Kapitel 4
Francis stand wie erstarrt da, war unfähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Er atmete schnell, zu schnell. Er hörte sich an wie ein Marathonläufer, aber er hatte keinen einzigen Schritt getan. Er warf Madelaine, die wie angewurzelt dastand, die Hände zu Fäusten geballt und in die Seiten gestemmt, den Rücken stocksteif, einen kurzen Blick zu.
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das war auch nicht nötig. Er kannte und liebte sie seit fast siebzehn Jahren. Er wusste, was sie fühlte.
Er trat unbeholfen auf sie zu. »Maddy?«
Sie schien ihn nicht zu hören.
»Madelaine?«
Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme dünn und abwesend. »Tja, das war wirklich ein Reinfall.«
Es brach ihm das Herz, dass sie noch immer tat, als sei sie unerschütterlich. »Sei nicht...«
Sie seufzte schwer. »Ich hätte ihr schon vor langer Zeit von ihm erzählen sollen, Francis.«
Im Lauf der Jahre hatten sie diese Diskussion schon hundertmal geführt und er wusste, dass sie sich jetzt wieder Selbstvorwürfe wegen der Entscheidungen machen würde, die sie getroffen hatte. So war sie nun mal. Sie nahm immer die Schuld auf sich. Übernahm die Verantwortung für das Unglück der ganzen Welt.
Er trat neben sie und nahm ihre Hand. Er wollte etwas sagen, fühlte sich aber unsicher, wie immer, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt. Sie war so stark, so unverwüstlich und doch so blind. Sie konnte nicht sehen, dass Lina sie liebte, konnte sich nicht vorstellen, dass Francis es tat.
All das war die Schuld ihres Vaters. Droben, in diesem großen Herrenhaus auf dem Hügel, musste Alexander Hillyard seiner kleinen Tochter, die ihre Mutter verloren hatte, schreckliche Dinge angetan haben, weil Madelaine selbst jetzt noch glaubte, sie sei nicht liebenswert. Das glaubte sie wahrhaftig.
»Lina liebt dich, Maddy. Ich habe dir das schon Millionen Mal gesagt. Sie ist nur durcheinander.«
Madelaine schüttelte ihren Kopf - ganz wie er es von ihr erwartet hatte. »Nein. Ich hätte es ihr sagen sollen.«
»Ja, vielleicht hättest du das, aber das ist jetzt Schnee von gestern.«
»Ich kann das wieder gutmachen. Ich kann es ihr jetzt erzählen.«
Er starrte sie schockiert an. »Das kannst du nicht.«
»Natürlich kann ich.«
Francis erschauerte unwillkürlich. Wenn Madelaine Lina von ihrem wirklichen Vater erzählte, würde alles zusammenbrechen, dieses Scheinzuhause, das Francis für die Familie geschaffen hatte, von der er sich so sehnlich wünschte, sie wäre seine eigene. Er hatte Lina immer als seine Tochter betrachtet. Er war derjenige gewesen, der ihre aufgeschlagenen Knie verbunden hatte, sie im Arm gehalten hatte, wenn sie weinte. Und er hatte Angst - Gott sei ihm gnädig -, er hatte Angst, dass sie ihn nicht mehr wollte, wenn sie erfuhr, wer ihr wirklicher Vater war. Es war falsch, was er sagen wollte - eine furchtbare, schreckliche Sünde -, aber er konnte nicht anders.
»Wecke keine schlafenden Hunde«, sagte er entschlossen. »Er würde ihr ohnehin nur das Herz brechen.«
»Ich habe solche Angst, sie zu verlieren, Francis. Ich kann scheinbar nichts richtig machen.« Sie wandte den Blick von ihm ab und starrte auf die offene Tür. »Ich dachte ... nachdem mein eigener Vater... Ich hatte mir fest vorgenommen, eine gute Mutter zu sein.«
Ihr Schmerz ging ihm zu Herzen. Sie stand neben ihm, nah und doch spürbar fern. Allein wie immer, unberührbar, die Welt herausfordernd, sie nicht anzufassen, und wartete darauf, dass man ihre Schwächen entdeckte und sie ausnutzte. Er trat näher, fasste ihr Gesicht mit beiden Händen und hob ihr Kinn. Sie wirkte so zerbrechlich, so zerbrechlich. »Vergleiche dich nicht mit Alex, Madelaine. Alex war grausam und unerbittlich und gefühllos.«
»Lina glaubt, ich fühle nichts. Sie glaubt, ich bin kalt und perfekt und unbeteiligt.«
»So dumm ist sie nicht, Maddy. Sie ist ein Teenager mitten in der Entwicklung, völlig durcheinander und von Hormonen gesteuert.«
»Nein, so ist es nicht. Sie ist wie ... er. Du weißt, dass sie so ist.«
Francis wünschte, er könnte lügen, aber Madelaine hatte Recht. Lina war genauso wie ihr Vater. Rebellisch, ungezügelt, temperamentvoll. Die Art von Menschen, die unbekümmert und leichtsinnig sind - und manchmal gegen Mauern prallen. Die Art von Menschen, die sich mit siebzehn auf und davon machen können, ohne je zurückzuschauen.
»Nein. Sie ist klüger als er«, sagte er schließlich und wollte nur zu gerne seinen eigenen Worten glauben. »Sie mag jetzt verrückt sein, aber sie liebt dich. Andernfalls würde sie sich nicht so darum bemühen, deine Aufmerksamkeit zu erringen.« Er starrte in ihre riesigen, von Schmerz verdunkelten Augen und hatte das Gefühl, als würde er in dem Bedürfnis, sie zu halten, ertrinken. Gott, er wünschte, dies wäre sein Augenblick, seine Tochter, seine Frau, sein Leben. Ohne nachzudenken, beugte er sich zu ihr und zog sie an sich, küsste sie sanft und zögerlich auf die Stirn. Gefühle durchstürmten ihn, ließen das Blut in seinem Kopf hämmern, und er wusste, dass er zu weit gegangen war, sie zu lange geküsst hatte...
Sie wich zurück. »Francis? Was war...«
»Sie liebt dich, Madelaine«, flüsterte er auf ihre Haut, »so wie ich.« Die Worte schlüpften heraus, Worte, die zu sagen er vorher nie den Mut gehabt hatte. Aber jetzt schien das die natürlichste Sache der Welt zu sein.
Sie wich noch weiter zurück und blickte zu ihm auf.
Er beugte sich vor, wollte sie wieder küssen, wartete atemlos darauf, dass sie sprach.
Plötzlich lächelte sie. »Oh, Francis, ich liebe dich auch. Ich weiß nicht, was ich ohne deine Freundschaft tun sollte.«
Die Worte trafen ihn bis ins Mark. Er streichelte ihr seidiges Haar und hielt sie fest. Tränen brannten in seinen Augen. Er war ein Feigling - ein Mann, dessen beide Lieben unmöglich nebeneinander bestehen konnten und zwischen denen er niemals eine Wahl treffen konnte. Ein Priester, der eine Frau liebte. Ein Mann, der Gott liebte.
Doch niemals zuvor hatte seine Liebe zu Madelaine seinen Gelübden geschadet - er hatte sie mit einer Reinheit geliebt, die seine Priesterschaft nicht befleckte. Das waren zumindest die kleinen Lügen, an die er selbst glauben wollte, wenn er allein in seinem Bett lag und an sie dachte.
Bis jetzt. Jetzt hatte er sie geküsst - und nicht als ihr Priester oder als ihr Freund, sondern als der Mann, der sie liebte. Er hatte die Worte am helllichten Tage gesagt und, Gott möge ihm beistehen, er hatte atemlos auf ihre Antwort gewartet.
Und das war nicht einmal seine größte Sünde. Er hatte ihr gesagt - sie angefleht -, Lina die Wahrheit zu verschweigen.
Lina, die Tochter, die seine war und doch nicht, die er mehr liebte als sein eigenes Leben. Er hatte die Lüge unterstützt, die ihr das Herz brechen würde.
Angel war wieder in Seattle. Er starrte aus dem schäbigen, winzigen Fenster seines Krankenhauszimmers und schaute zu, wie der Regen an dem Glas herunterrann. Ein Krankenhauszimmer in Seattle - Seattle - war der schlimmste Ort, an dem man sein konnte. In der Nacht zuvor hatte man ihn mit einem Hubschrauber hergeflogen, im Schutz der Dunkelheit, wie ein Stück Fleisch auf einer Trage festgezurrt, sein Gesicht maskiert, sein Name verschwiegen.
In diesem Hubschrauber war er ein Niemand, einfach einer von vielen sterbenden Männern, die zu einem Hightech-Krankenhaus geflogen wurden. Er war unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen hertransportiert worden, damit seine wahre Identität nicht bekannt wurde. Mark Jones - so nannten sie ihn. Ein Risikopatient, der in einen abgelegenen Flügel auf die Intensivstation gebracht worden war. Er hatte es so gewollt, aber es ärgerte ihn noch immer, so anonym zu sein. Jahrelang war er in großem Stil hofiert und fotografiert worden, wohin er auch kam. Jahrelang war er jemand gewesen. Und jetzt war er ganz einfach der alte Mark Jones, ein Niemand mit einem versagenden Herz.
Es klopfte an die Tür. Dann ein gewispertes »Mr Jones?«
Er versuchte sich aufzurichten, aber die Nadeln in seinen Adern hinderten ihn daran, lösten schmerzende Stiche aus, die durch seinen Arm schössen. Er murmelte einen Fluch, ignorierte das Stechen und mühte sich weiter. Als er schließlich aufrecht saß, war er erschöpft und glaubte eine erniedrigende Sekunde lang, brechen zu müssen. Der Raum verschwamm vor seinen Augen. Sein Herz schlug und stockte wie das Wort eines Stotterers.
Seine Brust schmerzte nicht, aber er wusste, dass dies ein trügerisches Gefühl von Sicherheit war. Er war mit Medikamenten voll gepumpt, und wenn deren Wirkung nachließ, würde er elende, unerträgliche Schmerzen haben. »Herein«, sagte er mit pfeifender, atemloser Stimme.
Die Tür öffnete sich und ein großer, grauhaariger Mann in weißem Kittel trat ein. Die Tür fiel quietschend hinter ihm zu.
Der Besucher setzte sich und rutschte nahe an das Bett, wobei er Angels Akte durchblätterte. »Ich bin Chris Allenford, Chef des Transplantationsteams hier im Saint Joseph's.«
Angel konzentrierte sich darauf, seinen Herzschlag im Takt zu halten - das war nicht leicht, da Furcht durch sein Blut pulsierte. Er wollte locker und völlig gelassen aussehen, wollte gesund wirken.
Dies war der Mann, auf den er gewartet hatte, der Mann, an den er zu glauben versucht hatte, seit dieser Alptraum begonnen hatte. Der Mann, der den Schrecken der letzten paar Tage wegnehmen konnte, ihn vollends zum Verschwinden brachte.
Angel bot all seine schauspielerischen Fähigkeiten auf und setzte ein anmaßendes Lächeln auf. »He, Doc.«
»Ich habe mit Ihren Ärzten Kennedy und Gerlaine gesprochen und sie sagten mir, dass Sie über Ihren Zustand unterrichtet worden sind. Ich habe mich auch mit Dr. Jones im Loma Linda beraten und wir sind uns alle einig, was Ihre Prognose betrifft.«
»Gerlaine sagte mir, dass eine Operation unmöglich sei. Im LaGrangeville ist das wahrscheinlich tatsächlich so, aber hier ...« Er ließ den Satz unbeendet, fürchtete sich, die Frage tatsächlich zu stellen.
Allenford runzelte die Stirn.
Ich bin nicht bereit, dachte Angel plötzlich. Nicht bereit, darüber zu sprechen. Nicht bereit für ein Stirnrunzeln.
Allenford legte die Akte auf den Nachttisch. »Ich könnte mich darüber auslassen, wie geschwächt und kraftlos Ihr Herz ist, aber das alles haben Sie bereits gehört. Als junger Mann haben Sie eine Virusmyokarditis gehabt und die hat Ihr Herz beschädigt. Man hat Ihnen geraten, Ihren Lebenswandel zu ändern. Diesen Rat haben Sie offensichtlich ignoriert.« Er schüttelte seinen Kopf. »Der technische Terminus für Ihren gegenwärtigen Zustand ist Kardiomyopathie im Endstadium. Was bedeutet, Ihr Herz kann nicht mehr. Ist verbraucht. Wenn diese Operation nicht erfolgt, werden Sie sterben. Bald.«
Wut durchzuckte Angel so intensiv und schnell, dass er sich benommen fühlte. »Eine Operation, Gott, ihr Ärzte seid doch alle gleich. Sie sagen >Sie brauchen eine Operation< so, als würden Sie mir sagen, mir müsste ein Weisheitszahn gezogen werden.« Er versuchte angestrengt, sich weiter aufzurichten, konnte es aber nicht. Das Scheitern verstärkte seinen Ärger. »Schön, Doc, dann lassen Sie sich mal Ihr verdammtes Herz rausschneiden und erzählen mir anschließend, wie es war. Wenn Sie dann noch immer die Operation gutheißen, werde ich darüber nachdenken.«
Allenford hatte die ganze Zeit Blickkontakt gehalten, doch die Fältchen in seinen Wangen schienen sich zu vertiefen. »Ich weiß nicht... ich bin nie ein sehr mutiger Mann gewesen.«
Er sagte diese Worte sehr ruhig und ehrlich. Angels Ärger legte sich. An seine Stelle trat Furcht, die sein Inneres erfüllte. »Mein Herz«, flüsterte er. Er wollte keck und selbstsicher klingen, wusste aber, dass er wieder versagt hatte.
Allenford starrte auf ihn herab. »Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, wie Sie sich fühlen, Mr DeMarco, aber ich kann Ihnen ein wenig über operative Eingriffe erzählen. Sie etwas entmystifizieren. Vor Jahren waren Herztransplantationen sehr riskante Wagnisse, ihr Ausgang war sehr unsicher und die meisten Patienten starben. Aber in den letzten zehn Jahren haben wir gewaltige Fortschritte gemacht. Medikamente, die die Abstoßung verhindern, Gewebecharakterisierung, Immunosuppressoren - sie alle haben eine enorm wichtige Rolle gespielt, damit diese Art von Operation erfolgreich wurde. Und Sie sind noch einer von den Glücklichen - nur Ihr Herz ist beschädigt. Ihre anderen Organe funktionieren erstaunlich gut, wenn man bedenkt, welches Leben Sie geführt haben. Das bedeutet hinsichtlich der Langzeitprognose nach der Operation einen Vorteil. Schätzungsweise neunzig Prozent aller Patienten leben anschließend ein relativ normales Leben.«
»Relativ normal«, sagte Angel, dem bei diesem Gedanken übel wurde.
»Ja, relativ. Sie werden für den Rest Ihres Lebens Medikamente nehmen, müssen Ihre Diät genau einhalten und Sport treiben. Keine Drogen, keine Zigaretten, kein Alkohol.« Er beugte sich vor und lächelte freundlich. »Das sind die Nachteile. Der Vorteil ist, dass Sie leben werden.«
»Klingt, als sei das ein tolles Leben. Ich kann's kaum erwarten.«
Allenfords raubvogelartige graue Brauen zogen sich langsam zusammen. »Ich habe am Ende des Korridors einen siebzigjährigen armen Apfelpflücker, dem ein neues Herz auch nicht mehr helfen wird ... Und dann ist da ein sechsjähriges Mädchen, das die ganze letzte Woche immer wieder Herzstillstand hatte. Sie will nur eines: lange genug leben, um sieben Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte zu sehen. Die beiden würden sofort mit Ihnen tauschen.«
Angel fühlte sich schäbig. »Hören Sie, es tut mir Leid, ich habe nur...«
Allenford wollte das nicht so einfach durchgehen lassen. »Ich weiß, dass Sie eine Berühmtheit sind, aber glauben Sie mir, das bedeutet hier überhaupt nichts. Ihre Wutanfälle und Ihr Egoismus interessieren mich absolut nicht. Hier drin sind Sie nichts weiter als ein Patient, der auf ein neues Herz wartet. Die knallharte Wahrheit ist, Mr DeMarco, dass Sie sterben werden. Ohne Transplantation werden Sie schwächer und schwächer werden. Sie werden nicht mehr in der Lage sein, sich viel zu bewegen, und einigermaßen vernünftig atmen zu können, wird Ihnen wie ein Geschenk Gottes erscheinen. Ich weiß, dass es schwer ist, aber Sie müssen langsam begreifen, was ich Ihnen sage. Ihr bisheriges Leben ist vorbei.«
Angel wusste, dass er jetzt den Mund halten und Kooperationsbereitschaft heucheln sollte. Aber er war wütend und voller Angst. Seine Berühmtheit war stets eine Lizenz für schlechtes Benehmen gewesen, so dass er sich gar nicht anders verhalten konnte. »Ich könnte aufstehen, hier rausgehen und es darauf ankommen lassen.«
»Natürlich könnten Sie. Und Sie könnten von einem Bus überfahren werden, bevor Sie an Herzversagen sterben.«
»Ich könnte sterben, während ich einer Frau das Hirn rausvögle.«
»Ja, könnten Sie.«
»Vielleicht will ich das ja tun.«
»Vielleicht.«
Angel starrte den Mann an. Er hatte niemals ein solches Durcheinander von Gefühlen empfunden. In seinem Kopf wirbelten Gedanken, Möglichkeiten, Ängste. Vor allem Ängste. »Wenn ich mich entscheide, diesen Eingriff vornehmen zu lassen...«
»Eines möchte ich gleich klarstellen, Mr DeMarco, es ist nicht ganz Ihre Entscheidung.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wir sprechen hier über eine Herztransplantation und nicht über eine Zahnkrone. Es steht nur eine begrenzte Anzahl von Herzen zur Verfügung. Unglücklicherweise entscheiden sich die meisten Familien dafür, Organe eines geliebten Angehörigen nicht zu spenden. Tausende von Patienten, die auf ein neues Herz warten, sterben jedes Jahr.«
»Wollen Sie mir damit sagen, ich könnte sterben, während ich auf ein Herz warte?«
»Ja.«
»Gott, ist das ein Mist.«
»Ihr Zustand ist kritisch. Wenn die UNOS - das ist das United Network for Organ Sharing, das Organspendezentrum -findet, dass Sie ein akzeptabler Kandidat sind, werden Sie an die Spitze ihrer Transplantationsliste gesetzt. Das erste Herz, das passt, wäre dann Ihres. Aber ich könnte nichts garantieren.«
Die Worte trafen ihn wie ein Faustschlag. »Wow! Und jetzt sagen Sie mir also, dass ich vielleicht nicht einmal auf die Liste gesetzt werde?«
»Dazu ist ein psychologisches Profil erforderlich. Wir alle müssen davon überzeugt sein, dass Sie Ihr Leben ändern und Ihr neues Herz hüten werden.«
Langsam dämmerte Angel die Wahrheit. Ihm wurde die Bedeutung der Worte des Arztes klar. Zum ersten Mal konnte Angel nicht toben oder überreden oder sich irgendwie freikaufen. Alles, was er tun konnte, war spielen - vorzugeben, er sei dieser Chance würdig. Aber er glaubte nicht, dass er ein so guter Schauspieler war. »Oh, das ist einfach Spitzenklasse. Ich werde sterben, weil ich so einen beschissenen Charakter habe.« Er lachte bitter. »Meine Mutter hatte Recht.«
»Angenommen, Sie kommen auf die Liste - und das wird von Ihrem Psychiater und Ihrem Kardiologen abhängen-, stehen Ihre Chancen, ein neues Herz zu bekommen... und zwar rechtzeitig ... etwa fünfzig zu fünfzig.«
Er wollte sagen: Danke für die makabren Feststellungen,
Doc. Ich werde ganz sicher mein Herz der Chirurgie anvertrauen, aber er unterdrückte seinen Sarkasmus. Stattdessen fragte er: »Wie wollen Sie meine Anonymität garantieren, solange ich hier bin?«
»Wir haben eine Nachrichtensperre verhängt - Sie sind einfach Mark Jones, der wegen einer Herztransplantation hier ist. Nur meine ältesten vertrauenswürdigsten Teammitglieder werden wissen, wer Sie wirklich sind.« Er seufzte. »Um ganz ehrlich zu sein - ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber wir werden unser Bestes tun, um Ihre Privatsphäre zu schützen. Sollte doch etwas durchsickern, werde ich einfach erklären, Sie seien wegen einer Herzoperation hier.«
Angel wusste aus Erfahrung, dass die Nachricht früher oder später bekannt werden würde. Er hoffte, dass es später sein würde. »Okay. Ich werde ein braver Junge sein, werde mein Leben ändern und auf den Schnaps und die Drogen verzichten. Wo soll ich warten?«
»Hier, Mr DeMarco. Sie sind viel zu krank, um das Hospital verlassen zu können. Ich werde für morgen früh einen Termin mit Ihrem Teamkardiologen machen - nachdem wir die entsprechenden Tests durchgeführt haben. Sie wird Sie über die restlichen Einzelheiten informieren.«
»O, nein«, sagte er. »Keine Ärztinnen.«
Allenford lachte ihn an. »Hier drin sind Sie ein Niemand, Mr DeMarco. Ich wähle die Spieler für Ihr Team aus.«
»Team«, sagte Angel voller Ekel. »Einem Team wird das Herz ja nicht rausgeschnitten, nicht wahr, Doc? Nur mir, von wegen Lebenserhaltung.«
Dr. Allenford schloss die Akte und legte sie beiseite. »Nein, Mr DeMarco, wir werden nicht mit dem Messer konfrontiert ... und der langwierigen Genesung.« Er beugte sich vor. »Aber wir werden diejenigen sein, die das Herz finden, herausnehmen, es herbringen und es Ihnen einsetzen. Und ich bin derjenige, der das Messer führt.« Ein Lächeln breitete sich langsam über sein Gesicht. »Deshalb würde ich an Ihrer Stelle meine Einstellung ändern.«
Sie starrten einander lange und intensiv an und Angel wusste, dass keiner von ihnen daran gewöhnt war, zu verlieren. Schließlich sagte er: »Betrachten Sie sie als geändert.«
Allenford grinste. »Gut. Ich werde dafür sorgen, dass der Psychologe Sie mit allen Einzelheiten vertraut macht. Morgen werde ich mit Dr. Hillyard sprechen und mir die Resultate Ihrer Tests ansehen. Danach werden wir alle notwendigen Entscheidungen treffen.«
Angel bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Er versuchte es zu ignorieren, konnte es aber nicht. Er war in Seattle, dem Tatort des alten Verbrechens, und Madelaines alter Herr hatte immer gewollt, dass sie Ärztin werden sollte. »Dr. Hillyard?«
»Madelaine Hillyard ist die beste Kardiologin im Team - sie kann mit schwierigen Patienten gut umgehen.«
Sein kaputtes Herz setzte für einen Schlag aus, blieb vielleicht sogar stehen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er ihren Namen laut ausgesprochen gehört hatte, und das löste eine Flut von Erinnerungen aus. Flüchtige Bilder, erinnerte Augenblicke. Madelaine, ihr langes braunes Haar wirr und tropfnass, ihre Knie an die Brust gezogen, ihre Finger, die den Sand nach verborgenen Schätzen durchpflügten, lachend, immer lachend. Die sternklare Nacht, in der sie unter einer riesigen alten Eiche kauernd billigen Schmuck vergruben, begleitet von einem Schwall der Worte Erwachsener. Ich werde dich immer lieben, Angel... immer.
Madelaine, seine erste Liebe, war Kardiologin geworden.
Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. Genau das, was ihr Daddy gewollt hatte.
Er starrte Dr. Allenford an, der aufstand und sich zum Gehen bereit machte. Angel wollte etwas sagen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt und kein Ton wollte herauskommen. Allenford nickte ihm zu, verließ dann das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Angel lag regungslos da, atmete schwer und spürte, wie sein Herz sich stotternd zusammenzog und wieder löste, lauschte dem Bip-bip-bip des Monitors. Er hatte keine zweite Chance mehr, keine Alternativen. Er hatte diesen Moment seines Lebens erreicht, diesen Augenblick, in dem er gebrochen und allein war.
Was sollte er jetzt tun? In diesem Einzelbett mit Metallgitter liegen und darauf warten, dass irgendein armer Schlucker starb? Hier liegen, sich von ihnen die Brust aufschneiden und sein Herz rausreißen lassen, damit es wie jeder andere Abfall auf den Müll geworfen werden würde?
Herztransplantation. Das Wort war schneidend wie ein Messer, zerrte an seinen Eingeweiden.
Was sie mit ihm anstellen wollten, war eine Abscheulichkeit, eine Obszönität. Und Madelaine würde diejenige sein, die es tat.
Ausgeschlossen.
Er schlug die Decke von seinem Körper und zog die Nadeln aus seinen Armen. Er schwang seine Beine über den Bettrand und stand auf. Er würde sehen, dass er schnell von hier wegkam. Sie würden ihm nicht sein Herz rausschneiden und das eines anderen einpflanzen. Er konnte nicht - wollte nicht - so leben. Er würde so sterben, wie er immer gelebt hatte. Voll und ganz. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Er machte einen einzigen Schritt, mehr nicht, und Schmerz explodierte in seiner Brust. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Er streckte einen Arm aus, bekam einen Tisch zu fassen und riss ihn um. Wasser spritzte auf den Boden. Plastikbecher und Krüge knallten auf das Linoleum.
Er lag da, unfähig zu atmen, schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und die Schmerzen. Gott, selbst trotz all dieser Medikamente hatte er Schmerzen, wie er noch nie zuvor Schmerzen gehabt hatte.
Plötzlich begriff er. Er starb. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber bald. Bald. Es war egal, ob er die Operation wollte, war völlig unwichtig, ob er ein Monster war, wenn sie vorbei war. Er hatte keine Wahl.
Er drehte sich um und kroch zum Bett zurück. Er klammerte sich an das metallene Bettgestell, zog sich langsam hoch und brach auf der Matratze zusammen.
Er glitt wieder unter die Decke und schloss seine Augen. Es schmerzte so furchtbar, dass er weinen wollte.
Wenn er nur jemanden hätte, mit dem er reden könnte, jemand, der ehrlich war, dem an ihm lag. Jemand, der ein Freund war, so wie es Francis und Madelaine einst gewesen waren.
Madelaine.
Wie viele Nächte hatte er im Dunkeln wach gelegen, überlegt, wie es seinem Bruder gehen mochte, was aus Madelaine geworden war? Wie viele Male hatte er zum Telefon gegriffen, um sie beide anzurufen, nur um wieder aufzulegen, bevor sich jemand gemeldet hatte?
Er seufzte schwer. Madelaine. Sogar jetzt konnte er ihr Gesicht vor sich sehen, das dichte braune Haar, das in Wellen bis in die Mitte ihres Rückens fiel, die vollen Augenbrauen und die Zigeuneraugen, die runden Formen ihres Körpers. Vor allem aber konnte er sich an ihr Lachen erinnern, das so kehlig und weich war.
Damals hatte sie immer gelacht.
Damals. Bevor er sie sitzen gelassen hatte.
Das letzte Mal, als er Madelaine gesehen hatte, hatte sie zusammengekauert an einem Ende des zerschlissenen Sofas gesessen, hatte im Wohnwagen seiner Familie so fehl am Platze ausgesehen. Ihr Kaschmirpullover hing traurig über einer Schulter. Ihre Wangen waren von Tränen feucht.
Er erinnerte sich wieder an all dies und mit der Erinnerung kam die brennende Scham. Die Lügen, die er ihr erzählt hatte, die Worte, die wie Gift von seinen Lippen getroffen waren, das Gefühl des Blutgeldes in seiner Hand, die anhaltende Erinnerung an ihren Duft - Babypuder und Ivory-Seife.
Und jetzt konnte sie sich endlich rächen.
Sein Leben hing von der Frau ab, die er betrogen hatte.