zuckte die Schultern, spürte, dass seine Nervosität wiederkam. »Ich hoffe es. Ich habe gestern eine Million Mal mit Vater MacLaren gesprochen. Er sagte, meine Musikwahl sei etwas ... ungewöhnlich, aber er ließ mich tun, was ich wollte.«
Dieses Mal war ihr Lächeln ein wenig unsicher. »Gut.«
Er nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Bist du darauf vorbereitet?«
Sie nickte. Bevor sie antworten konnte, kam Madelaine in das Wohnzimmer hinter ihnen. Lina trat beiseite und Angel ging in das Haus.
Er konnte nicht glauben, wie atemberaubend schön Madelaine aussah. Sie trug ein elegantes marineblaues Kleid und eine schlichte einreihige Perlenkette. Sie strich über ihr faltenloses Kleid. »Warum schaust du mich so an?«
»Ist nichts. Komm, lass uns gehen«, antwortete er.
Für eine Sekunde wirkte sie verängstigt und er verstand. Er griff nach ihrer Hand und lächelte, als er sie nahm. »Hab keine Angst«, flüsterte er.
Die drei verließen das Haus und stiegen in den warmen Mercedes. Wortlos hing jeder seinen oder ihren eigenen Gedanken und Erinnerungen nach, während sie zur Kirche fuhren.
Angel hielt am Bordstein und stellte den Motor ab. Die riesige, aus Ziegelsteinen errichtete Kirche glitzerte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Eis glänzte auf den Gitterfenstern und funkelte auf dem Schieferdach.
Gemeinsam, Hand in Hand, gingen sie den Weg zu der riesigen geöffneten Doppeltür der Kirche hoch. Das Erste, was Angel bemerkte, waren die Kerzen - sie standen überall, Dutzende und Aberdutzende weißer Kerzen in messingnen und silbernen Kandelabern, deren tanzendes goldenes Licht auf die Wände fiel. Zweige von Immergrün zierten die Kirchenbänke, zusammengehalten von riesigen weißen Schleifen. Edeltannen säumten die Westwand, ihre grünen Zweige drapiert mit glitzernden goldenen Bändern und winzigen weißen Lichtern.
Und auf dem Altar war ein riesiges herzförmiges Gebinde, gefertigt aus weißen Rosen und Immergrün, zusammengehalten von goldenen Bändern. In der Mitte des Gebindes war ein Bild von Francis, sein Gesicht zu einem breiten Lächeln verzogen, seine Hand gehoben, der Daumen aufgerichtet.
Er sah so jung und naiv und voller Leben aus ...
»Ach, Jesus«, flüsterte Angel, als der Schmerz kam.
»Ich habe das Bild seit Jahren nicht gesehen«, sagte Madelaine leise neben ihm. »Wir haben es am Lake Crescent vor drei Sommern aufgenommen...«
Er hörte den belegten Klang ihrer Stimme und es brachte ihn fast um. Es kostete ihn all seine Willenskraft, den Schmerz zu unterdrücken. Er wandte sich ihr zu und sah die Traurigkeit tief in ihren Augen, er versuchte zu lächeln. Er wollte ihr wieder sagen, wie viel sie ihm bedeutete, aber er schien seine Stimme nicht finden zu können. Nicht hier, nicht jetzt, wo Francis so nahe zu sein schien und der Schmerz um seinen Tod so erschreckend wirklich war ...
Sie berührte seine Wange und er zuckte zusammen, merkte, wie lange er dort gestanden hatte, ohne etwas zu sagen, ihr einfach nur in die Augen gesehen hatte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Er warf einen Blick auf die Menschen, die sich hinter ihnen versammelten.
Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war voller Zuversicht. »Natürlich kannst du das. Es ist keine Beerdigung - es ist eine Messe, um sein Leben zu feiern.«
Er nickte und schloss für eine Sekunde die Augen, versuchte die Sorge zu bannen, die ihm die Kehle zuschnürte. Er wollte so sehr, dass dies eine Feier für Francis' Leben war, aber, bei Gott, es war schwer. Wie konnte man feiern, wenn man nichts weiter wollte, als in ein Loch kriechen und nie wieder herauskommen?
Er folgte Madelaine und Lina in die erste Stuhlreihe, war von sich selbst überrascht, als er den Kniefall machte. Er dachte sofort an Francis - wie hätte sein großer Bruder gelacht, hätte er Angel im Hause des Herrn knien sehen ...
Angel klammerte sich an diese Erinnerung. Dies war der Francis, an den er sich erinnern wollte. Nicht an den Priester, sondern an den großen Bruder, der Angel zu beschützen versuchte ... an den Mann, der sich in all den Jahren um Madelaine und Lina gekümmert hatte und niemals irgendjemand um irgendetwas gebeten hatte, außer, dass man ihm erlaubte, sie zu lieben...
Nachdem Stunden vergangen zu sein schienen, schritt Vater MacLaren zu dem Altar. Sein weißer Talar strahlte im Kerzenschein.
»Wir sind an diesem Festtage zusammengekommen, um einem von uns zu gedenken. Vater Francis Xavier DeMarco, der eines der leuchtenden Lichter dieser Gemeinde war. Sie alle erinnern sich seiner als einen liebevollen, fürsorglichen, sanften Mann, der immer für Sie da war, wenn Sie ihn brauchten, der mit freundlichem Lächeln und bereitem Herzen neben Ihnen stand. Wir haben sein Hinscheiden betrauert und werden dies weiter tun, obwohl wir nun feiern, dass er jetzt bei dem Gott ist, den er so innig liebte.« Er drehte sich beiseite und richtete eine Hand auf Angel. »Bei uns ist der Bruder von Vater Francis, der der Beisetzung nicht beiwohnen konnte, jetzt aber ein paar Worte über seinen Bruder sagen möchte.«
Madelaine drückte seine Hand.
Angel schluckte. Überhaupt aufzustehen war das Schwerste, was er jemals getan hatte. Mit unsicherem Schritt ging er zu dem Altar und nahm seinen Platz neben Vater MacLaren ein.
Er schaute auf die Menge ovaler Gesichter und fühlte sich plötzlich fehl am Platze. All diese Menschen - Fremde - kannten Francis besser als er. Jeder von ihnen konnte wahrscheinlich bessere, wahrere Worte sagen.
Die Traurigkeit, die in ihm aufstieg, war fast überwältigend. Angel senkte den Kopf. Nachdem Stunden vergangen zu sein schienen, fand er endlich seine Stimme. »Sie alle kennen einen anderen Francis als ich«, begann er leise, während er sich seinen Weg Wort für Wort durch die Dunkelheit suchte. »Sie sprechen von einem sorgenden, stillen Priester, aber den kannte ich überhaupt nicht. Ich kannte einen großen Bruder, der immer darauf wartete, mich nach dem Footballtraining nach Hause zu bringen, obwohl er Wichtigeres zu tun hatte. Ich kannte einen schlaksigen Jungen mit einem schiefen Grinsen, der immer an das Beste in mir glaubte, selbst wenn ich ihm bewies, dass er sich irrte. Ich kannte einen Jungen, der mit mir einmal Kekse stahl und mich dann zwang, sie alle zu essen, weil Lebensmittel zu vergeuden eine größere Sünde als Stehlen war. Ich kannte einen jungen Mann, der mich umarmte und festhielt, als ich weinte, und versprach, dass er eines Tages alles in Ordnung bringen würde ...
Aber ich habe ihm diese Chance nie gegeben. Ich glaubte immer, ich hätte Angst davor, an ihn zu glauben. Tatsächlich aber hatte ich Angst davor, an mich selbst zu glauben. Hätte ich das ...« Er seufzte. »Hätte ich das, würde ich hier nicht stehen und zu Ihnen über einen Mann sprechen, den ich liebte, aber nicht kannte...«
Er drehte sich um und blickte auf das Bild von Francis in dem Gebinde. Und plötzlich spürte er ein tiefes Sehnen nach seinem Bruder. Er schien keine seiner Erinnerungen aufgreifen zu können, konnte nicht eine finden, über die er reden konnte. Er wollte etwas finden, was sie alle zum Lachen bringen würde, diesen schmerzlichen Augenblick nehmen und daraus etwas anderes machen, was nicht so schrecklich wehtat.
Aber er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, außer Ich vermisse dich, Francis, es tut mir so Leid ...
Er sah, dass Madelaine inmitten der Menge aufstand. Sie wandte sich an den Chorleiter und nickte ihm rasch zu. Er suchte einen Augenblick unter den Kassetten und dann setzte die Musik ein: »That Old Time Rock 'n' Roll« von Bob Seger und der Silver Bullet Band.
Der Text kam wie ein alter Freund zu ihm ... diese Art Musik tröstet einfach deine Seele ...
Musik erfüllte die Kirche. Sie war völlig unpassend, versetzte ihn aber in seine Kindheit zurück, zurück in diese verrückten Tage, als er und Francis immer zusammen waren, als sie beide alles waren, was sie hatten. Sie hatten zu Songs wie diesem getanzt und dazu gelacht und sie wieder und wieder auf dem alten Plattenspieler im Wohnzimmer gespielt.
Er schaute zu Madelaine und sah, dass sie durch ihre Tränen lachte. Er sah den glasigen, abwesenden Ausdruck in ihren Augen und wusste, dass sie an Francis dachte. An ihren Francis. Nicht an den stillen, ernsten Priester, sondern an den schlaksigen blonden Jungen mit den blauen, ach so blauen Augen und dem Lächeln, das einen Raum zu erleuchten schien, und einem unermesslich großen Herzen.
Einen Augenblick lang erinnerte er sich an all das, an die guten Zeiten und die schlechten, an die Nächte, in denen sie gelacht, und die Morgen, an denen sie geweint hatten.
Und er konnte nicht begreifen, warum er all dies jemals verlassen hatte oder warum er nie heimgekommen war. Bei diesem Gedanken spürte er Tränen in den Augen brennen und wenige Sekunden später konnte er nicht mehr klar sehen. Die glitzernde Kirche verschwamm vor ihm, bis sie nichts weiter als ein Fleck von weißen Blumen und flackerndem Kerzenschein war. Er wusste, dass er sich an den Duft dieser Kirche immer erinnern würde - dass er von jetzt an, wenn er Immergrün und Rosen roch, an seinen großen Bruder denken würde.
Ich bin daheim, Franco ... Er kniff die Augen zu, fest zu, und schämte sich nicht der Tränen, die ihm über die Wangen rannen. Ich bin wieder daheim, großer Bruder, und dieses Mal werde ich nirgendwo hingehen.
Gedanken drängten sich in seinem Kopf und er versuchte, sie zu sortieren, versuchte die Worte zu finden, die er dem Mann sagen sollte, den er so innig liebte, doch am Ende wurde ihm bewusst, dass es unwichtig war. Es ging nicht um Worte oder Entschuldigungen oder Erinnerungen - es ging ganz einfach um Liebe.
Nur darum. Um Liebe. Die Liebe eines Bruders, die Liebe eines Vaters, die Liebe einer Familie. Und Liebe war nicht wie Körper - sie ging nicht fort, niemals. Sie blieb in einem, war da, eingebunden in Augenblicke und Erinnerungen.
Er öffnete langsam die Augen und sah durch den brennenden Schimmer seiner Tränen Madelaine und Lina. Ich werde bis zum Ende bei ihnen bleiben, Franco. Ich schwöre bei Gott, dass ich das werde.
Die Musik endete plötzlich und Stille kehrte wieder ein, erfüllte die Kirche. Angel schaute auf die Menge und ihm wurde bewusst, dass sie überhaupt keine Fremden waren. Er sah die alte Mrs Costanza von dem Blumenladen an der Ecke und Mr Tubbs von der Tankstelle an der Tenth Street und Mr Fiorelli, den Drogisten ...
Er richtete seinen Blick auf Madelaine und Lina und schenkte ihnen ein unsicheres, aus tiefstem Herzen kommendes Lächeln. »Ich kann Ihnen allen gar nicht genug danken. Wenn ich mich umsehe, sehe ich meinen Bruder, sehe überall etwas von dem Mann, der er geworden ist. Ich kann sehen, wie er Ihrer aller Leben berührt hat, und ich weiß, wie wichtig Sie alle ihm gewesen sein müssen. Vor allem aber danke ich Ihnen dafür, dass Sie ihn geliebt haben, sich um ihn gekümmert haben, ihm erlaubt haben, Sie zu lieben. Die Welt wird ohne ihn ein wenig dunkler sein, aber ich weiß jetzt, dass er nie wirklich fort sein wird ... weil er in uns allen ist.«