Kapitel 12
Regen trommelte auf die Straßen der Stadt, spritzte auf das Asphaltdach des Nachbargebäudes und bildete schmutzigtrübe Pfützen in dem losen Kies. Madelaine stand am Fenster und starrte auf die nebelgraue Stadt zwei Etagen unter sich. Da unten war so ein ganz gewöhnlicher Oktobertag. Nichts war anders, nichts neu.
Die Ampel an der Madison Street sprang von Rot auf Grün und Gelb. Bunte Regenschirme bewegten sich über die rutschigen Bürgersteige, verwoben sich mit- und lösten sich voneinander. Autos fuhren an und hielten und bogen um Ecken, verschwanden unter den grünen Baldachinen der Bäume in der Nachbarschaft.
Das Leben ging weiter.
Aber nicht für Madelaine. Selbst jetzt, als sie dort stand, auf all die Dinge blickte, die sie Millionen Mal schon gesehen hatte, sah sie die Dinge, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie bemerkte, wie die Tauben, die auf dem Fenstersims hockten, aneinander klebten, leise miteinander gurrten. Wie die Blätter, die so oft von den Bäumen geweht wurden und am Glas hängen blieben, von Farben durchdrungen waren - rot, gold, grün und braun -, wie das Sonnenlicht mit einem Speer buttergelben Lichtes die Wolken durchbrechen konnte, der aus dem Himmel selbst zu fallen schien.
Sie wandte sich langsam vom Fenster ab und trat an das Bett.
Angel lag still wie der Tod da, die Haut aschfahl, die Lippen kreideweiß. Er atmete - endlich - ohne die Hilfe eines Beatmungsgerätes. Neben ihm klickte der Kardiograph, spuckte Sekunde um Sekunde einen Bericht über das Herz aus, das versagte.
Versagte. Versagt hatte.
Sie riss den schmalen Endlospapierstreifen heraus und betrachtete die grafische Analyse seines Herzschlages, beugte sich dann über ihn und strich ihm das feuchte Haar aus der Stirn. Ihre Finger verweilten auf seiner warmen, verschwitzten Haut. Komm, Angel. Komm schon.
Seine Augenlider flatterten, aber er erwachte nicht.
Sie legte eine Hand auf die Seite seines Gesichts und schloss ihre Augen. Leise, wie auf Zehenspitzen, kamen die Erinnerungen. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie Angel DeMarco kennen gelernt hatte. Die scheue freiwillige Schwesternhelferin und der junge Rebell.
An diesem ersten Tag hatte sie ihm nichts bedeutet. Das hatte sie natürlich gewusst. Sie konnte die Falschheit in seinem Lächeln sehen. So, wie es war, nur eine Spur zu berechnend, um wirklich herzlich zu sein.
Ja, sie hatte von Anfang an gesehen, dass es eine Lüge war, aber es war ihr egal gewesen. Selbst ein falsches Lächeln war so viel mehr als das, was sie gewöhnt war, und wenn sie die Augen schloss und nur seinen Worten lauschte, war das alles so schmerzlich süß ...
Im Lauf der Zeit hatte sie begriffen, was in diesem Augenblick geschehen war, als er sie zum ersten Mal angelächelt hatte. Sie war hoffnungslos einsam gewesen und ihr war nie der Gedanke gekommen, dass jemand sie mit aufrichtiger Zuneigung anlächeln würde. Ihr Vater hatte ihre zerbrechliche Mädchenselbstachtung so sehr zerstört, dass sie viel zu wenig erwartete.
Angel war zu ihr gekommen, als sie innerlich leer war, war zu ihr gekommen und hatte die Hand ausgestreckt und geflüstert: »Komm mit mir...«
Selbst jetzt noch, all diese vielen Jahre später, war die Erinnerung wie ein elektrischer Strom. Sie hatte Angst davor gehabt, die Hand auszustrecken, aber noch mehr Angst, es nicht zu tun, und so stand sie da, gelähmt von ihrer eigenen Unfähigkeit, sich zu entscheiden.
Komm mit mir...
Als er es das zweite Mal gesagt hatte, war es wie ein Geschenk gewesen. Sie hatte gespürt, wie ihr heiß wurde, dann kalt. Worte stiegen in ihrer Kehle auf und kamen heraus, unausgesprochen, in einem kichernden Lachen.
Sie wusste, dass er sich daraufhin angewidert von ihr abwenden würde und mit demselben Wind aus ihrem Leben verschwinden würde, der ihn gebracht hatte, und die Panik dieser Erkenntnis ließ das Herz in ihrer Brust hämmern und ihre Kehle trocken werden. Aber er bewegte sich nicht. Er stand einfach dort und hielt ihr seine Hand ausgestreckt entgegen. Er sah sie an, sah sie diesmal wirklich an, und für einen Sekundenbruchteil verschwand sein falsches Lächeln und ein echtes trat an seine Stelle. Damals wusste sie, in diesem Augenblick, dass sie alles tun würde - alles -, um wieder so von ihm angelächelt zu werden ...
Angel hustete und das Geräusch erweckte Madelaines Aufmerksamkeit. Sie schaute zu ihm.
Er blinzelte, hustete wieder. Sie wartete darauf, dass er erwachte, aber als er das nicht tat, zog sie einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn, las ruhig und laut eine Passage aus Der kleine Hobbit, in dem sie vor einer Stunde zu lesen begonnen hatte.
Mitten im zweiten Kapitel öffnete er die Augen. Sie wartete, bemerkte nicht einmal, dass sie den Atem anhielt. Sie schloss das Buch und legte es auf den Nachttisch.
»Ich werde sterben, nicht wahr?« Er schenkte ihr ein schiefes, flüchtiges Lächeln, und für eine Sekunde war er wieder der alte Angel und sie war das Mädchen, das ihn mit ganzem Herzen liebte.
»Ich werde nicht aufhören, an ein Wunder zu glauben«, erwiderte sie ruhig. Sie wusste sehr wohl, dass es nicht die Antwort war, die er hören wollte, wusste aber auch, dass sie nichts anderes sagen konnte.
»Erzähl mir von diesem Wunder«, sagte er, »erzähl mir davon, wie es ist, mit dem Herz eines anderen Mannes zu leben. Wie wird das sein?«
Er sagte die Worte leichthin, als würde er um eine Gutenachtgeschichte bitten, aber sie sah die Wahrheit in seinen Augen, die Furcht, die er sie zu mildern bat. Er wollte eine Gutenachtgeschichte, etwas, an das er sich in der Dunkelheit seines Schmerzes klammern konnte, einen Grund, um weiter zu glauben.
Sie rückte näher an sein Bett. »Ich hatte einmal einen Patienten, er hieß Robert und er war genauso gebrochen wie du, als er zu uns kam. Er wartete vier Monate auf einen Spender, und als schließlich einer gefunden worden war, hätte er es fast nicht überlebt. Er hätte es wahrscheinlich auch nicht, nur bestand seine Frau darauf.« Sie lächelte sanft. »Danach zog er zurück in seine kleine Stadt in Oregon und ich hörte zwei Jahre lang nichts von ihm. Dann kam er eines Tages vorbei, um mich zu besuchen - und er brachte sein neugeborenes Baby, ein kleines Mädchen, mit. Sie hatten es Madelaine Allenford Hartfort getauft.«
Es dauerte eine Minute, bis Angel sprach, und als er es tat, war seine Stimme abgehackt und heiser. »Wie wird es wirklich sein?«
Die einfache Frage schmerzte. Er hatte gewusst, dass es sich um ein Märchen handelte, dass ein Ende wie dieses etwas für Menschen war, die daran glaubten. »Du wirst für den Rest deines Lebens Medikamente nehmen müssen. Du wirst dich gesund ernähren und Gymnastik treiben müssen. Millionen Kalifornier leben freiwillig so.« Sie versuchte zu lächeln, merkte aber, dass sie das nicht konnte. Sie beugte sich näher zu ihm, strich ihm das feuchte, verschwitzte Haar aus den Augen. »Aber du wirst leben, Angel. Du kannst noch immer in Filmen spielen, sogar deine Wutanfälle austoben, noch immer dein überlebensgroßes Ich sein. Alles, was im Leben zählt, wirst du noch immer haben können.«
»Was ist mit Kindern?«
Sie brauchte eine Sekunde, um zu antworten. »Wolltest du Kinder, Angel?«
Er schenkte ihr ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Bitte sprich nicht in der Vergangenheit über mich. Ich bin überaus sensibel.« Er ließ einen Augenblick des Schweigens zwischen sie treten, bevor er schließlich antwortete. »Ja, ich wollte Kinder... früher einmal. Ich hatte mich zuweilen gefragt... hatte mich zuweilen gesehen, wie ich an einem Herbstabend mit einem blondhaarigen kleinen Jungen Ball spielte. Jetzt natürlich...«
Madelaine konnte nicht atmen. Das Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus, wurde länger. Schließlich sagte Madelaine: »Tu dir das nicht an.«
Er drehte leicht den Kopf und starrte auf eine Stelle links neben ihrem Kopf. »Nächstes Mal.« Seine Stimme sank zu einem rauen Flüstern. »Rette mich beim nächsten Mal nicht. Ich will nicht...« Er kniff seine Augen fest zu, aber erst, als sie das Glitzern von Tränen gesehen hatte. »Nicht so ...«
Und in diesem Augenblick wurden so viele Dinge klar. Sie starrte auf ihn hinab, erinnerte sich und vergaß alles in einem einzigen Atemzug. Dieser Mann, den sie einmal geliebt hatte, litt, und obwohl er es nicht wusste, es nicht zugeben würde, streckte er genau so die Hände nach ihr aus, wie sie es gehofft hatte, worum sie heimlich gebetet hatte. Ein Teil von ihm rechnete damit, dass das Mädchen, das Kranke im Hospital betreut hatte, sich wieder um ihn kümmerte.
Er war der alte Angel, der Junge, der ihre Hand genommen und ihr eine völlig neue Welt gezeigt hatte, der Junge, der geweint hatte, als er ihr sagte, dass er sie liebe.
Diesem Mann mit seinen geheimen Träumen von einem verlorenen Sohn und seinem stillen Eingeständnis der Niederlage, diesem Mann könnte sie vielleicht vertrauen ...
Sie erhob sich und wandte sich vom Bett ab. An ihrem Daumennagel kauend, ging sie zum Fenster hinüber und starrte nach draußen, schaute zu, wie der silberne Regen fiel.
In diesem Moment hatte sie Angst vor ihren eigenen Gefühlen, fürchtete, dass sie fühlte, statt zu denken, und jedes Mal, wenn sie das in ihrem Leben getan hatte, hatte sie teuer dafür bezahlt.
»Weißt du, Mad...«, Seine Stimme drang langsam zu ihr. Fast gegen ihren Willen drehte sie sich zu ihm um.
Er lag dort und sah schwach und gebrochen aus. »Du hast mich verfolgt«, flüsterte er und versuchte, sie anzulächeln.
Sie sah den Schmerz in seinen Augen, das Bedauern und die Sorge, und sie begriff, dass ihre eigene Furcht nichts war im Vergleich zu seiner. Er brauchte sie jetzt, brauchte sie mehr, als er jemals diese sechzehnjährige freiwillige Krankenhaushelferin gebraucht hatte - und sie musste stark sein. Musste sich ihrer Furcht vor Hingabe stellen und das Richtige tun.
»Du kannst nicht sterben, Angel«, sagte sie leise, so leise, dass sie sich fragte, ob er sie überhaupt hören konnte. Sie schluckte schwer, hatte das Gefühl, auf einen schmalen, rutschigen Grat hinauszugehen, aber es gab kein Zurück. Sie konnte Angel nicht sterben lassen, ohne ihm das eine Geschenk zu geben, das ihn vielleicht dazu bringen könnte, an Märchen zu glauben.
Er schenkte ihr einen Abglanz seines berühmten Lächelns. »Sieh mich doch an.«
Sie zog ihre Hand zurück und starrte ihn an. »Wenn du stirbst, wird deine Tochter dir das nie verzeihen.«
Es mussten die Medikamente sein. Er konnte nicht gehört haben, was er gehört zu haben glaubte.
Deine Tochter.
Die Worte drangen tief in ihn, drehten sich. Für einen Sekundenbruchteil empfand er das Aufblitzen reiner, strahlendweißer Hoffnung. »Entschuldige, Mad. Ich habe gerade den Faden verloren. Worüber sprachen wir?«
»Ich sagte, du hast eine Tochter.«
»Ist das ein Witz?« Er keuchte.
Er glaubte, ein Funkeln von Tränen in ihren Augen zu sehen. Dann waren sie verschwunden. Sie schüttelte langsam ihren Kopf. »Glaubst du, ich wäre so grausam?«
»Nein. Aber ...« Er hielt inne, wusste nicht, was er sagen oder fühlen sollte. »Eine Tochter«, sagte er langsam und versuchte, das zu verarbeiten.
Eine Tochter. Er presste seine Augen zu.
Madelaine hatte sie ihm vorenthalten, sein Kind versteckt, als ob er kein Recht gehabt hätte, auch nur von seiner Existenz zu erfahren. Sie wusste, dass er geglaubt hatte, sie hätte abtreiben lassen, und sie hatte ihn in diesem Glauben gelassen, hatte ihn sein Leben leben lassen, ohne dass er gewusst hatte, dass er Vater war. »Du Miststück«, zischte er. Wut war ein schwarzer, bitterer Geschmack in seinem Mund und er wollte sie mit Flüchen überschütten, wollte, dass sie sich so betrogen und verletzt fühlte, wie er sich jetzt fühlte.
Er war froh, dass sie zusammenzuckte. Dann griff sie wortlos in ihre Handtasche und zog eine schwarze Lederbrieftasche heraus. Sie klappte sie auf, zog ein Foto heraus und reichte es ihm.
Für eine Sekunde zitterten seine Hände so heftig, dass er das Bild nicht richtig sehen konnte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem, ignorierte die stotternden Aussetzer seines ermatteten Herzens. Dann öffnete er ganz langsam wieder seine Augen.
Das Mädchen, das ihn anschaute, war ein Spiegelbild.
Seine Tochter.
Sie sah jung aus, hatte stahlblaue Augen und pechschwarzes Haar. Ihr Lächeln wirkte vertraut - breit und strahlend und faszinierend. Sie war schwarz gekleidet, trug eine Herrensmokingweste über einem T-Shirt und an jedem Ohr baumelten mehrere schwarze Ringe. In ihrem Blick war ein anmaßender Trotz, der Angel das Gefühl vermittelte, sie zu kennen.
Er konnte das Bild nicht loslassen. Er hielt es, streichelte die poröse Oberfläche, als ob er durch die Berührung des Fotos das Mädchen irgendwie kennen lernen könnte. Seine Tochter.
Langsam verflog der Ärger in ihm, wurde zu dem kalten harten Fels von Bedauern. Natürlich hatte Madelaine dies vor ihm geheim halten müssen - was hätte sie anderes tun können? Welche Wahl hatte er ihr gelassen?
»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Ich habe kein Recht...«
»Nein«, sagte sie mit stählerner Stimme, »das hast du nicht.«
»Ich glaubte ...«Er merkte, dass er die Worte nicht aussprechen konnte.
Sie nickte. »Ich weiß. Du dachtest, ich hätte abgetrieben. Mein Vater konnte es gar nicht erwarten, mir von deiner Reaktion zu berichten.«
»Erzähl mir, was passiert ist.«
Sie wandte den Blick von ihm ab und bedeckte lange Zeit ihren Mund mit einer Hand. Er wusste, wie sehr dieser Augenblick sie schmerzte. Er wünschte, er könnte sie berühren, ihr sagen, dass das okay war, dass er verstand, aber er konnte es nicht tun. Er verstand absolut gar nichts.
»Es ist lange her«, sagte Madelaine schließlich. »Nachdem du gegangen warst, bekam Alex einen Wutanfall.« Sie lachte müde auf. »Du wirst das Kind dieses schmierigen, kleinen Spaghettifressers nicht haben, verstehst du}«, sagte sie, Alex' schreiende Stimme perfekt nachahmend. »Er sperrte mich drei Tag lang in meinem Zimmer ein. Ich wartete darauf, dass du...« Sie schenkte ihm ein versiertes Lächeln. »Als ich die Harley sah, wusste ich, was du getan hattest.«
»Mad...«
Sie streifte eine nicht vorhandene Haarsträhne aus ihrer Stirn und fuhr fort, ohne ihn anzusehen. »Alex befahl mir, das Kind abtreiben zu lassen und dass kein Wort mehr über diese Schande verloren werde.« Sie atmete zitternd ein. »Ich willigte ein. Was hätte ich anderes tun können, wohin hätte ich sonst gehen können?«
Sie schluckte schwer und starrte auf ihre Hände. »Ich stieg in die Limousine und ließ mich von dem Fahrer zu der Praxis des Arztes bringen, mit dem Alex den Termin vereinbart hatte. Ich wollte einfach tun, was er verlangte, ihn entscheiden lassen, was das Beste für mich sei.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir war alles völlig egal.«
Er schaute zu, wie sie nach vorne sank und lange Zeit nichts sagte. Dann richtete sie sich langsam auf und hob ihr Kinn. Er wusste, dass sie einen schmerzlichen Kampf austrug und auf die einzige Weise kämpfte, die sie kannte, auf die Art, die Alex sie gelehrt hatte.
Nach ein paar weiteren Sekunden fuhr sie fort und ihre Stimme war ausdruckslos. »Alles änderte sich, als ich in die Klinik kam.« Sie erschauerte ihr leerer Blick fiel auf die graue Wand. »Dieses kalte Ziegelgebäude ... die gelben Sofas, auf denen Mädchen wie ich saßen. Ich erinnere mich, wie mein Name aufgerufen wurde. Ich zuckte zusammen. Ich folgte der Krankenschwester in das Untersuchungszimmer und zog meine Kleider aus. Ich zog dieses dünne Krankenhaushemd an und stieg auf den mit Papier bedeckten Tisch.«
Sie schauderte wieder. »Ich starrte auf diese Fußhaltebügel und dachte daran, was sie mit mir machen würden, mit meinem Baby... mit unserem Baby, und ich konnte es nicht tun.«
Ihr Schmerz durchbohrte ihn wie ein Messer, tat ihm fürchterlich weh. »Gott, Mad...«
»Ich zog mich an und schlich mich hinaus. Die Limousine wartete am Bordstein, aber ich wusste, dass es kein Zurück gab. Alex hatte das sehr klar gesagt. Ich konnte ihn nur erfreuen - ihn, den großen, unfreundlichen Alexander Hillyard -, indem ich abtreiben ließ. So wandte ich mich an die einzige Person, die mir einfiel.«
Angel wusste es, bevor sie es sagte.
»Francis.« Sie lächelte, als sie seinen Namen aussprach. »Du erinnerst dich, wie er damals war. Achtzehn. Scheu, ein Bücherwurm. Er war gerade in das Seminar eingetreten und auf dem Wege, Priester zu werden. Aber er kümmerte sich an diesem Tag um mich, und am nächsten Tag und am Tage darauf. Er rettete uns beide.« Sie stieß ein kaum vernehmliches Lachen aus. »Er stellte keine Fragen, sagte nichts außer He, Maddy-Mädchen, du bist im falschen Teil der Stadt. Er brachte mich in einem Heim für schwangere Teenager unter und es gefiel mir. Ich hatte nie andere Kinder meines Alters kennen gelernt, hatte nie Freunde außer dir, und ich lernte eine Menge. Meinen Highschool-Abschluss hatte ich bereits und so ging ich mit sechzehn aufs College. Gott sei Dank hatte mir meine Mutter ein Treuhandvermögen hinterlassen, mit dem ich die Kosten decken konnte. Ich kniete mich in die Arbeit, um das Medizinstudium so schnell wie möglich zu schaffen.«
Angel schloss seine Augen. Er konnte jeden Augenblick ihres Lebens deutlich vor sich sehen, sehen, wie Francis immer da gewesen war, um ihr zu helfen, eine Zuflucht vor jedem Sturm. Anders als Angel, der niemals für etwas oder jemand geblieben war.
»Sie heißt Angelina Francesca Hillyard. Ich nenne sie Lina.«
Ich nenne sie Lina. Plötzlich war sie eine Person, dieses Mädchen auf dem Foto, das sein Gesicht hatte. Nicht ein imaginäres Wort oder Bild, sondern eine reale Person. Eine Tochter, die etwas von ihrem Vater wollen würde. Viele Dinge wollen würde.
Plötzliche Panik erfüllte ihn, so heftig, dass er sich wand. »Weiß sie von mir?«
»Nein.«
Er seufzte erleichtert auf. »Gott sei Dank.«
»Du sagtest, du hättest von einem kleinen Jungen geträumt ...«
»Träume«, sagte er niedergeschlagen und starrte an die Decke. Er spürte deutlich, dass er wieder den falschen Weg ging, dass er das Falsche tat, aber er konnte es wie immer nicht ändern. Wollte es nicht wirklich. Er fühlte sich innerlich leer, durch ihre Enthüllung und seine eigene Furcht seiner Substanz beraubt. »Ich sagte, ich hätte über ein Baby nachgedacht, aber...« Für eine Sekunde konnte er nicht weitersprechen. Seine Kehle war so zugeschnürt. Schließlich schluckte er schwer und sah sie an. Er konnte den Schmerz in ihren Augen sehen, wusste, was er ihr in genau diesem Moment antat, und obwohl er es bedauerte, gab es absolut nichts, überhaupt nichts, was er daran ändern konnte. »Gerede eines sterbenden Mannes, Mad. Das ist kein wirklicher Traum. Es ist Selbstmitleid, Bedauern. Heuchelei. Es ist, als würde man am Ende, nur für alle Fälle, gläubig werden. Es bedeutet überhaupt nichts.«
Sie war blass. »Was sagst du da?«
Gott, es schmerzte, sie so hängen zu lassen, sich selbst so hängen zu lassen. Aber er war es nicht wert, Vater zu sein. Er hatte ein solches Geschenk nicht verdient. »Warum hast du mir von ihr erzählt, Mad? Warum?«
»Ich dachte, du brauchtest einen Grund, um zu leben. Ich dachte, Lina würde etwas ändern.«
»Nein«, sagte er und merkte mitten im Wort, dass er schrie. »Was soll ich denn tun, Maddy? Auf dem Totenbett den Daddy für ein sechzehnjähriges Mädchen spielen, das ich nie kennen gelernt habe? Dachtest du das? Dass du irgendein fremdes Kind in mein Zimmer führen könntest und ich es umarmen und küssen und als glücklicher Mann sterben würde? Dass sie mir zuschauen kann, wie ich meinen letzten Atemzug mache und sich besser fühlt, weil sie mich kennen gelernt hat?«
»Nein.« Das Wort war ein krächzendes Geräusch, klang gebrochen. »Ich dachte...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich dachte.«
»Du hattest Recht, all die Jahre keine Verbindung mit mir aufzunehmen.« Er seufzte, begriff plötzlich die Wahrheit über sich und hasste sie. »Sie hätte absolut nichts geändert, Mad. Ich hätte sie einfach ebenso sitzen lassen, wie ich dich sitzen gelassen habe. Ich bin so.«
»Aber jetzt...«
»Ich will sie nicht sehen, Mad.«
Sie atmete scharf ein. »Sag das nicht. Sie braucht dich.«
»Das ist genau der Grund, warum ich sie nicht sehen will.« Sein Blick bettelte sie verständnisheischend an. »Du kennst mich, Mad. Selbst wenn ich lebe - was ich nicht werde -, habe ich dem Kind nichts zu bieten. Ich werde für ein paar Tage in sie vernarrt sein, für einen Monat vielleicht, und dann wird die Begeisterung vorbei sein. Es wird wieder in den Füßen jucken. Ich werde wieder anfangen zu trinken und ich werde anfangen, sie abzulehnen, weil sie mich hier festhält.« Bitterkeit durchdrang seine Stimme. »Und dann, eines Tages, werde ich fort sein.«
»Aber...«
Er streckte eine Hand aus, berührte sie. Sie neigte sich zu seiner Hand, ließ zu, dass er seine Finger um ihr Kinn schloss. Er gab ihr das einzige Wertvolle, das er wusste, die einzige Wahrheit, die er kannte. »Ich werde ihr das Herz brechen, Mad. Gleich, ob ich lebe oder sterbe, es ist völlig egal - so oder so, ich werde sie sitzen lassen. Wenn du sie liebst, beschütze sie vor mir.«
Sie sah ihn an und in den Tiefen ihrer Augen sah er den Schmerz, den er ausgelöst hatte, und etwas anderes, etwas, für das er keine Worte fand. Sie starrte ihn weiter an, sagte nichts, und als die Zeit zu Minuten wurde, begann er sich unbehaglich zu fühlen. In ihrem Blick war eine Erwartung, die an seinem Selbstvertrauen nagte, ihn verwirrte. »Schau mich nicht so an«, sagte er.
»Wie schaue ich denn?«
»Als ob du wüsstest, dass ich meine Meinung ändere.«
»Das wirst du.« Ihre Stimme zitterte nur ein wenig, stand im Widerspruch zu der Überzeugungskraft ihrer Worte. Dann, weicher: »Das musst du.«
Madelaine saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf das Foto von Lina. Die reich verzierte Kristalluhr schlug die Minuten mit einem kaum hörbaren Klick ... Klick ... Klick.
Sie schloss ihre Augen und seufzte. Selbst jetzt, fast eine Stunde, nachdem sie bei Angel gewesen war, konnte sie nicht glauben, dass sie ihm die Wahrheit über Lina gesagt hatte.
Oh, Francis, dachte sie, wo bist du? Ich brauche dich gerade jetzt ...
Sie drehte sich mit ihrem Sessel um und starrte auf das Fenster. Die dichte Reihe von Pflanzen verwischte zu einem verschwommenen grünen Nebel. Angels leise ausgesprochener Traum von einem jungen Sohn, mit dem er Baseball spielen könnte, hatte sie so sehr überrascht. Etwas in ihr war entsetzt gewesen, welche Wendung das Gespräch genommen hatte, aber ein anderer Teil - ein verborgener, heimlicher Teil, von dessen Existenz sie nichts gewusst hatte - war erregt zu hören, dass er an ihr Baby gedacht hatte, dass er vielleicht sogar von ihr geträumt haben könnte. Und plötzlich hatte sie ihm von Lina erzählen wollen, hatte das Geheimnis lüften wollen, das sie so lange gehütet hatte. Sie hatte die Hand ausstrecken wollen nach dem jungen Mann, den sie einmal geliebt hatte, und seine Hand nehmen und mit ihm gehen wollen ..., um mit ihm über die schönen Zeiten zu lachen.
Sie merkte, dass sie das in Gedanken alles wieder miterlebte, zurückging, zurück in die Vergangenheit, die sie sich so sehr zu vergessen bemüht hatte ...
Es war ein schwüler Augustabend gewesen, als sie merkte, dass sie schwanger war. Zuerst war sie glücklich gewesen. Sie und Angel hatten im Mondschein zusammen so viele wundervolle Träume geträumt, Träume, in denen sie verheiratet waren und Kinder hatten, und keiner von ihnen beiden würde je wieder einsam oder verloren sein oder wieder Angst haben.
Aber als sie ihm von dem Baby erzählt hatte, war es anders gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie in diesem schrecklichen Wohnmobil gesessen hatte, den Zigarettenrauch seiner Mutter gerochen hatte, als sie ihr Geheimnis flüsterte.
Oh, er hatte die richtigen Dinge gesagt, gesagt, dass er sie liebe und zu ihr stehen würde, aber sie sah den Ausdruck in seinen Augen, die Wildheit, die Furcht. Er wollte das Baby nicht, war nicht bereit dafür, und nach diesem Blick, in dieser Sekunde, als sie in seine Seele schaute und die Wahrheit sah, glaubte sie den Worten nie wieder.
Sie wusste nicht, was sie danach tun sollte, und er auch nicht. Sie war sechzehn, er war siebzehn und sie hatten geglaubt, sie seien unsterblich, hatten geglaubt, ihre Liebe könne sie vor der Hässlichkeit der Welt schützen.
Aber die Hässlichkeit kam trotzdem.
Als Alexander Hillyard erfuhr, dass seine perfekte Tochter schwanger war, drehte er durch. Er sperrte sie in ihrem Zimmer ein und vergitterte die Fenster mit dicken, schwarzen Eisenstäben. Weder Tränen noch Flehen vermochten ihn umzustimmen. Er bestimmte, dass sie abzutreiben hätte und sie nie wieder über ihren Fehltritt sprechen würden. Er würde nicht zulassen, dass dies ihre Zukunft zerstörte.
Sie wartete tagelang in diesem kalten, tadellos eingerichteten Raum, stand an das Fenster gelehnt da, starrte hinaus und wartete darauf, dass Angel zu ihr kommen würde.
Schließlich sah sie ihn, einen schmalen Schatten, der am Rande des Grundstücks stand. Sie stürzte an das Fenster, krallte sich mit ihren Fingern daran und schrie seinen Namen. Aber er hörte sie nicht.
Sie beobachtete, wie er über den geziegelten Bürgersteig ging, dann in dem Haus verschwand. Sie kauerte sich an die verschlossene Tür, lauschte verzweifelt nach Schritten.
Nach Schritten, die niemals kamen.
Fünfzehn Minuten später - es war die längste Viertelstunde ihres Lebens - verließ er das Haus. Sie eilte zurück zum Fenster und presste ihr Gesicht an die Scheibe. Am Tor drehte er sich um. Sein Blick glitt suchend über die Vorderseite des Hauses.
Ihre Blicke trafen sich und langsam, ganz langsam schüttelte er den Kopf, drehte sich dann um und ging davon. Sie hatte geglaubt, Tränen auf seinen Wangen zu sehen, aber es hätte ebenso gut Regen sein können. Sie war sich nie sicher gewesen.
Selbst nachdem er gegangen war, hatte sie sich an einen dünnen Faden von Hoffnung geklammert, daran, dass er wiederkommen würde. Es war ein Faden, der in der folgenden Nacht zerriss.
Sie hörte draußen ein grollendes Geräusch, sie rannte zum Fenster und schob die Alen^on-Spitzenvorhänge beiseite. Er war am Straßenrand, starrte zu ihrem Fenster hoch und saß auf einer brandneuen, chromglänzenden Harley-Davidson.
Und da wusste sie es: Er hatte Geld von ihrem Vater genommen.
Dieses Mal war sie sich sicher gewesen, dass er weinte, aber es war ihr egal. Er schenkte ihr ein schwaches, müdes Winken und dann fuhr er davon.
Es war das letzte Mal, dass sie Angel DeMarco gesehen hatte - bis er in der Intensivstation aufgetaucht war, sie brauchte, um sein Leben zu retten.
Sie wusste, dass Angel geglaubt hatte, sie habe abgetrieben. Ihr Vater hatte keine Zeit vergeudet und dem Möchtegern-Daddy klipp und klar gesagt, dass es kein Baby geben würde.
Was also hatte sie dazu gebracht, jetzt alles zu riskieren und die Büchse der Pandora zu öffnen, die so lange geschlossen gewesen war?
Sie kannte den Mann nicht, der da unten, am Ende des Ganges, im Bett lag, wusste überhaupt nichts über ihn. Aber sie kannte seine Herkunft, wusste, woher er kam, und wusste, was für ein Mensch er einmal gewesen war. Einer von denen, die vor der Verantwortung auf einer brandneuen Harley-Davidson davonrasten.
Menschen änderten sich nicht, nicht in ihrem tiefsten Inneren. Sie hatte keinen Zweifel, dass der wilde, ungestüme, rebellische Siebzehnjährige noch immer lebte und in diesem gebrochenen vierunddreißig Jahre alten Körper um sich trat.
Ein Blick. Ein Lächeln. Das war alles, was er Lina zu geben brauchte, und sie würde dahinschmelzen, genauso, wie Madelaine vor so vielen Jahren dahingeschmolzen war.
Sie erschauerte. Sie schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen, stellte sich vor, wie Lina vor ihrer kalten perfekten Mutter, die nie etwas richtig machte, davonlief in die sonnenhelle Wärme von Angels Lächeln. Ohne jemals zurückzuschauen, ohne jemals heimzukommen.
Aber die Zeit für solche Angst war vorbei. Madelaine war es müde, zu lügen und sich zu verstecken und zu heucheln, müde, zuzuschauen, wie ihre geliebte Tochter in einen Abgrund rutschte. Madelaine wusste - hatte immer gewusst -, dass sie ein Seil hatte, und sie konnte nicht weiter danebenstehen, Zuschauerin ihres eigenen Lebens sein. Sie war es müde, Angst zu haben.
Angel mochte vielleicht Linas Herz brechen, mochte ihre Tochter verletzen, dass es nicht wieder gutzumachen sein würde, aber vielleicht würde er es auch nicht. Das war die Hoffnung, die sie vor einer Weile erfüllt hatte. Vielleicht würde er es nicht.
Vielleicht war die Vergangenheit nicht das, wofür sie sie immer gehalten hatte: ein unveränderliches Blatt mit Fakten und Zahlen und gefundenen und verlorenen Augenblicken. Vielleicht war sie formloser, verzeihender. Vielleicht konnten Lina und Angel das Beste voneinander holen, einander retten in dieser Zeit, in der sie beide sich quälten und sich so verlassen fühlten.
Sie musste das glauben.
Er war zu spät dran - wie gewöhnlich.
Francis presste seinen Fuß auf das Gaspedal und wartete mehrere Sekunden darauf, dass es etwas bewirkte. Der alte Wagen stotterte und ruckte vorwärts. Sein Motor dröhnte laut und schüttelte den Kaffee, den Francis zwischen seine Schenkel geklemmt hatte.
Die gewundene Kiesstraße zog sich nach links, bog dann nach rechts und wieder zurück nach links, schlängelte sich durch einen Wald mit altem Baumbestand.
Er fuhr durch den Wald den Berg hinauf, kurvend und drehend, verließ ihn dann und wann zu einem prachtvollen Ausblick auf das Flusstal unten. Schließlich, mit etwas über einer Stunde Verspätung, entdeckte er das handgeschnitzte Schild, das zu dem Hotel wies. Er bog in die von Bäumen gesäumte Zufahrt ein und nahm den Fuß etwas vom Gaspedal.
Multnomah Lodge lag wie eine aus Holz geschlagene Tiara in einem Hain aufragender Nadelbäume. Die gewundene Zufahrt endete in einem Kreisel vor der Eingangstür, zog Gäste wie in einer freundlichen Umarmung dorthin. Lichter glühten in Fenstern mit Stabwerk, die in das Holz geschnitten waren. Die letzten Herbstblumen, Chrysanthemen, winterfeste Rosen und Shasta-Margeriten, säumten die steinernen Gehwege.
Er lenkte seinen zerbeulten alten Volkswagen an den Bordstein. Der Portier eilte heraus und bezog Position.
Francis stellte den Motor ab und zuckte zusammen, als der spuckte und hustete. Heftig an dem kalten Metallgriff ziehend, stieß er die quietschende Tür auf und stieg aus. Er nahm seine Tasche aus dem Kofferraum und hängte sie über die Schulter, reichte dann dem Portier die Wagenschlüssel und ging hinein.
Das Innere des Hotels bestand nur aus Holz und Glas und Stein. Artefakte aus dem Nordwesten hingen an den nackten Holzwänden und indianische Körbe standen in Trauben auf gehämmerten Kupfertischen. Die Sessel und Sofas waren dick gepolstert und mit einem kühn gemusterten Wollstoff bezogen.
»Vater Francis!«, hörte er eine Frauenstimme rufen, als er durch das geflieste Foyer eilte.
Er blieb stehen und sah sich um.
Seine Gruppe saß in einem kleinen Raum mit gläsernen Wänden, der an die große Halle angrenzte. Er wusste sofort, dass sie bereits seit über einer Stunde dort waren und auf ihren Priester warteten, der immer zu spät kam.
Er machte kehrt und ging zu dem Raum. Sie lächelten ihn an, als er auf sie zukam, und er lächelte zurück, sah sie nacheinander an. Den alten Joseph und Maria Santiago, die seit dreißig Jahren verheiratet waren und glaubten, sie würden das einunddreißigste Jahr nicht schaffen. Sarah und Levi Abramson, deren interkonfessionelle Ehe zu scheitern drohte. Thomas und Hope Fitzgerald, die in ihrer Ehe einen Wendepunkt erreicht hatten, als Hopes biologische Uhr lauter zu ticken begann - unglücklicherweise war es ein Geräusch, das nur sie hören konnte. Und Ted und Janine Canfield, die Probleme damit hatten, Stiefkinder in eine neue Familie zu integrieren.
So gute Menschen, sie alle. Menschen, die sich liebten und Gott und ihre Familien. Menschen, die versuchten, in einer sich auflösenden Welt, die die alten Werte nicht mehr zu würdigen schien, an einer Verpflichtung festzuhalten.
Und sie warteten auf Vater Francis Xavier DeMarco, damit der ihnen den Weg wies.
Er fühlte sich wie ein Betrüger. Was hatte er denn, er, ein Mann, der so wenig erlebt hatte, als Fackel in der Dunkelheit Paaren, die Angst hatten, zu bieten? Er war nie Teil einer liebenden Familie gewesen und hatte niemals eine zusammengehalten. Er hatte nie mit einer Frau geschlafen oder sein eigenes Kind bestraft oder versucht, das Geld aufzutreiben, um Essen auf den Tisch zu bringen. Er hatte niemals einen Job gehabt, in dem er von neun bis fünf arbeiten musste, und mit all diesem Druck gelebt.
So viele Dinge, die er nicht getan hatte.
Er seufzte. Er rückte den breiten Nylongurt seiner Tasche auf der Schulter zurecht und machte die letzten paar Schritte durch das Foyer, die ihn von dem Versammlungsraum trennten. Die vier Paare saßen zurückgelehnt auf den dick gepolsterten Sesseln und Sofas des Raumes. Joe Santiago spielte an einem Tisch in der Ecke mit Janine Canfield Schach. Hope Fitzgerald saß am Kamin, die Arme um ihre angezogenen Beine geschlungen, den Blick traurig auf ihren Mann gerichtet, der steif auf dem Sofa neben Sarah Abramson saß.
Als Francis eintrat, lächelten ihn alle an und sagten hallo, aber er hörte so viel mehr in dem Schweigen, das darauf folgte, als in dem Geräusch, das seine Begrüßung begleitete. Emotionen erfüllten diesen Raum - Traurigkeit, Wut, Kummer, Liebe.
Er krümmte die Finger, fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Unterseite des Kinns, während er von Gesicht zu Gesicht schaute, ihre Erwartung sah, spürte, wie deren Gewicht sich auf seine Schultern senkte. Er wollte diesen Menschen helfen.
Doch er wusste, dass er es nicht konnte, das war das Verrückte. Einstmals vielleicht, vor vielen, vielen Jahren, hatte er diesen Raum mit einer Welle von Optimismus betreten können, wobei sein schmaler, weißer Kragen ein schützender Schild gewesen war. Aber damals hatte der Kragen nie an seiner Haut gekratzt, hatte sich nicht so beengend angefühlt, dass er glaubte, nicht atmen zu können. Es war befreiend gewesen, dieses Kratzen von gestärktem weißem Stoff, Beweis dafür, dass er ein getreuer Diener eines Gottes war, den er liebte. Aber mit jedem Jahr, das verging, schien dieses Stück Stoff schmaler und schmaler geworden zu sein, um schließlich zu einer Barriere zwischen ihm und seinen Mitmenschen zu werden.
Und in manchen Augenblicken, so wie jetzt, sehnte er sich danach, den Kragen abzunehmen und stattdessen um Antwort zu bitten. Er wollte sich an Mrs Santiago wenden und sie bitten, ihm zu erzählen, was es für ein Gefühl war, sich jede Nacht dreißig Jahre lang im Bett an denselben Körper zu schmiegen, mit demselben geliebten Gesicht aufzuwachen. Er wollte fragen, ob Liebe ein sicherer Hafen oder eine stürmische See war.
Er wusste, dass er eine Glaubenskrise durchlebte, wusste auch, dass sie sich in nichts von dem unterschied, was Tausende anderer Priester vor ihm erlebt hatten. Aber dieses Wissen tröstete ihn nicht. Er vermisste das heiße Feuer seiner Uberzeugungen - die Liebe zu Gott, die ihn einst in jedem wachen Augenblick erfüllt hatte. Ohne sie fühlte er sich verwirrt ... verloren.
Er fühlte sich ungeeignet, ein Diener Gottes zu sein. Die Erinnerung daran, wie er sich entschlossen hatte, Lina zu verletzen, kribbelte in seinem Gewissen wie eine frische Brandwunde.
»Vater Francis?« Levi Abramsons kratzige Stimme drang in seine Gedanken.
Francis zwang sich zu einem Lächeln. »Tut mir Leid. Ich bin heute Abend nur ein wenig müde. Wie wär's, wenn wir diese Einkehr damit beginnen, dass wir eine Liste von Zielen zusammenstellen, die wir gerne erreichen würden?«
Es gab Nicken und zustimmendes Gemurmel - wie immer. Er sah die Hoffnung in ihren Augen blitzen, sah das zaghafte Lächeln, das ihre Gesichter berührte. Und Francis fühlte sich zufrieden damit, dass er ihnen wenigstens das geben konnte, wenn schon nichts Konkreteres.
»Gut«, sagte er und schenkte ihnen sein erstes ehrliches Lächeln an diesem Abend. »Lasst uns mit einem Gebet beginnen. «