Kapitel 11
Tom Grant saß aufrecht in seinem Bett und lachte leise über etwas, das seine Frau gesagt hatte, als Madelaine in sein Zimmer trat.
»Guten Morgen«, sagte sie, zog seine Patientenkarte aus der Hülle und las schnell die neuesten Eintragungen. »Sieht alles gut aus. Wir werden Sie heute von den intravenösen Medikamenten absetzen, Tom. Und diese Katheter - die kommen auch weg. Sie sind praktisch frei.«
Er grinste darauf. »Wann kann ich meine Kinder sehen? Joe ist vom College nach Hause gekommen.«
Sie trat an das Bett und überprüfte die beiden kleinen Drähte, die aus seiner Brust ragten. Sie dienten dazu, den Schlag und den elektrischen Rhythmus des neuen Herzens zu überwachen. Als sie fertig war, schaute sie Tom an. »Tut mir Leid, aber das wird heute nicht möglich sein.«
Toms Lächeln schwand. »Was ist los?«
»Joe hat eine Erkältung und wir wollen im Moment noch nichts riskieren.«
Susan stieß einen tiefen Seufzer aus. »O, Gott. Ich dachte schon, es seien schlechte Neuigkeiten.«
Madelaine verstand - die ersten paar Tage nach einer Operation waren immer erschreckend. »Ich werde selbst mit Joe sprechen. Wir werden ihn in den nächsten Tagen aufmerksam beobachten. Montag vielleicht...« Sie ließ die Worte im Raum hängen, bevor sie zu einem Versprechen wurden.
»Er hat dieses Schuljahr komplett mit Eins abgeschlossen«, sagte Tom stolz und blickte zu seiner Frau auf.
Madelaine hätte fast etwas Dümmliches gesagt, etwas Profanes, aber sie fasste sich. Sie trat stattdessen näher an das Bett. »Wie haben Sie das geschafft, so... gesunde, höfliche Kinder aufzuziehen?«
»Glück«, antwortete Tom schnell.
»Und Kein-Scheiß-Wochen«, fügte Susan mit einem Lachen hinzu.
Madelaine wandte sich zu Susan. Es war das erste Mal, dass sie die Frau einen Kraftausdruck benutzen hörte, und es überraschte sie. »Was meinen Sie damit?«
»Als die Kinder aufwuchsen, war Tom oft fort - oder krank. Ich wusste manchmal nicht mehr weiter. Die Kinder waren altersmäßig weit auseinander und sie waren so verschieden. Ich habe lange Zeit gebraucht, um die Oberhand zu gewinnen. Aber am Ende führte ich die >Kein Scheiß<-Wochen ein. Ich fing damit montags an und ließ mir von den Kindern absolut keinen Scheiß gefallen. Ich brüllte nicht und schrie nicht. Ich hab ihnen ganz ruhig und gelassen zu verstehen gegeben, dass ich der Boss bin. Gewöhnlich war nur eine Woche nötig. Danach waren sie's so leid, gegen die Regeln zu verstoßen, dass sie parierten.« Sie grinste. »Nach einer guten Kein-Scheiß-Woche lief mit ihnen alles für etwa sechs Monate ohne Probleme. Danach ging es von vorne los.«
»Tatsächlich?«, sagte Madelaine.
»Natürlich. Ich habe oft mit den aufsässigen Jungen Probleme gehabt. Aber man muss die großen Schlachten schlagen und die kleinen einfach lassen.«
Madelaine steckte die Patientenkarte in die Hülle zurück und lächelte die beiden an. »Tja, ich muss weiter meine Visite machen. Wir sehen uns morgen.«
Sie verließ lächelnd das Zimmer.
Kein-Scheiß-Wochen. Das hatte etwas.
Lina saß auf dem Beifahrersitz des bequemen Volvo, die Arme verschränkt, die Wangenmuskeln rebellisch angespannt. Die Dinge liefen nicht gut.
Sie warf ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu. Madelaine saß wie immer da, aufrecht, das Kinn erhoben, den Blick auf die Straße gerichtet, ihre Hände in den Zeigerstellungen von zehn und zwei Uhr am Lenkrad.
Lina hatte heute Morgen jeden Trick, den sie kannte, versucht, um ihr Fahrrad zu bekommen und damit zur Schule zu fahren - sie hatte ihre Mutter angeschrien, sie angebettelt, war aus der Küche gestampft und hatte ihre Zimmertür zugeknallt. Sie hatte sich geweigert zu frühstücken und sich geweigert, ein Schulbrot einzupacken. Himmel, sie hatte sogar geweint.
Nichts hatte genützt.
Es war, als hätte ein Außerirdischer Besitz vom Körper ihrer Mutter ergriffen. Madelaine war plötzlich dauernd Dr. Hillyard. Kalt, unbeteiligt, selbstsicher. Überhaupt nicht wie ihre Mutter.
Lina wusste nicht, was sie davon halten und wie sie sich verhalten sollte. Sie machte ihr Angst, diese plötzliche Veränderung ihrer Mutter. Jahrelang hatte Lina sich damit gebrüstet, im Haus das Sagen zu haben, war stolz darauf gewesen zu wissen, wie sie ihre schwache Mutter um den Finger wickeln konnte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als zu weinen - Teufel auch, einfach Tränen herauszuquetschen -, und Mom schenkte ihr die Welt. Lina konnte immer bis spät in die Nacht unterwegs sein, nach Hause kommen, wann sie wollte, essen, was sie wollte. Eine Träne im richtigen Augenblick hier oder da und Mom wurde weich.
Bis gestern.
Madelaine lenkte den Wagen an den Bordstein und schaltete die Automatik auf Parkposition. Das leise Brummen des Motors erfüllte das Wageninnere. Sie drehte sich zu ihrer Tochter. »Ich werde dich hier um halb vier abholen.«
Lina ging bei dieser Ankündigung hoch. Das wurde langsam lächerlich und peinlich. Wie sollte sie Jett sagen, dass sie nach der Schule nicht mit ins Einkaufszentrum gehen könnte? Dass ihre Mom sie abholen würde, als ob sie ein Baby sei?
»Mom, Ladendiebstahl ist kein Kapitalverbrechen. Reg dich ab. Jett wird mich nach Hause bringen, wenn wir im Einkaufszentrum waren.«
»Ich werde dich um Punkt halb vier abholen. Wenn du nicht hier bist, werde ich Mr Spencer anrufen.«
»Und ihm was sagen?«, schnaubte Lina verächtlich. »Dass ich ein Kapitalverbrechen begangen habe, weil du mich von der Schule abholen wolltest und ich nicht da war?«
»Ich werde ihm sagen, dass du ausgerissen bist.«
Linas Unterkiefer sackte herunter. »Die würden mich wieder in die Arrestzelle stecken.«
»Ach, wirklich?«
Lina starrte ihre Mom nur an, hatte das Gefühl, als würde sie plötzlich fallen und niemand wäre da, der sie auffing. »Das würdest du tatsächlich zulassen?«
»Ich habe keine andere Wahl, Lina. Wir müssen einige Dinge ändern, du und ich. Du weißt das genau.«
»Du willst Dinge ändern, Mom? Hör auf, mich anzulügen.« Sie sah befriedigt, wie ihre Mutter zusammenzuckte.
»Du entschuldigst alles mit ihm, nicht wahr?«, sagte die ruhig.
»Alles geht um ihn. Es ist deine Schuld, dass ich gestohlen habe. Ich hätte das nicht getan, wenn du mir den Namen meines Vaters gesagt hättest.«
»Ich werde um halb vier hier sein, um dich abzuholen.«
Lina spürte eine Welle heißer, blendender Wut. Wie konnte ihre Mutter es wagen, so ruhig und sachlich und ... und mütterlich zu sein? Es brachte Lina aus dem Gleichgewicht, verwirrte sie. So hatte das nicht zu laufen. Es hatte so zu laufen, dass sie bekam, was sie wollte, indem sie ihre alten Tricks benutzte.
Sie riss ihren Rucksack an sich und stieß die Tür auf. Sie sprang aus dem Wagen, wirbelte herum und starrte ihre Mutter an. »Ich werde nach Hause kommen, wenn ich Lust dazu habe.«
Madelaine starrte sie an, so kühl und ruhig, dass Lina ihr in ihr perfektes Gesicht schlagen wollte. »Dann grüße Mr Spencer herzlich von mir.«
»Ich hasse dich«, zischte Lina.
»Schade«, sagte ihre Mutter ruhig. »Denn ich liebe dich.« Dann beugte sie sich zur Seite und zog die Tür zu.
Lina stand da, so wütend, dass sie zitterte. Sie wollte kreischen oder schreien oder weinen. Sie wollte gegen irgendetwas treten. Aber alles, was sie tun konnte, war, zuzuschauen, wie ihre Mutter wegfuhr.
Madelaine trat in eines der leeren Krankenzimmer und schaute in den Badezimmerspiegel.
Sie sah aus wie Sylvester Stallone am Ende des ersten Rocky- Films.
Sie berührte die dunklen Ringe unter ihren Augen und runzelte die Stirn. Zu schade, dass Maybelline kein Make-up für übermüdete Gesichter herstellte. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen - was auch der Fall war. Dieses Erziehen nach dem Prinzip »kein Scheiß« war anstrengender als gedacht.
Sie hatte mit Lina das Richtige getan. Endlich einmal hatte sie als Mutter gehandelt und erzogen.
Und was, wenn Lina ausrissf Was dann, Frau Mutter des Jahres? Es war die Stimme ihres Vaters, dröhnend und autoritär, aber es waren ihre eigenen Worte. Diese Sorge war es, die sie die ganze Nacht wach gehalten hatte. Sie hatte versucht, ihre Schuldgefühle zu besänftigen, indem sie Bücher über zu viel Elternliebe und schwere Entscheidungen gelesen hatte, doch die Worte der Experten hatten kalt und dunkel auf den weißen Seiten gestanden. Sie boten überhaupt keinen Trost.
Sie verließ das Bad und ging über den vertrauten weißen Korridor zur Intensivstation. Als sie Angels Zimmer erreichte, klopfte sie leise an und trat ein.
Sie konnte nicht glauben, was sie sah.
Er lag da, sog an einer Zigarette und blies dann den Rauch in die Luft. Eine geöffnete Flasche Tequila stand auf dem Nachttisch.
Er besaß nicht einmal so viel Anstand, Schuldbewusstsein zu zeigen. Stattdessen schenkte er ihr ein benebeltes, schiefes Grinsen. »Uh - oh, die Saalwärterin.« Er griff nach der Flasche und stieß mit seinen Knöcheln dagegen. Sie schwankte und kippte um. Goldgelbe Flüssigkeit breitete sich überall aus. Der Übelkeit erregende süße Geruch von Tequila stieg auf. Er drückte seine Zigarette auf dem Nachttisch aus.
Sengend heißer Ärger durchfuhr sie. Sie ergriff die Flasche und ging damit ins Badezimmer, schüttete den restlichen Alkohol ins Waschbecken. Die Flasche fiel mit einem befriedigenden Klirren in den Abfalleimer.
Sie wirbelte herum und stürmte zurück in das Zimmer. »Du bist der egoistischste, selbstsüchtigste Mistkerl, der mir je begegnet ist.«
»Auch eine Möglichkeit, eine schöne Party platzen zu lassen, Doc.«
Sie konnte den Zigarettenrauch riechen, der den Raum erfüllte. Er erinnerte sie mit jedem Atemzug daran, dass Angel zu egoistisch war, sich zu ändern, zu schwach, um wirklich die Entscheidung zu treffen, zu leben. Selbst hier, in der kalten, freudlosen Leere der Intensivstation, wo Maschinen ringsum zischten und spuckten, sein angeschlagenes Herz mit einem Dutzend elektrischer Drähte zusammenhielten, selbst hier fand er nicht die Kraft, sich zu ändern. Stattdessen setzte er sein loses, unverantwortliches Leben im Krankenhaus fort.
»Was, zum Teufel, wolltest du tun?«
Er lachte, ein abgehacktes, atemloses Geräusch, nur ein blasser Abklatsch des Lachens, an das sie sich erinnerte. »An Krebs sterben.«
Dann drehte er sehr langsam seinen Kopf auf dem Kissen und blickte mit wässrigen Augen zu ihr. Plötzlich lächelte er nicht mehr. Er sah krank und schwach und gebrochen aus. Sein Haar war fettig und ungekämmt. Die Stoppeln eines zwei Tage alten Bartes ragten aus seinem Kinn und verdunkelten seine Oberlippe. Selbst seine Augen, diese unglaublich grünen Augen, sahen schrecklich müde aus.
Sie hatte dieses Gesicht schon zuvor gesehen, wohl tausendmal in ihrem Beruf. Manchmal waren die Augen blau, manchmal braun, manchmal grün, aber sie waren immer wässrig und traurig und schauten müde.
Er starb.
Der Ärger verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Sie ging zum Bett hinüber und zog einen Stuhl heran. »Oh, Angel«, sagte sie leise, schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Mach das nicht mit mir«, sagte er mit einer Stimme, die durch Demerol langsam und undeutlich klang. »Ich ... werde nicht...«
Das rasselnde Keuchen seines Atems schien seine Worte wegzusaugen. Sie musste näher heranrücken, um ihn zu verstehen. »Was ist?«
Er starrte sie an und die Freudlosigkeit in seinem Blick war fast unerträglich. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
Madelaine sah seine Furcht, seine Unsicherheit, und obwohl sie von all dem unberührt sein wollte, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Sie berührte sein raues, unrasiertes Kinn. »Es ist in Ordnung, Angst zu haben.«
»Wer sagt denn, ich hätte Angst?«
Sie lächelte sanft. »Du machst mir nichts mehr vor.«
Er bewegte sich ein wenig und zuckte sofort vor Schmerz zusammen. Mit verzerrtem Gesicht zog er die Fernbedienung des Bettes auf seinen Schoß und drückte den Knopf. Klick. Mit einem knirschenden Geräusch hob sich das Bett. Er starrte Madelaine schwer atmend an. »Was soll das heißen?«
Sie war über die Vertraulichkeit der Frage überrascht. Für eine Sekunde erinnerte sie sich an so vieles von ihnen, die kleinen Dinge, die winzigen Augenblicke, die Dinge, die sie zueinander gesagt hatten, Versprechen, die sie sich im Dunkel der Nacht gegeben hatten. Bevor ich dich kennen gelernt habe, Mad, wollte ich sterben ...
Und ihre Antwort, so naiv und furchtsam. Sag das nicht, Angel, sag das niemals.
»Was soll das heißen?«, wollte er wissen.
Sie verdrängte die Erinnerungen und starrte auf ihn hinab. »Als wir Kinder waren, hast du mir oft erzählt, du wollest sterben.«
Eine lange Pause entstand und ihr war erst bewusst, dass sie auf eine Erwiderung wartete, als er antwortete. »Das ist lange her.«
Sie bemerkte plötzlich, wie verschieden sie waren, wie dieselben Worte im Lauf der Zeit so unterschiedliche Bedeutungen haben konnten. Als junges Mädchen war ihr seine Todessehnsucht überaus romantisch vorgekommen, wie ein Fehdehandschuh, den nur sie aufnehmen konnte. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt verstand sie die Worte so, wie sie tatsächlich waren - egoistisch und dumm. Und eine Vergeudung. Eine solche Vergeudung. »Du bist ein Feigling, Angel DeMarco. Das warst du immer.«
»Leck mich.«
»Nur zu, fluche auf mich. Es ändert nichts an der Wahrheit, dass du Angst vorm Leben hast.«
Wut blitzte in seinen Augen. Der Herzmonitor piepte warnend. »Hör doch auf, so zu tun, als würdest du mich kennen. Du kennst mich nicht.«
»Ich weiß, wer du einmal warst, Angel, und, offen gesagt, ich sehe keine Veränderung. Du wusstest nie, wann du Kompromisse zu schließen hattest, wann du dir wirklich Mühe geben musstest. Du wusstest nur, wie man wegläuft. Ja, du bist weggelaufen und hast getrunken und dich versteckt. Und du bist hier geendet, genau da, wo du angefangen hast.«
Er starrte sie eine lange, lange Zeit an, bis die Wut aus seinen Augen verschwand und an ihre Stelle unendliche Resignation trat.
Als er schließlich sprach, war seine Stimme nur ein Wispern. »Ich weiß nicht, wie ich mich ändern soll.«
In diesem Augenblick spürte sie etwas, das sie überraschte, eine plötzliche Verbindung mit diesem Mann, gerade so, als ob für einen einzigen Atemzug die Vergangenheit nie gestorben sei und sie nie erlebt hätte, wie er auf einer brandneuen Harley-Davidson aus ihrem Leben gefahren war. In dieser Sekunde erinnerte sie sich an das Warum und Wie ihrer Liebe zu ihm, an diese winzigen schwachen Stellen in seiner Rüstung, die sie gefesselt hatten, diese Verwundbarkeit, die sie immer in seinen Augen gesehen hatte. Sie dachte daran, wie ähnlich sie sich einmal gewesen waren. »Ich weiß, wie schwer es ist, sich wirklich zu ändern. Aber du bist jetzt daheim. Das muss etwas bedeuten. Francis ist hier und ich weiß, wie sehr er dich liebt, wie sehr er bereit wäre, dir zu helfen. Du bist zu Hause, Angel. Du wirst vielleicht einen Grund zum Leben finden, wenn du dich umschaust.«
Er lächelte sie matt an. »Ich glaube, es war Thomas Wolfe, der sagte >Man kann nie wieder nach Hause zurückkehren.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie langsam und hielt seinem Blick stand. »Zu Hause sein ist ein Teil von uns. Das steckt in den Narben, die wir an unseren Knien und Ellenbogen haben, in den Erinnerungen, die an die Oberfläche kommen, wenn wir schlafen. Ich glaube nicht, dass man wirklich weggehen kann.«
Er setzte zu einer Antwort an, doch bevor er sprechen konnte, meldete sich Madelaines Pieper. Es war eine Nachricht von Allenford. Sie griff sofort nach dem Telefon neben dem Bett und wählte die vierstellige Nummer.
Chris nahm beim ersten Läuten ab. »Allenford.«
»Hi, Chris«, sagte Madelaine. »Was gibt's?«
»DeMarco. Ich glaube, wir haben ein Herz.«
Angel hatte geglaubt zu wissen, was Angst sei. Er hatte die schwitzenden Handflächen gekannt, den Klumpen in der Magengrube, der bei jedem Atemzug schwerer wurde, den metallischen Geschmack auf der Zunge. Einmal hatte er fast eine Überdosis Drogen genommen, aber selbst das - in der Notaufnahme aufzuwachen, wo ihn ein Dutzend Gesichter anstarrten -, selbst das war nichts im Vergleich zu dem hier.
Angst war ein lebendes, atmendes Ding in ihm, zerrte an seiner Haut, troff mit faulig riechenden, salzigen Schweißperlen aus seiner Haut.
Er schloss die Augen und wusste sofort, dass dies ein Fehler war. Die Bilder waren da, warteten wie makabre Geister in der Dunkelheit - der Unfall, der ihm Leben bringen würde, der »Spender«, der niemals wieder seine Augen öffnen würde, niemals wieder seine Frau anlächeln oder seine Kinder umarmen würde. Er sah Blut - sein Blut, das des Spenders, und wie sich beides miteinander vermischte ...
Er drehte sich leicht in dem schmalen Bett, krallte seine Hände den Fängen eines Raubvogels gleich um die warmen metallenen Gitterstäbe. Ein Stöhnen stieg in seiner Kehle auf und kam als ein Seufzen heraus. Er öffnete langsam die Augen und starrte blicklos geradeaus, bis die weiße Decke mit dem silbernen Neonlicht verschmolz.
Er wollte beten, musste beten, aber es war zu lange her, und er wusste, dass niemand zuhören würde. Oh, er wusste, dass er bei einem Priester um Absolution bitten konnte, tatsächlich ja bei seinem eigenen Bruder, aber das war zu leicht, zu einfach. Er konnte nicht an einen Gott glauben, der so verzeihend war. Er wusste, dass er es verdient hatte zu leiden.
Und er litt. Gott im Himmel, er hatte noch nie in seinem Leben solche Angst gehabt.
»Angel?«
Er hörte Madelaines heisere Stimme und für einen Sekundenbruchteil erinnerte er sich an alles, an jede Sekunde, die sie zusammen gewesen waren, jede Berührung, die sie geteilt hatten. Die Erinnerungen brachten ein schmerzendes, bittersüßes Gefühl von Verlust mit sich. Er überlegte plötzlich, wie es gewesen wäre, wenn er diesen Weg nicht gegangen wäre, das Leben gelebt hätte, vor dem er davongelaufen war.
Langsam und voller Schmerzen drehte er seinen Kopf zu ihr, um sie anzusehen.
Sie stand selbstsicher in der Tür. Eine schmale, blasse Hand schwebte zögernd über dem Türknopf. Wie immer stand sie perfekt aufrecht da, das Kinn ein wenig angehoben, das Haar in honigbraunen Locken sorgfältig gekämmt.
Er wollte sie frech anlächeln, als ob alles dies unwichtig sei, und er versuchte es. »Hallo, Doc.«
»Hallo, Angel. Bist du bereit?«
Er starrte sie so intensiv an, dass es eine Sekunde dauerte, bis er ihre Worte verinnerlicht hatte. Als es so weit war, trafen sie ihn mit der Wucht eines Schlages. »Bereit?«, flüsterte er. Er wusste, wie jämmerlich er klang. Da lag er nun, vom Kinn bis zu den Knöcheln rasiert, die Haut verfärbt durch antiseptische Lösung, die Adern durchsetzt von intravenösen Nadeln, das Haar mit einer Papiermütze bedeckt.
Er würde sterben, hier und jetzt, mit aufgeschnittener Brust, und sein Herz würde seine letzten schwachen Schläge in den behandschuhten Händen eines anderen Mannes machen.
Madelaine ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und trat leise an sein Bett, setzte sich neben ihn. »Doktor Allenford ist auf dem Weg nach Tacoma, um das Spenderherz zu untersuchen. « Spenderherz.
Die Worte hallten wider und wider in seinem Schädel, echo-N ten, echoten. Ein Herz herausgeschnitten, ein anderes eingenäht.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Madelaine«, sagte er leise.
Sie beugte sich zu ihm und ihre Berührung seiner feuchten Wange war kühl und tröstend. »Du hast nie genug an dich geglaubt«, sagte sie mit einem Lächeln, das so schnell kam und ging, dass er sich fragte, ob er es sich nur eingebildet hatte.
Er stieß ein Lachen aus, das in einem rasselnden Husten endete. »Wenn man so rumliegt und aufs Sterben wartet, fängt man an, über die Bedeutung des Lebens nachzudenken.«
Wieder ein Lächeln. Weicher. Länger anhaltend. »Erzähl mir bloß nicht, dass du philosophisch wirst.«
Er wollte sie anlächeln, aber jetzt war in ihm kein Lächeln. Da war nur diese gewaltige Angst und die Einsamkeit. »Sieh mich nicht so überrascht an. Ich wäre 1986 fast Kandidat bei >Jeopardy< geworden. Bin in der Kategorie Moral gescheitert.«
»Hat so sein sollen.«
Er wurde wieder ernst. »Mein Leben bedeutet nicht viel, Mad.«
»Leben ist das, was man daraus macht, Angel. Vielleicht... wirst du nach der Operation ein anderes Leben führen.«
»Leben ist das, was man daraus macht«, wiederholte er wie ein Papagei und empfand plötzlich Bitterkeit ihr gegenüber. Die Bitterkeit verflog und ohne sie fühlte er sich wieder kalt. »Ja, du hast Recht«, gestand er ein, starrte sie an und sah zum ersten Mal die winzigen Linien, die wie Kommas an den Winkeln ihres Mundes hingen. Sie streifte sich unsicher ein nicht vorhandenes Haar aus der Stirn und er bemerkte, dass ein Knopf an ihrem Ärmel fehlte.
Sie wirkte so menschlich durch diesen kleinen Faden, der aus ihrer ansonsten perfekten Seidenbluse ragte.
»Ich hätte nicht so davonlaufen sollen.« Er sagte die Worte, als bedeuteten sie überhaupt nichts, aber sie bedeuteten überraschenderweise sehr wohl etwas. Obwohl die Entschuldigung kläglich und kurz war und Jahre zu spät kam, war es ein gutes Gefühl, seinen Fehler zuzugeben. Er hatte ein ganzes Leben damit verbracht, vor einer falschen Entscheidung davonzulaufen, als ob er sie damit ändern oder ungeschehen machen könnte. Er hatte aus Dutzenden verdreckter Telefonzellen in Städten, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte, Madelaine und Francis angerufen, die Nummern gewählt und dem Rufzeichen gelauscht. Aber er hatte immer eingehängt, bevor sie sich meldeten.
Was hätte er ihnen sagen sollen?
Aber dennoch hatte er es versucht, bis die Nummern, die er von ihnen hatte, geändert worden waren.
»Das war vor langer Zeit, Angel.«
»Manchmal scheint's mir, als sei es Äonen her. Und manchmal ist es, als sei's gestern gewesen. Auch egal. Ich weiß, dass es nicht wichtig ist. Aber ich wollte, dass du es weißt. Ich hätte mit dir zu Alex gehen sollen.«
Sie zuckte zusammen. Er sah, wie die Farbe aus ihren Wangen wich, wie ihr Gesicht aschfahl wurde.
Er sah den Schmerz in ihren Augen und er fühlte sich einmal mehr wie ein Arschloch. Natürlich wollte sie nicht daran denken. »Tut mir Leid«, flüsterte er.
Sie rührte sich nicht. Saß nur da und starrte ihn an.
Ihr Pieper ging los, drang in die angespannte Stille. Sie griff abwesend nach ihm, stellte den Ton ab und nahm sein Telefon. Sie wählte die Nummer, bat darum, mit Dr. Allenford verbunden zu werden. Sie sagte leise ein paar Worte und legte dann auf.
Er wusste, dass es schlecht stand, als er ihre Miene sah. »Was ist?«
Sie legte eine Hand vor ihre Augen, nahm sie dann langsam, ganz langsam weg und schaute Angel an. »Es war nicht in Ordnung. Der Zustand des Herzens war nicht gut genug. Tut mir Leid.«
»Keine Operation?« Er versuchte tief einzuatmen, konnte es nicht, hörte, wie er pfiff und keuchte. »Ich ...« Bevor er die Worte herausbringen konnte, spürte er, wie sein Herzschlag stockte. Schmerz tobte in seiner Brust. Er versuchte zu atmen, konnte es aber nicht.
Ich sterbe, dachte er plötzlich und er wusste, dass es die Wahrheit war. Er streckte blind die Hand aus.
Madelaine ergriff sie, drückte sie fest. Irgendwie hörte er, dass sie einen Knopf drückte, hörte sie schreien Notfall, Herzanfall, Intensivstation, Zimmer 264, Westflügel. Stillstand. Den Wagen her. Dann spürte er ihre Hände auf seiner Brust, spürte, wie das Baumwollhemd beiseite gestreift wurde.
Stirb ja nicht unter meinen Händen weg, Angel. Verdammt, stirb mir ja nicht weg.
Er hörte ihre Stimme durch den Nebel seiner Gedanken, durch den Schmerz, der seine Brust füllte, seine Muskeln zerfetzte. Er wollte antworten, aber er konnte es nicht.
Der Schmerz wurde heftiger, verwandelte sich in Feuer und explodierte in seinem Herzen.