Kapitel 3

Madelaine setzte die teuren Einkaufstüten auf dem knarrenden alten Kai ab und setzte sich.

Salzige Luft streichelte ihre Wangen und zerrte an den kurzen Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Das dunkelgrüne Wasser starrte sie an, wiegte sich sanft, klatschte gegen die von Rankenfüßlern übersäten Pfähle und hustete Gischt. Der Kai stöhnte unter ihr, bewegte sich mit jedem Stoß der Gezeiten, als kämpfe er, um seinen Platz gegen die monumentale Kraft des Meeres zu behaupten.

»Hallo, Mama«, sagte sie und ihre Stimme war so sanft und leise wie der Wind, der durch die altersschwachen Bretter flüsterte.

Die See starrte sie an, wartend und wogend.

Sie sehnte sich danach, sich ihrer Mutter nahe zu fühlen, hier, an dem einzigen Ort auf Erden, an dem ein solches Gefühl überhaupt möglich war, aber es war schwer, ein Band zu knüpfen, das vor so vielen Jahren zerrissen war. Sie versuchte es dennoch. Am ersten Sonntag eines jeden Monats kehrte sie zurück und sprach zu der Frau, die ihr Leben hätte gestalten sollen.

Zum ersten Mal war sie hergekommen, als sie sechs Jahre alt war. Ein spindeldürres Kind damals, mit unscheinbarem Gesicht, gekleidet wie eine winzige Puppe, ihre schwarzen Mary-Jane-Lackschuhe an den Knöcheln leicht zusammengepresst, ihr schwarzes Satinkleid plusterte sich im Wind auf.

Sie schloss ihre Augen und ließ den Erinnerungen freien Lauf, alles, was ihr geblieben war. Ihr Vater stand am Rand dieses Kais neben ihr, sein Burberry-Mantel flatterte und seine Wangen waren von der Kälte gerötet. Er hatte damals so groß gewirkt, riesig und unzerstörbar, mit einer Stimme wie ein Nebelhorn und Augen, die sie niemals ansahen.

Die Asche ihrer Mutter trieb auf der Oberfläche des Wassers ...

Weine nicht, Mädchen. Das bringt sie nicht zurück.

Madelaine gehorchte ihm, wie sie es immer getan hatte, und hielt bei jedem Atemzug die Tränen zurück. Das Meer war vor ihren Augen verschwommen, schimmernd zu einer riesigen, endlosen blauen Fläche geworden, die ihr einst nichts bedeutet hatte und jetzt alles barg, was von ihrer Mutter übrig geblieben war.

Es hatte Jahre gedauert, bis sie an diesen Ort zurückgekommen war, und nachdem sie es einmal getan hatte, konnte sie nicht mehr wegbleiben.

Die Tüten hinter ihr raschelten wieder, erinnerten sie daran, warum sie hier war, an die Bestätigung, die sie von ihrer Mutter brauchte.

»Morgen ist Linas Geburtstag«, sagte sie leise.

Die Worte wurden von der Brise erfasst, durcheinandergewirbelt und schließlich verschluckt. Nach einem aufreibenden Arbeitstag war sie einkaufen gegangen, hatte sich mit jedem Artikel abgequält, wollte, dass jedes einzelne Stück genau richtig war. Die Brücke, die sie und Lina wieder zueinander-bringen würde. Der Wunderkleber, der das brüchige Band ihrer Beziehung wieder reißfest machen würde.

Sie wollte, dass die morgige Party ein neuer Anfang für sie und Lina werden würde, für Mutter und Tochter, die sich so entfremdet hatten. Aber wie?

Das war die Frage, mit der sie zu ihrer vor vielen Jahren verstorbenen Mutter gekommen war. Wie finden zwei Menschen, die einander lieben, den Weg zurück? Wie kommt man auf falsch gegangenen Wegen auf wunderbare Weise doch zum Ziel?

Hilf mir, meinen Weg zu finden, Mama.

Sie hob ihren Kopf und schaute auf das glitzernde Wasser hinaus. Wie gewöhnlich bekam sie keine Antwort, hörte nichts als den unaufhörlichen Rhythmus der Wellen, die gegen den Kai klatschten. Der Wind wurde stärker und schlug die Wellen heftiger und heftiger gegen die Pfähle. Über ihr kreiste eine Möwe und krächzte und tauchte in das Meer.

»Ich dachte, dass ich dich hier finden würde.«

Francis DeMarcos warme Stimme war wie ein willkommener Balsam für ihre Seele. Sie hätte wissen müssen, dass er kommen würde. Lächelnd drehte sie sich zu ihm um.

Er stand groß und aufrecht ein paar Schritte hinter ihr. Seine langen Arme hingen herab. Er sah in seiner strengen Priesterkleidung wie immer etwas verlegen und unsicher aus. Der pechschwarze Stoff bildete einen starken Kontrast zu seiner blassen, klaren Haut. Eine Locke seines zerzausten, weizenblonden Haares ringelte sich über einem Auge. Er schob sie ungeduldig beiseite, aber sie fiel sofort wieder zurück.

Madelaines Herz zog sich bei seinem Anblick fast schmerzhaft zusammen. Er starrte sie an, wie er es immer tat, die Augen leuchtend und eindringlich, den Mund umspielte ein zurückhaltendes Lächeln.

»He, Francis«, sagte sie.

Er schaute sie auf seine jungenhafte Art an und strahlte über das ganze Gesicht. Für einen erwachsenen Mann sah er herzergreifend naiv aus. »Ich habe dich heute Morgen in der Kirche vermisst.«

Sie schmunzelte über den vertrauten Witz. »Ich habe im OP gebetet. Und in der Kosmetikabteilung von Nordstrom's.«

Er trat zu ihr und seine Absätze klackten auf dem müden alten Holz. Seine Knie knackten, als er sich neben sie setzte. Sein Blick war auf das Meer gerichtet. »Hat sie diesmal geantwortet?«

Sie wäre verletzt gewesen, hätte ein anderer die Frage gestellt. Bei Francis war das jedoch etwas anderes, ihrem Francis, der sie besser kannte als sonst jemand auf dieser Welt. Seufzend lehnte sie sich an ihn und schob ihre Hand in seine.

Er war für so viele Jahre ihr Anker gewesen. Ihr bester Freund. Die Kraft, die sie nie aus sich schöpfen konnte, hatte sie immer in ihm gefunden.

»Nein, keine Antwort.«

»Du bist bereit für die Party morgen? Wie ich sehe, hast du Nordy's und Tower Records leer gekauft.«

Sie lachte und fühlte sich gut dabei. Sie lachte viel zu wenig. »Das klassische Alleinerziehender-mit-einem-Problemkind-Syndrom. Kaufen, kaufen, kaufen.«

Eine wohltuende Stille trat zwischen ihnen ein. Madelaine starrte auf das Meer hinaus, lauschte seinem rhythmischen Atem und spürte seine Bewegung in dem Holz unter ihr.

Als Francis zu sprechen begann, war seine Stimme so leise, dass Madelaine es für eine Sekunde nicht einmal bemerkte.

»... alte Mrs Fiorelli. Es geht ihr nicht gut.«

Madelaine drückte seine Hand. »Es tut mir Leid, das zu hören, Francis. Ich weiß, wie sehr du dich um sie sorgst.«

»Ja. Ich muss sie dringend besuchen.«

Madelaine drehte sich zu ihm und zu ihrer Überraschung sah er traurig aus. Sie strich ihm behutsam mit dem Handrücken über die Wange. »Was ist, Francis?«

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein blondes Haar. Sie wartete darauf, dass er lachte, sagen würde, es sei nichts, aber er blieb ungewohnt still und schaute sie an.

»Francis?«

Er beugte sich vor. Ihre Blicke fanden sich. Der Moment dauerte an, verlängerte sich auf eine eigenartige Weise, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

Bevor sie etwas sagen konnte, war es vorbei. »Es ist nichts, Maddy-Mädchen. Überhaupt nichts.«

Sie fühlte sich - verrückterweise - so, als ob sie ihn gerade im Stich gelassen hätte. »Ich bin immer für dich da, Francis. Das weißt du.«

»Ja«, sagte er und schenkte ihr ein trauriges, zärtliches Lächeln. »Das weiß ich.«

 

Lina rutschte von dem harten Plastiksattel ihres Rennrads runter und klappte den Ständer aus. Das Fahrrad neigte sich etwas nach links und blieb stehen. Sie zog den Helm vom Kopf und schüttelte ihr jungenhaft geschnittenes Haar, fuhr mit den Fingern durch die feuchten, verschwitzten Strähnen, damit die so stachelig und ungekämmt wie möglich hochstanden.

Ihre Mutter war über die Frisur natürlich entsetzt gewesen. Wie Billy Idol, Lina. Willst du wirklich wie Billy Idol aussehen ?

Die Wahrheit war, dass ihre Mutter ihr kein größeres Kompliment hätte machen können, und außerdem war heute der ideale Tag, um wie Billy Idol auszusehen.

Es war Linas sechzehnter Geburtstag und sie war im Begriff, Stunk zu machen. Teufel auch, sie brannte förmlich darauf.

Es gab nämlich nur ein Geschenk, das sie haben wollte -aber wenn sie sich das wünschte, würde sie den Ärger ihres Lebens riskieren.

Sie griff in ihre lederne Motorradjacke und zog ein zerknautschtes Päckchen Marlboro Lights heraus. Sie steckte eine an, nahm dann einen tiefen Zug. Ihre Lunge brannte und sie hustete, aber das war's ihr wert.

Mom hasste es, wenn sie rauchte.

Lächelnd schlenderte sie über den Ziegelweg durch den perfekten Vorgarten im Martha-Stewart-Stil auf das weiße Farmhaus mit der riesigen Panoramaveranda zu. Es stand allein am Ende der Straße. Es war einmal von hundert Morgen Weideland umgeben gewesen. Jetzt war es das einzige altmodische Haus auf einer Straße von Reihenhäusern, die aussahen, als seien sie mit Plätzchenformen ausgestochen worden. Wie immer war jeder Strauch und Baum exakt gestutzt und das Gras ein Teppich von rasiertem Grün. Topfpflanzen in Herbstfarben säumten die Stufen, die zur Veranda hochführten.

Das Einzige, was an dieser kitschigen Postkartenansicht von Stadtrandidylle fehl am Platze wirkte, war Vater Francis' schäbiger gelber VW Käfer, der in der Auffahrt stand. Sie bemerkte eine neue Beule in der verrosteten vorderen Stoßstange und überlegte kurz, wen er diesmal gerammt haben mochte.

Auf der Veranda blieb sie stehen und fuhr erneut mit einer Hand durch ihr Haar. Sie wusste, dass sie heute besonders schlimm aussah - billig und heruntergekommen und als ob sie mächtig in Schwierigkeiten steckte -, genau so, wie sie aussehen wollte. Drei Ohrringe im rechten Ohr, vier im linken. Lippenstift in der Farbe geronnenen Blutes und blaue Mascara. Hautenge schwarze Levi's mit einem Dutzend ausgefranster Löcher und ein fleckiges weißes Männer-T-Shirt.

Sie wusste, dass es ein Zeichen von Unreife war, sich so anzuziehen, nur um ihre perfekte Mutter zu ärgern, aber das war ihr egal. Im Gegenteil - sie tat alles, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu wecken. Doktor Hillyard, die Jungfrau Maria der Medizin, die nach einer Zehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus noch immer umwerfend aussah und nie etwas Falsches zu tun schien. Jedes Mal, wenn Lina ihre Mutter ansah, fühlte sie sich klein und dumm und albern. Früher hatte sie das gestört, dazu geführt, dass sie sich in den Schlaf weinte, sich gefragt hatte, warum sie ihrer makellosen Mutter nicht ähnlicher war.

Aber das war dann so langweilig geworden, all dieses Weinen und Wollen und Brauchen. In diesem Jahr war ihr bewusst geworden, dass sie niemals wie ihre Mutter sein würde, und diese Erkenntnis hatte sie befreit. Lina versuchte nicht länger, gute Zensuren zu bekommen und gute Freunde zu finden und überhaupt alles gut zu machen. Sie war in ihrer Rebellion aufgeblüht, schwelgte geradezu darin.

Nach einer Weile jedoch war nicht einmal dies genug. Und schließlich hatte sie langsam zu verstehen begonnen, was falsch war.

Daddy.

Es war kindisch, ihn so zu nennen, aber sie konnte nicht dagegen an. Sie erinnerte sich haargenau an den Tag, als sie ihren Vater erstmals vermisste. Nicht auf eine vage Ich-wünschte-er-wäre-hier-Weise, sondern mit einem ganz ernsten Gefühl von Verlust, das in ihrer Magengrube nagte.

Es war in der sechsten Klasse gewesen, ein Jahr, bevor sie ihre Periode bekam. Sie hatte schließlich den Mut gefunden, ihre Mutter nach ihm zu fragen, und Madelaine hatte zuerst bestürzt dreingeschaut und dann plötzlich einen traurigen, abwesenden Blick bekommen und gesagt, er habe sie vor langer Zeit verlassen. Dass er nicht bereit gewesen sei, Vater zu sein. Aber das habe nichts mit Lina zu tun, hatte Madelaine nachdrücklich erklärt. Überhaupt nichts.

Lina konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, an die Verlassenheit, die sie empfunden hatte.

Jedes Mal, wenn sie jetzt in den Spiegel schaute, sah sie die Augen eines Fremden, das Lächeln eines Fremden. Und mit jedem Tag fühlte sie sich einsamer und einsamer und noch verlorener.

Damals war es gewesen, in diesem kalten Dezember des sechsten Schuljahres, als Lina bewusst wurde, dass sie mit der Sehnsucht nach ihrem Daddy alleine dastand, die Einzige war, die fand, dass mit ihrer Familie etwas nicht in Ordnung sei. Das war der Zeitpunkt, als das Verhältnis zu ihrer Mutter sich zu verändern begann. Lina war mit ihren Fragen auf ihr Zimmer gegangen, hatte sich mit ihnen beschäftigt, sich ihnen so gewidmet, wie sie einst mit ihrem Teddybär gekuschelt hatte. Eine kühle Vorsicht entstand im Umgang mit ihrer Mutter, eine wachsame Distanz, eigens dazu geschaffen, wie es schien, weitere Fragen zu verhindern.

Lina hatte sich in vielen Nächten in den Schlaf geweint. Sie hatte das Gefühl, als ob sie schon immer um ihn geweint hatte, um diesen mysteriösen Vater, der nie zu ihr gekommen war, nie nach ihr gefragt hatte, nie an ihrem Geburtstag angerufen hatte.

Sie hatte getrauert, bis keine Trauer mehr in ihr war, und dann waren langsam, irgendwie auf heimtückische Weise, diese Gedanken gekommen. Vielleicht wusste er nichts von ihr.

Nachdem der Gedanke erst einmal gesät war, begann er Wurzeln zu schlagen. Lina nährte ihn täglich mit dem Wasser der Möglichkeit, bis sie es eines Tages glaubte. Absolut und total. Ihr Vater wusste nichts von ihr. Denn sonst wäre er hier, bei ihr, liebte sie, würde mit ihr etwas unternehmen und ihr all die Dinge kaufen, die Mom ihr nicht erlaubte.

Er würde nicht so viel von ihr verlangen, würde nicht seinen Kopf schütteln und missbilligend mit der Zunge schnalzen, wenn sie darum bat, sich tätowieren lassen zu dürfen. Er würde ihre Fragen beantworten und sie trösten. Er würde ihr erlauben, dass sie die ganze Nacht im Hause ihres Freundes blieb.

Vielleicht würde er sie nach einem bösen Traum sogar in die Arme nehmen und sie einfach weinen lassen ...

Die Zigarette zwischen ihre Zähne geklemmt, riss sie die Eingangstür auf und trat ins Haus. Sie warf ihre Jacke auf den Garderobenhaken und ging über den weiten Korridor, bog in die Küche.

Die war leer.

Sie nahm noch einen brennenden Zug aus der Zigarette und sah sich um, war sich plötzlich unsicher, was sie tun sollte. Der Küchentisch war farbig geschmückt und auf ihm lagen Päckchen gestapelt, eingewickelt in glänzende Folien. In ihrer Mitte stand ein weißer Kuchen in Form einer Harley-Davidson Low Rider. Ballons füllten die kleine Küche, blinzelten ihr von überall zu - von Stuhllehnen, dem Chromgriff an der Vorderseite des Herdes, von der Kühlschranktür. Große Ballons von Mylar, und auf allen stand Happy Birthday.

Auf dem Kuchen waren sechzehn Kerzen - diese albernen gedrehten rosa Kerzen, die es in Schachteln zu dreißig Stück bei Safeway gab.

Tränen brannten in ihren Augen und verwischten den Kuchen und das Tischtuch zu einer weißrot karierten Schmiere. Wütend auf sich selbst, fuhr sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und wandte sich mit einem Ruck vom Tisch ab.

Was war nur mit ihr los? Wer fing schon beim Anblick eines blöden alten Kuchen an zu heulen?

Aber sie wusste, was es war. Ihre Mutter hatte versucht, die richtigen Ballons aufzuhängen, den richtigen Kuchen zu kaufen. Lina hatte keinen Zweifel daran, dass ihre Mom beim Kauf jedes Geschenks Qualen gelitten hatte.

Sie wusste auch, dass jedes Geschenk falsch sein würde: zu kindisch, zu erwachsen, zu spät, zu früh. Es war genau so, wie es zwischen ihr und ihrer Mom war. Es gab nie etwas, das stimmte.

Nicht wie früher, damals, als »You and Me Against the World« von Helen Reddy ihr und Moms Lied gewesen war. Damals, als sie es die ganze Zeit gesungen hatten, gelacht, getanzt, sich umarmt hatten.

Jetzt schaute sie auf den blöden, im Laden gekauften Kuchen und ihr fehlte alles. Sie vermisste die Nächte, in denen sie sich ins Bett ihrer Mom geschlichen hatte, die Morgen, an denen sie gemeinsam Pfannkuchen gebacken und dämliche Lieder gesungen hatten. Gott, es war wirklich peinlich, aber wie sehr sie das alles vermisste ...

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz!« Die heisere Stimme ihrer Mutter hallte durch die Küche.

Lina riss ihren Kopf hoch. Sie sah ihre Mutter in dem offenen Durchgang stehen, der die Küche vom Wohnzimmer trennte. Vater Francis war neben ihr. Sie grinsten beide.

Lina mochte nicht glauben, dass sie weinte. Weinte.

Sie reckte ihre Schultern und schniefte, lehnte sich dann träge an die Wand. Sie spürte, wie sie sich dem Image hingab, das sie geschaffen hatte, der Rebellin mit der schwarzen Lederjacke. Zurück an einen Ort, wo niemand etwas anderes von ihr erwartete als ein freches Mundwerk und ein rotznäsiges Aussehen. Einen Ort, wo Dinge wie Einsamkeit und das Vermissen der Mutter nicht existierten. Sie zog an der Zigarette, inhalierte tief, lächelte dann - nur ein Verziehen der Lippen wie Elvis - und murmelte: »Danke, Leute.«

Madelaine starrte auf die Zigarette. Ihr strahlendes Lächeln verflog und Enttäuschung verdunkelte ihre haselnussbraunen Augen. »Ich habe dich gebeten, im Haus nicht zu rauchen.«

Dann hindere mich doch dran. Lina starrte sie an, ohne zu blinzeln. Fast lächelnd, schlenderte sie vorwärts. Ihre Motorradstiefel klackten auf dem Holzboden. Als sie unmittelbar vor ihrer Mutter war, nahm sie wieder einen Zug. »Wirklich?«

Für eine berauschende Sekunde glaubte sie, ihre Mutter würde tatsächlich etwas tun, etwas sagen. Lina beugte sich vor und wartete.

Madelaine zuckte kurz hilflos die Schultern. »Es ist dein Geburtstag ... lass uns nicht streiten.«

»Lina, mach die Zigarette aus oder ich mäste dich mit Kommunionswaffeln«, sagte Vater Francis.

»Gott, wenn's dir Spaß macht, warum tust du's nicht?« Sie drehte sich um, ging zur Küchenspüle und löschte die Zigarette unter fließendem Wasser.

Als sie sich wieder umdrehte, hatte sich niemand bewegt. Vater Francis und Mom sahen aus wie ein Paar aus Madame Tussauds Wachsfigurenmuseum. Sie standen Seite an Seite da, wie immer. Beste Freunde.

Heute sah Francis noch stattlicher aus als sonst. Er war groß und schlank, gebaut wie ein Tänzer, und obwohl seine klerikale Kleidung immer etwas fehl am Platze wirkte, sah er in ziviler Kleidung definitiv gut aus. Wie jetzt, wo er eine ausgeblichene blaue Levi's trug und ein übergroßes Sweatshirt von Gap. Und es gab überall im Land sechzehnjährige Mädchen, die bei seinem umwerfenden Lächeln ohnmächtig werden würden.

Francis fuhr mit einer Hand durch sein volles, widerspenstiges blondes Haar und grinste. »Nun, Lina-Ballerina, wie fühlt man sich mit sechzehn?«

Lina zuckte die Schultern. »Gut.«

Mom schenkte ihr ein ziemlich trauriges Lächeln. »Ich erinnere mich noch daran, wie es war, als ich sechzehn war.«

Francis schaute ihre Mutter an und Lina sah, dass sich die gleiche Traurigkeit in seinen blauen Augen widerspiegelte. »Ja«, sagte er ruhig. »Es war ungefähr um diese Jahreszeit.«

Sie machten es wieder, schlössen sie aus. »Hal-/o«, warf Lina mit einem Schnauben ein. »Heute ist mein Geburtstag, nicht ein Erinnerungstag für alte Leute.«

Mom lachte. »Du hast Recht. Wie wär's, wenn du die Geschenke auspackst?«

Linas Blick schoss zu dem Stapel von Päckchen auf dem Tisch. Große, schöne, wundervoll eingepackte Schachteln, die nicht enthielten, was sie sich wünschte. Nicht enthalten konnten, was sie sich wünschte.

Sie sah wieder ihre Mom an und fürchtete sich plötzlich vor dem, was sie heute geplant hatte. Ihre Mutter hatte so schwer gearbeitet... arbeitete immer so schwer, und dies würde ihr das Herz brechen ...

Mom machte einen Schritt auf sie zu, hatte die Hand ausgestreckt. »Baby, was ist denn?«

Lina erstarrte und wich zurück, fort von der tröstenden Berührung ihrer Mutter, die sie traurig machte. »Sag nicht Baby zu mir.« Zu ihrem Entsetzen brach ihre Stimme.

»Süße...«

»Wie heißt er?« Die Frage schoss wie von selbst über ihre Lippen und sie klang barsch und hässlich. Sie zuckte zusammen. Aber sie war da, hing zwischen ihnen, und es gab jetzt kein Zurück.

Ihre Mutter blieb stehen. Ihr Stirnrunzeln zog ihre vollen, geschwungenen Brauen zusammen. »Wie heißt wer?«

Lina spürte, dass sie die Kontrolle verlor. Es begann mit einem Zittern ihrer Finger, das sie nicht verhindern konnte. Sie wünschte sich, sie hätte eine Zigarette oder ein Glas Wasser. Irgendetwas, egal was, um sich daran festzuhalten, darauf zu starren. Irgendetwas anderes, wohin sie schauen konnte, als in die verwirrten graugrünen Augen ihrer Mutter.

Und dieser verdammte Song ging ihr fortwährend durch den Kopf. You and Me Against the World. Du und ich gegen die ganze Welt.

Ihre nächste Frage würde alles verändern. Das Wenige, was ihr und ihrer Mutter geblieben war, zerreißen.

Er weiß nichts von dir. Er würde dich lieben, wenn er es wüsste.

Lina klammerte sich an diesen tröstenden Gedanken, bis ihre Finger zu zittern aufhörten und der Kloß in ihrer Kehle schmolz. Langsam, dabei tief einatmend, schloss sie ihre Augen, unfähig, ihre Mutter anzusehen, als sie die Frage stellte. »Wie ist sein Name, Mom? Das ist alles, was ich zu meinem Geburtstag möchte. Nur einen Namen.«

Für eine Sekunde wurde alles ruhig und still.

»Wie heißt wer?«, sagte Mom schließlich. Ihre Stimme war sanft. So sanft, als ob sie wisse, wisse und Angst habe.

Lina öffnete ihre Augen und erwiderte den Blick ihrer Mutter. Sie spürte ein wenig Gewissensbisse, wusste, wie sehr ihre nächsten Worte ihre Mutter verletzen würden, aber sie verdrängte die Gefühle. »Mein Vater.«

»Oh, mein Gott«, flüsterte Francis.

Lina schenkte ihm keinen Blick, sondern starrte einfach ihre Mutter an, die so reglos war, dass es aussah, als würde sie nicht einmal atmen. Sie stand erstarrt in der Mitte des Raumes, ihr honigbraunes Haar sanft aus ihrem Gesicht geschwungen, ihre klare, blasse Haut gerötet. Die hellrote Seide ihrer Bluse war ein beißender Farbfleck an ihrem Hals.

»Nun?«, drängte Lina sie.

Farbe kroch an dem langen, schlanken Hals ihrer Mutter hinauf. Sie fasste sich mit einer zitternden Hand an die Stirn und strich eine nicht vorhandene Haarsträhne weg. »Dein Vater...« Sie hielt inne, warf Vater Francis einen unsicheren Blick zu.

Lina hatte einen plötzlichen, entsetzlichen Gedanken. »Ist er es? Vater Francis und die Jungfrau Maria der Medizin?« Sie lachte grell, fast hysterisch, aber es war nicht komisch. Wie kam es, dass sie diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen hatte? Ihr zweiter Name war Francesca. O, Gott. Es war hysterisch, war wirklich hysterisch. Wer wäre besser für ihre perfekte Mutter geeignet als ein Geistlicher? »Wie viele Ave-Maria würdest du dafür bekommen?«

»Nein«, sagte Francis. »Ich wünschte, ich wäre dein Vater, Lina, aber ich bin es nicht.«

Linas Atem explodierte in einem Seufzer der Erleichterung. Er war nicht ihr Vater, hatte nicht all diese Jahre als Heuchler neben ihr gelebt, als jemand, der nicht zugeben wollte, dass er ihr Vater war. Er war noch immer ihr Freund, der Onkel, den sie nie gehabt hatte, das einzige andere Familienmitglied, das sie je gekannt hatte. Ganz plötzlich erinnerte sie sich Hunderter Momente in ihrer Vergangenheit, in denen er für sie da gewesen war, ein aufgeschlagenes Knie verarztet hatte, mit ihr gespielt hatte, mit ihr in den Imbissstuben gewesen war, in die Väter mit ihren Töchtern gingen. Sie bewegte sich hölzern auf ihn zu, ihren Blick auf sein Gesicht fixiert. Vor Verlegenheit füllten Tränen ihre Augen. Sie konnte sie nicht verdrängen. »Aber du weißt, wer es ist? Du weißt es.«

Francis erbleichte. Er warf ihrer Mutter einen bestürzten Blick zu. »Mad...«

»Frag sie nicht.« Tränen liefen über Linas Gesicht. Sie erfasste Francis' Hand und drückte sie. »Bitte ...«

»Francis wird es dir nicht sagen«, sagte Madelaine mit müder Stimme.

Lina sah in den blassblauen Augen von Francis die Wahrheit. Er mochte Lina lieben, aber nicht so sehr, dass er gegen die Wünsche ihrer Mutter handelte. Niemals so sehr, dass er sich gegen die große und perfekte Madelaine stellte.

Lina spürte eine plötzliche heiße Welle von Wut. Wie konnte ihre Mutter es wagen, ihr diese Information vorzuenthalten? Wie konnte sie es wagen?

Sie wirbelte herum, stürzte zu ihrer Mutter. »Sag es mir.«

Ihre Mutter streckte einen Arm aus und legte ihre eiskalte Hand auf Linas Wange. »Lass uns darüber reden, Kleines. Auf diese Weise geht das nicht, nicht so ...«

Lina schlug die Hand weg. »Ich will nicht darüber reden. Ich will eine Antwort.« Ihre Stimme brach, Tränen rollten. »Du redest immer und ich bin es leid. Ich bin's müde, laut und anders zu sein.« Sie sah zu ihrer Mutter auf, Tränen verschleierten ihren Blick, sie fühlte sich elend und völlig durcheinander.

»Es tut mir Leid, Kleine. Das wusste ich nicht.« Moms Stimme sank zu einem Flüstern. »Ich hätte es dir vor Jahren sagen sollen.«

Lina fasste sie bei den Schultern. Furcht und Panik erfüllten sie, löschten alles andere aus bis auf das Verlangen, endlich eine Antwort zu erhalten. »Sag es mir.«

»Dein Vater wollte nicht...« Mom sah Francis an und lachte unsicher. »O, Gott, Francis, warum tut das denn noch immer so weh?«

Kälte erfüllte Lina. Sie konnte die Antwort spüren, die förmlich um sie wirbelte. Sie wollte schreien, wollte das so sehr, aber ihr Mund war trocken und ihre Kehle wie zugeschnürt. Doch plötzlich waren die Tränen verflogen. »Er wollte mich nicht.«

»Nein, das ist es nicht.« Madelaine trat vor, ihren Blick auf Linas Gesicht fixiert. »Er... wollte mich nicht, Kleines. Mich.« Sie stieß ein sprödes Lachen aus. »Mich hat er verlassen.«

Lina wich zurück. »Was hast du ihm angetan? Was?« Sie schaute zu Francis hinüber, dann wieder ihre Mutter an, spürte, dass neuerlich Panik ihr Blut in Wallung brachte, und das machte sie krank und benommen und wütend. »Du hast ihn vertrieben, nicht wahr? Hast ihn krank gemacht mit deiner Perfektion.« Ihre Stimme brach und sie begann heftiger zu weinen. »Du hast ihn dazu gebracht, uns zu verlassen.«

»Lina, hör mir zu. Bitte, ich liebe dich so sehr, Schatz. Bitte, lass uns...«

»Nein!« Lina merkte nicht einmal, dass sie geschrien hatte. Sie wich zurück, hielt sich die Ohren zu. »Ich will nicht mehr zuhören.« Sie machte kehrt und rannte zur Tür, riss sie auf. Als sie nach draußen trat, in das strahlende Sonnenlicht des Tages - ihres sechzehnten Geburtstages -, spürte sie eine eigenartige Ruhe. Ihre Tränen trockneten und ballten sich zu einem harten, kalten Klumpen in ihrem Magen zusammen. Langsam drehte sie sich zu ihrer Mutter um. »Bin ich wie er?«

Lina hätte schwören können, dass sie das erste Mal Tränen in den Augen ihrer Mutter glitzern sah. Aber das war natürlich unmöglich. Sie hatte ihre Mutter nie weinen sehen. »Lina ...«

»Bin ich wie mein Vater?«

Madelaine starrte sie einen langen Moment an, dann wandte sie sich leicht ab. Ihr Blick wurde weich. »Du bist genau wie er.«

Zuerst verwirrte der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter Lina. Dann überkam das Verstehen sie in einer eisigen Welle.

Ihre Mutter erinnerte sich an ihn.

Erinnerungen, die der Familie gehören sollten, die in Linas Herz bewahrt sein sollten, an dieser Stelle, wo jetzt nichts als ein dunkles Loch war, mit Daddy markiert. Lina hatte sich so sehr bemüht, diese Leere in ihrem Leben zu füllen, Bilder eines Mannes zu beschwören, der vor langer, langer Zeit weggegangen war und nie zurückgeschaut hatte. Und sie brauchte nur eine ganz einfache Frage zu stellen, und ihre Mutter erinnerte sich an Millionen Dinge über ihn. Wie er aussah, wie er lächelte, wie seine Hand sich anfühlte, wenn sie ihre eigene hielt. An alles das, was Lina sich zu wissen sehnte und niemals herausfinden konnte.

Lina sah Madelaine an und hasste sie in diesem Augenblick mehr, als sie jemals jemand gehasst hatte. »Dann weiß ich, warum er dich verlassen hat.«