Kapitel 2
Angel starrte an die pockennarbige Decke.
Es war einfach zu verdammt still hier drin. Diese Stille zerrte an seinen überstrapazierten Nerven. Er wollte die Stille plötzlich durchbrechen, er wollte es herausschreien: Ich bin hier, ich lebe noch. Er wollte Kraft aus diesem einen Satz schöpfen, Freude aus dem Wissen, dass seine Lunge noch Luft pumpte. Aber das war nicht mehr genug. Nicht einmal annähernd genug. Jetzt steckte da in seiner Brust eine Phiole mit Flüssigsprengstoff, ein dunkler, hässlicher Klecks, der jede Sekunde explodieren konnte, jede Sekunde.
Nur ein Piepen auf dem Bildschirm und es war vorbei. Flache Linie.
Er schloss seine Augen und versuchte, den Kopfschmerz zu ignorieren, der hinter seinen Augen hämmerte. Er wollte über diesen Scheiß nicht länger nachdenken. Er wollte nur, dass das alles einfach verschwand.
»Du siehst zum Kotzen aus.«
Angel hörte die lang gezogene, vom Südstaatenslang gefärbte Stimme und lächelte fast. Er hätte gelächelt, wenn er sich nicht so verdammt mies gefühlt hätte. Er riss die Augen auf und blinzelte heftig, als das grelle Neonlicht in sein Hirn stach.
»Danke.« Angel richtete sich langsam auf. Die Nadeln in seinen Adern stachen bei jeder Bewegung. Als er schließlich aufrecht saß, war er außer Atem und seine Brust schmerzte höllisch.
Val stand in Designerklamotten verpackt in der Tür, sein schlanker Körper lehnte am Türrahmen. Er strich sein wirres, blondes Haar verlegen hinter ein Ohr zurück. Er löste sich von der Tür und glitt mit diesem langsamen, hüftschwungbetonten Schritt, der die Aufmerksamkeit der Medien immer weckte, in das Zimmer. Er streckte eine Hand aus, ergriff den Stuhl, der neben dem Bett stand, mit langen, schlanken Fingern, drehte ihn um und ließ sich lässig auf die harte Sitzfläche fallen. Er beugte sich vor und legte sein Kinn auf die Stuhllehne. Seine Arme baumelten über dem senffarbenen Kunstleder. Er runzelte die Stirn und hob langsam die Augenbrauen, während er Angel musterte. »Ich meine, du siehst wirklich zum Kotzen aus. Noch schlimmer als beim letzten Mal.«
Angel hatte nicht die Kraft, um lächeln zu können. »Gibst du mir 'ne Zigarette?«
Val griff in seine Tasche und zog eine Schachtel Marlboro heraus. Er öffnete die Klappe, warf einen Blick auf den Inhalt und zuckte die Schultern. »Leer. Tut mir Leid. Hatte nicht dran gedacht.« Er zog einen Flachmann mit Tequila aus der Innentasche seiner Jacke und grinste. »Aber ich bin nicht völlig nutzlos.« Er stellte die Flasche auf den Nachttisch. »Habe mir gerade die Tageszeitungen von gestern angesehen. Deine Sterbeszene war unglaublich - nicht mal ich hab gewusst, dass du so gut bist. Der Autor war völlig ausgerastet. Wenn du hier rauskommst, werden wir uns sofort um die Oscar-Nominierung kümmern. Der Publicitymanager meint...«
Bla, bla, bla. Vals Stimme summte weiter und weiter, aber Angel hörte nicht mehr zu. Er registrierte ohnehin nichts mehr.
Er starrte den Mann an, der erst sein Freund gewesen war, dann sein Agent, jetzt schon seit sechzehn Jahren, versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen - zu spielen, als sei das eine Filmszene, die genau in diesem Augenblick gedreht wurde. Aber er schaffte es nicht. Ein so guter Schauspieler war er nicht.
Er erinnerte sich plötzlich an die Nacht, in der er Val kennen gelernt hatte. Das war in New York gewesen, mitten in einer Winternacht, in einer schäbigen Kneipe. Da hatten sie beide gefroren, waren hungrig und einsam gewesen. Angel war damals fast noch ein Kind - noch keine achtzehn Jahre alt und schon seit über einem Jahr auf sich allein gestellt.
Sie wurden fast auf Anhieb Freunde und verbrachten das nächste Jahr damit, von Stadt zu Stadt zu ziehen, weiter und immer weiter zu laufen, bis es keinen Spaß mehr machte - von einem verflohten Motel zum nächsten, in Städten ohne Namen, Schnaps saufend und aus Abfalltonnen essend.
Erstaunlich, dass sich das alles an einem einzigen Tag schlagartig geändert hatte ... an einem Tag, der mit altem Thunfisch begann. Val war schwer erkrankt durch ein Thunfischsandwich, das er in einem Imbiss in Arizona geklaut hatte. Aus dem Krankenhaus rief er seine Eltern an. Binnen weniger Stunden befanden die beiden Jungen sich in dem prachtvollen New Yorker Penthouse der Lightners.
Vals Mutter war die schönste Frau, die Angel je gesehen hatte. Kalt wie Eis und so hart wie Diamanten. Val genoss es, ihr zu erzählen, wo sie gewesen waren und was sie getan hatten. Natürlich war sie entsetzt, aber Val brachte sie dazu, ihm zu versprechen, ihnen ein Apartment zu geben und sie aufs College zu schicken.
»Aber du hast ja nicht einmal die Highschool abgeschlossen«, sagte sie mit nasaler, gelangweilter Stimme.
Val lachte nur. »Bitte, Mutter. Du bist reich.«
Sie hatte einen beringten Finger auf ihn gerichtet. »Das Leben wird nicht immer nach deinen Wünschen verlaufen, Val.«
Er hatte ihr darauf ein entwaffnendes Lächeln geschenkt. »Du darfst die Hoffnung nie aufgeben, Mutter.«
Angel schüttelte seinen Kopf, um die Erinnerungen zu verdrängen. Dann schaute er Val an. »Sie wollen mir das Herz rausschneiden.«
Val klopfte auf eine andere Tasche. Er suchte noch immer nach Zigaretten. »Das müssen sie erst einmal finden.«
»Ich mein's ernst, Val. Sie wollen bei mir eine Herztransplantation vornehmen.«
Vals Lächeln schwand. »Du meinst, dein Herz rausreißen und das von einem Toten reinstecken?«
Angel fühlte sich hundeelend. »So was in der Art.«
»Mein Gott.« Val krümmte sich.
Angel seufzte. Irgendwie hatte er von Val mehr erwartet, wusste aber nicht, was dieses Mehr war. »Ich brauche einen Spender«, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. »Ein wirklich guter Agent würde mir ein Angebot machen.«
»Ich würde dir mein Hirn geben, Junge. Gott weiß, dass ich es nicht benutze. Aber mein Herz...« Er schüttelte seinen Kopf. »Gott, Jesus...«
»Bete nicht«, schnappte Angel, »sondern versuch, etwas Hilfreicheres zu sagen. Ich brauche Rat. Teufel auch, wenn ich gewusst hätte, dass mir eines Tages eine Transplantation bevorstünde, hätte ich das Rauchen und Trinken Vorjahren aufgegeben.«
Das war eine weitere Lüge, noch eine in dieser langen Reihe von Lügen, sagte er sich. Er hatte seit Jahren gewusst, dass sein Herz angegriffen war - aber das hatte ihn nicht daran gehindert, zu trinken und zu rauchen. Die einzige Änderung in seinem Lebenswandel war die gewesen, dass er eine Herztablette genommen hatte, bevor er sich eine Line Koks reinzog.
Er hatte nie Zeit damit vergeudet, über seine Zukunft nachzudenken. Sein Leben war immer eine Achterbahnfahrt gewesen, wobei er bereitwillig auf dem Vordersitz Platz genommen hatte. Die Tage und Nächte rauschten mit atemberaubender Geschwindigkeit in einem ständigen Auf und Ab vorbei, kamen und gingen. Das Tempo verlangsamte sich nie. Es gab kein plötzliches Halten.
Bis jetzt, bis gestern, als die Achterbahn wegen eines Zusammenpralls mit seiner eigenen Sterblichkeit entgleist war.
Und als ob die Aussicht auf einen baldigen Tod nicht schon schlimm genug wäre, wollten sie auch noch, dass er zur Operation nach Seattle ging. Gott, was für ein Mist ...
Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Das hatte er nicht verdient. Sicher, er war in seinem Leben ein Arschloch gewesen, hatte Menschen verletzt und sie belogen. Aber dafür hatte er auch in die Hölle zu gehen. Er war katholisch erzogen worden. Er kannte die Spielregeln.
Doch die Hölle kam nach dem Tod.
Nicht die Hölle auf Erden, keine Herztransplantation, kein halbes Leben.
»Das ist saublöd«, sagte Angel. »Ich weigere mich, mir darüber weiter Sorgen zu machen. Was weiß denn schon ein schlecht bezahlter Arzt in einem mitten im Nichts gelegenen Provinzkrankenhaus über solche Operationen? Wahrscheinlich würde er einen Herztransplantationspatienten nicht einmal erkennen, wenn er einen mit seinem Wagen überfährt.«
»Ach ja, aber du würdest das.« Val zerknüllte das leere Zigarettenpäckchen. »Und wann wird die Operation stattfinden?«
»Ich werd das nicht machen lassen.«
Val runzelte die Stirn. »Sei nicht dämlich, Angel. Wenn du ein neues Herz brauchst, besorg dir eins. Ist doch wahrscheinlich ein Klacks. Teufel auch, man kann heutzutage siamesische Zwillinge trennen und Männer zu Frauen machen. Wo liegt das Problem?«
»Ich mag ja nicht Albert Schweitzer sein, Val, aber ich denke, dass ein neues Herz das Leben doch ein bisschen verändert.«
»Der Tod könnte gewöhnungsbedürftiger sein.« Val versuchte, locker zu wirken, aber Angel konnte die Furcht in den Augen seines Freundes sehen. Dieser Anblick war erschreckend, denn Val war furchtlos, der einzige Mensch, den Angel kannte, der ebenso aufs Ganze ging und tollkühn lebte wie Angel. Ein dilettantischer hervorragender Junge, der die Karrieren einiger der berühmtesten Hollywoodgrößen lenkte.
Angel wollte wegschauen, konnte aber nicht. »Hast du diesen Film The Hand mit Michael Caine gesehen? Der, in dem er einen Pianisten spielte, glaube ich, der seine Hand verlor. Man nähte ihm eine >Spender<-Hand an seinen Stumpf an. Der Clou war, dass das die Hand eines Massenmörders war. Caine fing an, jeden zu ermorden, den er sah.«
»Oh, um Himmels willen, Angel.«
»Ja? Könnte doch wahr sein. Es könnte passieren. Was, wenn ich das Herz einer Schwuchtel bekomme und mein größter Wunsch nach der Operation ist, mich wie Doris Day anzuziehen?«
Val stieß ein bellendes Gelächter aus. »Ich weiß nicht. Du hast wirklich Superbeine. Wahrscheinlich könnte ich dich an einen Transvestiten-Nachtclub vermitteln. Du könntest Liza Minnelli sein.« Kaum hatte Val die Worte ausgesprochen, hörte er auf zu lächeln. Dann beugte er sich vor und sah Angel eindringlich an. »Der Punkt ist, dass dein Herz es nicht mehr lange macht. Das ist eine Tatsache.«
»Du hast leicht reden.«
»Leicht?« Val wiederholte das Wort, wobei er seine vollen Lippen etwas verzog. »Du bist mein bester Freund. Das ist überhaupt nicht leicht.«
»Und was wird aus meiner Karriere? Die New York Times schrieb, ich würde mit dem Herzen spielen.«
Val blickte nicht weg, obwohl Angel wusste, dass er das am liebsten tun würde. »Die Schauspielerei ist deine kleinste Sorge. Ich hab für dich bei diesem beschissenen Actionfilm eine Unsumme an Gage rausgeholt.«
Angel starrte auf das leere Zigarettenpäckchen in Vals Hand. Er wollte eine Zigarette, einen Schluck Tequila. Alles, was auf magische Weise diesen Augenblick nehmen und in etwas anderes verwandeln würde. Er wollte, dass es gestern war, letzter Monat, letztes Jahr.
Er wollte noch nicht sterben.
Aber mit jedem Atemzug, jedem stechenden, von Schmerz begleitetem Atemzug, spürte er die Wahrheit. Sein Herz warf das Handtuch. Diese Erkenntnis löste ein nagendes Gefühl von Verlust und Frustration in ihm aus. »Ich will damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, Mann. Ich würde mich wie ein Monster fühlen.«
»Ich werde eine Geschichte verbreiten, dass du erschöpft bist - man wird glauben, du hast eine Überdosis Drogen genommen. Ist aber keine große Affäre.« Val wartete eine Minute, offensichtlich nachdenkend, beugte sich dann zu ihm und sah Angel so ernst an wie noch nie. »Aber, Angel, du musst jetzt mal vernünftig sein. Image ist nicht dein größtes Problem.«
Ein unbehagliches Schweigen senkte sich zwischen sie. Angel wollte nichts sagen, wusste nicht, was er sagen sollte, aber die Stille fraß an seinen Nerven, bis er es nicht mehr ertragen konnte. »Ich wäre gern sauer auf Gott, weißt du? Aber wenn's einen Gott gibt, dann gibt's auch eine Hölle. Und wenn's eine Hölle gibt, dann war mein ganzes Leben ein Wettlauf zum Feuer.«
Val zuckte zusammen. »Lass uns nicht philosophisch werden. Ich hab in der Limo unten zwei Frauen und einen Beutel Koks.« Er lächelte, aber der Ausdruck seiner Augen war traurig.
Und plötzlich wusste Angel, was Val dachte. Sie beide hatten die gleichen Drogen genommen, dieselben Frauen gebumst, die gleiche Gratwanderung gemacht. Wenn Angel starb, würde Val ihm bald folgen.
Wie würde sich dies auf ihre Freundschaft auswirken?
Angel spürte heftige Panik in sich aufsteigen. Plötzlich wusste er, welchen Preis er für seine Unbesonnenheit bezahlt hatte, und für eine Sekunde wünschte er sich, alles rückgängig machen zu können, die Art, wie er gelebt hatte, ändern zu können. Alles, so dass er jetzt, in diesem Augenblick, echte, aufrichtige Freunde hätte, die sich um ihn sorgten ...
»Tut mir Leid, Kumpel«, sagte Val mit ruhiger Stimme. »Aber es ist vorbei. Vorbei. Der Schnaps, die Drogen, die Partys - Ende der Fahnenstange. Mir ist egal, ob du dich operieren lässt oder nicht, aber die Tage sind vorbei. Glasklar ist, dass ich mit dir nicht wieder feiern werde. Himmel, du könntest dir eine Nase reinziehen und tot auf den Kaffeetisch sacken.« Er erschauerte bei dem Gedanken, beugte sich dann näher zum Bett. »Ich weiß, dass du Angst hast, und wenn man Angst hat, wird man streitlustig und ungenießbar, aber bei der Sache brauchst du einen klaren Kopf, Angel. Wir sprechen über dein Leben.«
»Schönes Leben. Das Beste hast du übrigens noch gar nicht gehört - sie schicken mich für die >Prozedur< nach Seattle. Seattle.«
»Gut.«
Angel runzelte die Stirn. »Was, zum Teufel, ist daran gut?«
»Du wirst deinen Bruder bei dir haben. Ich fürchtete, du würdest allein sein. Ich muss zu diesem Filmfestival fahren und ich habe das Haus in Aspen für zwei Wochen gebucht.«
»Lass dir durch meinen Tod um keinen Preis deine Urlaubspläne verderben.«
Val warf ihm einen schuldbewussten Blick zu. »Ich könnte das kippen...«
Angel hatte sich noch nie so allein gefühlt. Er war weltberühmt, aber das war im Grunde genommen einen Scheiß wert. Sein Leben war wie sein Stern auf dem Hollywood Boulevard. Ein wunderschönes, glitzerndes Ding zum Anschauen, aber im Pflaster erstarrt und kalt, wenn man es anfasste. »Nein, mach dir keine Gedanken. Mir wird's schon gut gehen.«
Schließlich sagte Val: »Du bist stärker, als du glaubst, Angel. Das bist du immer gewesen. Du wirst es schaffen.«
»Ich weiß.«
Danach gab es nichts mehr zu sagen.
Dr. Madelaine Hillyard betrat die Intensivstation in atemloser Eile. Ihr Name verhallte knisternd aus den Lautsprechern der Rufanlage.
Der Raum war hell und unpersönlich. Ein Einzelbett stand in der Mitte des kleinen Privatzimmers. Daneben stand ein Tisch, voll gestellt mit Wasserkannen und Tassen.
Ihr Patient, Tom Grant, lag in dem schmalen Bett. Ein blasser, regloser Körper, die Augen geschlossen, in der Kehle ein Schlauch, der ihn mit dem lebenserhaltenden Beatmungsgerät verband. Schläuche zur intravenösen Versorgung führten aus seinen Adern. Zwei riesige Brustrohre ragten aus der Haut unter seinen Rippen, saugten aus seinen Operationswunden Blut in einen blubbernden, zischenden Zylinder.
Susan Grant saß an das Bett gelehnt da, ließ auf unbequeme Weise ihre Arme über die silberfarbenen Metallstäbe des Bettes hängen und hielt mit einer Hand fest die schlaffen, reaktionslosen Finger ihres Mannes umschlossen. Bei Madelaines Eintreten blickte sie auf. »Hallo, Dr. Hillyard.«
Madelaine schenkte der Frau ein freundliches Lächeln und trat an das Bett. Sie kontrollierte wortlos die Schläuche, machte eine Notiz auf seiner Karte, dass der Kanister häufiger zu leeren sei, und prüfte seine Medikamente. Pressorstoffe, Immunosuppressoren und Antibiotika - sie alle liefen auf Hochtouren, um Toms geschundenen, aufgeschnittenen Körper daran zu hindern, das neue Herz abzustoßen.
»Es sieht gut aus, Susan. Er sollte bald zu Bewusstsein kommen.«
Tränen quollen unter den Lidern der Frau hervor und rollten über ihre Wangen. »Die Kinder haben nach ihm gefragt. Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Madelaine wollte ihr sagen, dass alles gut werden würde -weitaus besser als nur gut -, dass Tom bald aufwachen und seine Frau anlächeln und seine Kinder halten und das Leben gut sein würde.
Aber Tom war ein ganz besonderer Patient. Dies war seine zweite Herztransplantation. In den zwölf Jahren seit seiner ersten Operation hatte er bewiesen, dass Transplantationen das Leben eines Patienten wahrhaftig verlängern konnten - er hatte zwei weitere Kinder gezeugt, war Marathonläufer geworden und hatte sich landesweit engagiert, um für Organspenden zu werben, weil Transplantationen immer erfolgreicher waren. Doch schließlich hatte sein Herz aufgegeben und jetzt war er wieder ein Pionier. Einer der wenigen Patienten, die überhaupt jemals eine dritte Chance bekamen.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Susan leise.
Madelaine antwortete nicht. Es war nicht nötig. Stattdessen zog sie einen Stuhl heran und setzte sich. Sie wusste, dass ihre Anwesenheit Susan trösten würde, für die Frau ein Anker in der stillen, erschreckenden Welt der Genesung nach der Operation war. Ihr Blick fiel kurz auf die Wanduhr und sie merkte sich, wie spät es war. Sie hatte ihren nächsten Termin in fünfundvierzig Minuten. Sie würde eine Weile bei Tom bleiben können.
Auf dem Bett hustete Tom schwach. Seine Lider zitterten.
Susan beugte sich zu ihm. »Tommy? Tom?«
Madelaine drückte auf den Klingelknopf, um eine Krankenschwester zu rufen, stand auf und neigte sich über das Bett. »Tom? Können Sie mich hören?«
Er öffnete seine Augen und versuchte um das Intubationsrohr herum ein Lächeln. Er streckte seine Hand hoch und drückte sie auf das Gesicht seiner Frau.
Dann schaute er Madelaine an und hob einen Daumen.
Für einen Augenblick wie diesen lebte Madelaine. Gleich, wie viele Male sie so an einem Bett stand, sie würde sich nie an dieses erregende Erfolgsgefühl gewöhnen, bei dem Adrenalin sie durchschoss. »Willkommen im Leben.«
»Oh, Tommy.« Jetzt weinte Susan heftig. Tränen tropften von ihrem Gesicht und fielen auf die blassblaue Decke.
Madelaine führte ein paar Tests mit ihm durch, bevor sie das Zimmer verließ, um das Paar ungestört allein zu lassen. Auf dem Korridor hielt sie die Oberschwester an und informierte sie über den neuesten Stand, holte dann ihren Mantel aus ihrem Büro und eilte aus dem Gebäude.
Sie fuhr von dem Parkplatz und weiter mit hoher Geschwindigkeit die Madison Street hinunter in Richtung Autobahn. In den ersten Augenblicken war sie überglücklich, aufgeheitert von Toms Fortschritt. Bald würde er sein Bett verlassen können, seine Kinder küssen, sie auf seinem Schoß halten, sie an einem strahlenden Frühlingstag in die Luft werfen können.
Sie, die anderen Mitglieder des Transplantationsteams und die Familie des Spenders hatten alle ihren Teil geleistet, um dieses Wunder zu vollbringen. Egal, wie oft es geschah, sie empfand immer ein unglaubliches, demütiges Gefühl von Ehrfurcht. Wenn ein Patient nach der Operation aufwachte, war sie selig. Oh, sie wusste, dass es morgen enden konnte, wusste, dass sein Körper das Herz abstoßen und sich wie ein tollwütiger Hund dagegen stellen konnte. Aber sie glaubte immer an das Beste, betete und arbeitete dafür.
Sie blickte kurz auf, sah das Schild, das ihre Ausfahrt anzeigte, und ihre gute Stimmung verflog so schnell, wie sie gekommen war.
Sie war auf dem Weg zu einer Besprechung mit der Highschool-Studienberaterin ihrer Tochter. Sie erwartete nichts Gutes.
Madelaine seufzte und spürte das erste verräterische Pochen migräneartiger Kopfschmerzen. Ja, die Tom Grants dieser Welt waren der Grund, warum sie tat, was sie tat, warum sie Jahre auf dem College verbracht hatte, jahrelang kaum geschlafen, kein Privatleben gehabt, sondern wie von einem Dämon besessen gearbeitet hatte, um Kardiologin zu werden. Aber dafür hatte sie einen Preis zahlen müssen. Als sie älter wurde, hatte sie die Wahrheit endlich begriffen: Es gab immer einen Preis.
Sie verlor ihre Tochter, schaute zu, wie Lina sich ihr immer weiter entfremdete. Madelaine versuchte, die perfekte Mutter zu sein, so wie sie versuchte, die perfekte Ärztin zu sein. Aber Ärztin zu sein war ein Klacks, verglichen damit, allein erziehende Mutter zu sein. Gleich, wie sehr sie sich bemühte, sie scheiterte bei Lina, und es war nicht nur schlecht, sondern noch schlimmer geworden. In letzter Zeit hing ihre Beziehung an einem seidenen Faden.
Madelaine wollte nichts sehnlicher, als das Richtige tun, das Richtige sein, aber was wusste sie schon von Mutterschaft? Sie war als Teenager schwanger geworden - viel zu jung. Sie hatte gewusst, dass sie sich um ihre Tochter kümmern, Lina ein gutes, geordnetes Leben geben müsste. Das Medizinstudium war zuerst nichts weiter als ein Luftschloss gewesen. Madelaine hatte nie geglaubt, dass sie es tatsächlich schaffen würde, aber sie hatte weiter geschuftet, von dem Treuhandvermögen gelebt, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Sie hatte wie eine Wahnsinnige gearbeitet, um die Beste und Erfolgreichste des letzten Semesters zu werden, und sie hatte den Abschluss früh geschafft.
Aber irgendwo auf diesem Wege hatte sie etwas falsch gemacht. Zuerst waren es kleine Dinge - eine vergessene Geburtstagsfeier, eine Notoperation an einem Familienabend, ein Ausflug, den sie nicht machen konnte. Madelaine war so von ihrem Ehrgeiz zerfressen gewesen, dass sie es überhaupt nicht bemerkte, als ihre Tochter aufhörte, sich mit ihr zu verabreden, aufhörte, sich darauf zu verlassen, dass sie irgendwo wäre oder etwas täte.
Jetzt bezahlte sie den Preis dafür.
Sie fuhr auf den Parkplatz der Schule, stieg aus dem Wagen und ging durch die Schule zum Büro der Studienberaterin. Sie klopfte heftig an die geschlossene Tür.
Ein gedämpftes »Herein« kam als Antwort.
Madelaine sammelte sich, indem sie ruhig ausatmete, und ging dann hinein.
Die Studienberaterin, eine hübsche Brünette namens Vicki Owen, lächelte breit und streckte ihre Hand aus. »Hallo, Dr. Hillyard. Kommen Sie. Setzen Sie sich.«
Madelaine schüttelte der Frau die Hand. »Sagen Sie bitte Madelaine zu mir.«
Vicki nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und zog einen Stoß Papiere heraus. »Ich habe um dieses Gespräch gebeten, weil es bei Lina einige ernste Verhaltensprobleme gibt. Sie schwänzt den Unterricht, vergisst, Hausarbeiten zu machen, und ist aufmüpfig. Offen gesagt, ihre Lehrer sind hilflos. Und dabei war sie eine so wunderbare Schülerin.«
Madelaine empfand jedes der Worte wie einen Schlag. Sie wusste, dass es wahr war, wusste, dass ihre Tochter in Schwierigkeiten steckte, aber sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte.
Vickis Gesicht wurde weich und zeigte Verstehen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Madelaine, das geht Ihnen nicht allein so. Jede Mutter einer sechzehnjährigen Tochter empfindet ebenso.«
Madelaine wollte den Worten der Studienberaterin nur zu gern glauben, aber sie wollte es sich nicht so leicht machen. »Danke«, murmelte sie.
»Möchten Sie darüber reden?«
Madelaine schaute der Beraterin ruhig in die dunklen Augen. Sie wollte ihre Last mit dieser jungen Frau teilen, ihre Karten auf den Tisch legen und sagen Helfen Sie mir, ich bin verloren, aber sie hatte nicht gelernt, so offen zu sein. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie dazu erzogen worden, immer ein fröhliches Gesicht zu machen und stark zu sein. Schwäche zu zeigen war für sie unvorstellbar. »Ich glaube nicht, dass Reden mein Problem lösen wird«, sagte sie ruhig.
Vicki schwieg einen weiteren Augenblick, wartete und fuhr dann fort: »Linas Lehrer sagen mir, dass sie auf Strafen gut reagiert. Auf Vorschriften.«
Madelaine zuckte bei diesem subtilen Vorwurf zusammen. »Ja, das tut sie. Ich ...« Sie starrte Vicki an. Ich weiß einfach nicht wie. »Ich glaube, ich müsste mir mehr Zeit für sie nehmen.«
»Vielleicht«, erwiderte Vicki zweifelnd.
»Ich werde mit ihr reden.«
Vicki faltete die Hände auf dem Tisch. »Sie wissen, Madelaine, dass man manche Dinge durch Reden nicht lösen kann. Manchmal muss ein Teenager den Zorn Gottes spüren. Wenn vielleicht ihr Vater...«
»Nein«, sagte Madelaine schnell - zu schnell. Sie versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Ich bin allein erziehend.«
»Verstehe.«
Madelaine konnte keine Minute länger dort sitzen bleiben, konnte nicht ertragen, was sie in den Augen der Studienberaterin sah. Ihre Scham und ihr Schuldgefühl waren überwältigend. Sie sprang auf. »Ich werde das regeln, Vicki. Sie haben mein Wort darauf.«
Vicki nickte. »Supermutter zu sein, ist eine schwere Aufgabe, Madelaine. Es gibt mehrere hervorragende Gruppen, die Ihnen helfen könnten.«
»Danke. Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen.« Madelaine drehte sich mit einem letzten Nicken um und verließ das Büro. Als die Tür hinter ihr zufiel, schloss sie für eine Sekunde ihre Augen.
Wenn ihr Vater vielleicht ...
Sie stöhnte. Gott, sie wollte nicht an Linas Vater denken. Seit Jahren hatte sie ihn aus ihren Gedanken verdrängt. Und wenn die Erinnerungen manchmal spätnachts kamen, verdrängte sie sie mit einer kalten Dusche oder indem sie um den Block rannte.
Und das hatte auch funktioniert. Nach einer Weile hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, hatte ihn nicht mehr gebraucht oder sich nach ihm gesehnt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie fast vergessen, wie er ausgesehen hatte.
Dann hatte Lina angefangen, sich zu verändern. Diese Verwandlungen waren zunächst kaum erkennbar gewesen. Ein paar Löcher mehr in den Ohren, Löcher in ihren Levi's, dunkles Mascara um ihre wunderschönen blauen Augen.
Wie gewöhnlich hatte Madelaine das kaum bemerkt. Dann, eines Tages, hatte sie ihre Tochter angeblickt und ihn gesehen. Da hatte sie erkannt, was sie seit der Kindheit hätte sehen müssen. Lina war das Spiegelbild ihres Vaters, ein wilder Teenager, der sein Leben im Eiltempo auslebte, der rücksichtslos war und um nichts bat. Und Lina durchschaute ebenso wie ihr Vater Madelaines brüchiges Äußeres, sah die schwache Frau, die darin steckte. Eine Frau, die keine Vorschriften machen, die nicht einmal die einfachsten Bedingungen durchsetzen konnte. Eine Frau, die sich so verzweifelt nach Liebe sehnte, dass sie sich von Menschen fertig machen ließ.
Lina Hillyard nahm einen langen, in der Lunge brennenden Zug aus ihrer Zigarette und stieß den Rauch wieder aus. Er sammelte sich an der Windschutzscheibe und blieb dort hängen, wurde Teil der gewaltigen Wolke, die bereits im Auto hing. Durch reine Willenskraft unterdrückte sie ein trockenes Husten.
Sie rutschte unbehaglich auf dem schmalen Sitz umher, warf dem Jungen neben ihr einen verstohlenen Blick zu. Jett fuhr wie üblich zu schnell, hatte seinen Fuß auf das Gaspedal gepresst. In seiner freien Hand hielt er eine Flasche Jack Daniel's, die er seinen Eltern gestohlen hatte. Auf der anderen Seite neben ihr saugte Brittany Levin an einer Limone - mit der sie ihren Tequila abschloss. Alle lachten und redeten und sangen zu der Musik der Butthole Surfers, die aus dem Radio kam.
Der Song endete und ein langsamerer wurde gespielt. Jett fluchte laut und schaltete das Radio ab, fuhr dann an den Straßenrand und trat so heftig auf die Bremse, dass sie alle nach vorne geschleudert wurden. Linas Hand schoss instinktiv vor und schlug gegen die Windschutzscheibe. Ihre Zigarette fiel auf die Ablage und rollte auf den Lüftungsschlitz zu.
Die Türen des kleinen Datsun flogen auf und alle stürzten nach draußen. Lina griff nach ihrer Zigarette. Als sie sie endlich erwischt hatte, war die Clique bereits draußen, hatte sich unter einer riesigen Zeder in der Mitte der Lichtung versammelt.
Es war die Stelle, an der sie ihre Samstagnachtpartys feierten. Vergilbte Zigarettenstummel und Jointreste übersäten bereits den Boden neben leeren Schnapsflaschen und zerknautschten Zigarettenpäckchen. Jemand hatte einen Ghettoblaster mitgebracht und laute Musik dröhnte durch die Nacht.
Lina ließ ihre Zigarette fallen und trat sie mit einem Absatz aus, ging dann zu der Gruppe. Jett stand neben dem Baum und schluckte Jack Daniel's, als ob es Wasser sei. Der goldene Alkohol rann über sein Stoppelkinn und tröpfelte auf sein T-Shirt.
Sie hätte zu gern gewusst, was sie ihm jetzt sagen sollte -eben das Richtige, das ihn dazu brachte, auf sie zu schauen, sie zu sehen. So lange sie sich erinnern konnte, war sie verknallt in ihn. Er war so cool. Und sie hatten etwas gemeinsam. Jett war ohne Vater aufgewachsen. Lina war sicher, dass das etwas bedeutete - etwas Schicksalhaftes war -, dass ihre Leben so ähnlich waren. Aber er schien sie nie zu beachten. Keiner von ihnen tat das. Sie war wie ein Geist, schwebte am Rande ihrer Clique und versuchte die Worte zu finden, die ihr Zugang verschaffen würden.
»He, Hillyard«, rief Jett und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Hast du Geld? Wir brauchen was zu rauchen.«
Lina grinste und klemmte eine widerspenstige Locke ihres schwarzen Haares hinter das Ohr. Es war nicht viel, das wusste sie, aber es bedeutete, dass er etwas von ihr wollte, etwas brauchte. Sie hatte immer mehr Geld als die anderen. (Es war das einzig Coole, was von ihrer unfähigen Mutter kam.) »Ja, ich hab genug für ein paar Päckchen«, antwortete sie und kramte in ihrer Jeanstasche.
Brittany warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Dann öffnete sie ihre Handtasche und holte eine Flasche Tequila heraus. »Hier, Lina, nimm einen Drink.«
Lina griff nach dem Hals der Flasche und nahm einen brennenden Schluck. Der Tequila versengte ihre Kehle und explodierte dann in ihrem Magen.
Brittany fuhr sich mit einer Hand durch ihr kurz geschorenes Haar und schob sich neben Jett. Sie starrte Lina triumphierend an, umfasste seinen Hals und drückte einen langen, feuchten Kuss auf seinen Mund. Jett legte einen Arm um Brittanys Taille und zog sie dicht an sich. »Du schmeckst wie Tequila«, murmelte er. Dann sah er sich um. »Wer hat den Pot?«
Binnen weniger Sekunden war die Nachtluft vom süßen Duft des Marihuana erfüllt. Die Jugendlichen stellten sich in einem Kreis zusammen, reichten den Joint von einem zum anderen weiter, lachten und tanzten.
Lina spürte die Wirkung des Stoffes in ihrem Kreislauf. Die Welt schien langsam zu werden. Ihr Körper wurde zu einem schweren Sirup und sie sank langsam, ganz langsam nach unten.
Sie schloss ihre Augen und schwankte. Gott, es war ein gutes Gefühl, berauscht zu sein. Wenn sie high war, waren ihr viele Dinge egal. Plötzlich war es unwichtig, dass ihre perfekte Mutter heute ein Gespräch mit der Studienberaterin hatte. Wenn sie high war, konnte sie nichts verletzen.
Selbst die Fragen, die sie heute den ganzen Tag gequält hatten, waren jetzt ebenso substanzlos wie der Rauch, der aus ihrer Zigarette aufstieg.
Brittany ließ sich neben sie plumpsen. »Ich hab deine blöde Mutter heute in Miss Owens Büro gehen sehen.«
Jett lachte. »Oh, dann hast du jetzt aber Probleme, Hillyard.«
»Ja, ich hab sie auch gesehen«, fiel ein anderer ein. »Sie mag zwar ein Miststück sein, aber deine Mutter ist scharf.«
»Sie könnte ein Model sein«, sagte Brittany und beugte sich dann näher. »Du siehst ihr überhaupt nicht ähnlich. Wem in deiner Familie ähnelst du?«
Lina zuckte zusammen und griff nach ihren Zigaretten. Manchmal hasste sie Brittany mehr, als sie ertragen konnte. »Meinem Dad, vermute ich.«
Brittany schenkte ihr einen kalten, abschätzenden Blick. »Aber das ist natürlich nur eine Vermutung.« Sie nahm einen weiteren tiefen Schluck Tequila und lachte, während sie schluckte. Dann sprang sie auf. »He, ich hab 'ne Idee.« Sie rannte zu Jett hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie begannen beide zu lachen.
Jett ließ seine leere Jack-Daniel's-Flasche fallen und ging wankend und sehr langsam zum Auto. Er öffnete den Kofferraum und kramte in dem Zeug, das darin lag, nahm ein paar Dinge heraus und kehrte dann zur Lichtung zurück. Ein breites, trunkenes Grinsen explodierte auf seinem Gesicht. »Hillyard, wir werden ausknobeln, wer dein Vater ist.«
Lina antwortete nicht. Sie wussten nicht - keiner von ihnen wusste -, wie sehr sie sie mit ihren gedankenlosen Worten verletzen konnten. »Was meinst du damit?«, fragte sie leise.
Er hockte sich neben sie, bis er in Augenhöhe mit ihr war. »Wir werden rausfinden, wem du ähnlich siehst. Das wird cool. Du wirst schon sehen.« Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, hatte er ihr eine alte Baseballmütze auf den Kopf gesetzt und eine Schere hervorgezaubert. »Ich werde genau um die Kappe rumschneiden - das sieht stark aus.« Er rülpste angetrunken und lachte.
Angst stieg in ihr auf. »Augenblick mal...«
»Meine alte Dame ist Friseuse. Ich weiß, was ich tue«, sagte Jett.
Brittany starrte auf sie herab. »Du hast doch wohl keinen Schiss, oder?«
Die anderen Jugendlichen drängten sich um sie.
Lina biss sich auf die Unterlippe, damit die nicht zitterte, schaute aber Brittany unverwandt ins Gesicht. »Ich hab keinen Schiss«, sagte sie. »Und außerdem ist kurzes Haar viel cooler.« Sie wandte sich an Jett und schenkte ihm ihr breitestes, mutigstes Lächeln. »Fang schon an.«
Jett begann zu schneiden. Lange Locken von pechschwarzem Haar rutschten über ihre Levi's-Jacke. Bei jedem Schnipp-schnipp-schnipp zuckte sie zusammen und hatte das Gefühl, als ob Teile von ihr abfielen.
Brittany fischte einen Spiegel aus ihrer Handtasche und reichte ihn Lina. In ihren braunen Augen war ein triumphierendes Lächeln.
Lina hob langsam den Spiegel hoch und starrte ihr Gesicht darin an. Für eine Sekunde konnte sie nicht atmen, aber nach einer Minute schaute sie nicht mehr auf das struppige, zerschnittene Haar. Sie starrte nur ihr Spiegelbild an.
Die Fragen drangen wieder auf sie ein und dieses Mal halfen der Schnaps und der Pot absolut nicht. Plötzlich dachte sie an ihren Vater - den mysteriösen Vater -, der ihr Gesicht geprägt und ihrer Seele seinen Stempel aufgedrückt hatte. Wie immer überlegte sie, was er im Augenblick wohl tun mochte. Kam er von der Arbeit nach Hause? Küsste er ein anderes Kind, das er im Lauf der Zeit gezeugt hatte, eines, bei dem er geblieben war, um es großzuziehen?
Alles wäre anders, wenn ich dich kennen würde, dachte sie zum millionsten Mal.
»Sie sieht wie Mr Sears aus«, sagte Brittany und lachte schrill. »He, Hillyard, vielleicht ist der Hausmeister der Schule dein Dad.«
Jett griff nach einem Joint und nahm einen Zug. Rauch quoll aus seinem Mund, als er sagte: »Ich weiß nicht, warum du nicht einfach deine alte Dame fragst. Meine Mutter hat mir die Adresse meines Dad vor ein paar Jahren gegeben. Sie sagte mir, ich solle zu ihm ziehen, und wünschte mir viel Glück.«
Einfach fragen.
Lina erschauerte bei dem Gedanken. Vielleicht würde sie es dieses Mal tun. Ihr sechzehnter Geburtstag stand bevor ...
Der Gedanke intensivierte sich, nahm Gestalt in ihrem Kopf an, bis sie am ganzen Leibe zitterte. Erwartung erblühte in ihr zu einer lebenden, atmenden Existenz. Sie wusste plötzlich, was sie sich zu ihrem Geburtstag wünschte. »Es ist Zeit«, sagte sie zu sich und spürte, dass sie zu lächeln begann.
»Was meinst du, Lina?« Brittanys nasale Stimme drang in ihre Gedanken.
Lina blickte ruckartig auf. Für einen Sekundenbruchteil verstand sie nicht, worauf sie alle warteten. Dann erinnerte sie sich. Der Haarschnitt. Sie schaute zuerst Jett an, dann Brittany - die so unbedarft war, dass sie glaubte, ein dämlicher Haarschnitt sei wichtig. »Ist irgendwie cool. Danke, Jett. Und jetzt gib mir den Tequila.«