Kapitel 18
Madelaine streifte ihre Maske über, zog die Überschuhe an und begab sich zu Angels Isolationsraum. Als sie einen Blick durch die Fenster der Beobachtungstüren warf, sah sie die Krankenschwester, die jeden seiner Herzschläge verfolgte, neben seinem Bett stehen.
Sie schritt schnell durch die Tür und trat neben die Krankenschwester. Er lag völlig still da, das Gesicht blass und ein wenig grau, der Körper verbunden mit einem Dutzend Maschinen und intravenösen Schläuchen, durch die Lösungen tropften. Zwei riesige Brustschläuche lagen parallel zu seinem neuen Herzen, ragten aus den Wunden am Ende des Brustkorbes heraus. Blut blubberte durch das durchsichtige Kunststoffrohr und sammelte sich in einem großen Behälter am Fuße des Bettes.
Er sah jetzt friedlich aus, aber sie wusste, dass es eine Illusion war. Alle dreißig Minuten drehte die Krankenschwester seinen geschwächten Körper von einer Seite zur anderen und klopfte den Rücken ab, damit die Lunge und die geschwollene, geöffnete Brust sauber blieben. Sie zwangen ihn, mit einem Schlauch zu atmen, damit die Lunge arbeitete. Die großen Dosen immunsuppressiver Medikamente, die sie ihm in den ersten vierundzwanzig Stunden verabreicht hatten, waren an diesem zweiten Tag nach der Operation ein wenig reduziert worden, aber die Dosis der Antibiotika war verstärkt worden.
Sie griff nach seiner Patientenakte und studierte sie, schaute, ob etwas darin stand, was auf irgendwelche Probleme deutete. »Wie geht es unserem Patienten?«
Die maskierte Krankenschwester sah sie schief an. »Er ist über all dies nicht sehr glücklich. Rein physisch ist sein neues Herz erstklassig. Sein Körper reagiert so gut, wie man es nur erwarten kann.«
»Ich werde mich eine Weile zu ihm setzen. Sie können inzwischen eine Pause machen.«
Nachdem die Krankenschwester gegangen war, zog Madelaine einen Stuhl heran und setzte sich neben sein Bett. Sie griff nach seiner Hand und nahm sie sanft. »So, Angel, du spielst also nicht ordentlich mit.«
Er lag da, ohne zu antworten. Sein Atem ging langsam und gleichmäßig, ohne die Hilfe einer Maschine.
Sie musste unwillkürlich an vorgestern denken, als er nach der Operation aus dem Gleichgewicht geraten war. Sie hatte die Furcht in seinen Augen gesehen, das dämmernde Entsetzen, als er den rhythmischen Schlag seines neuen Herzens gespürt hatte. Die Erkenntnis, dass jemand gestorben war, um ihm eine neue Chance zum Leben zu geben.
Nicht jemand, dachte sie. Francis.
Was würde Angel sagen, wenn er die Wahrheit wüsste?
Sie runzelte die Stirn. Sie kannte Angel seit Jahren nicht mehr - hatte ihn vielleicht niemals richtig gekannt -, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er vor Wut einen Tobsuchtsanfall bekommen würde, wenn er erfuhr, was sie getan hatte. Was sie genehmigt hatte.
Er würde nicht wissen, wie man sich über so etwas grämte. Fairerweise musste sie zugeben, dass das niemand konnte. Er würde von Bedauern und Hass auf sich selbst geplagt sein. Er würde sich fragen, ob Francis vor der Operation wirklich tot gewesen war oder ob Madelaine und ihr Team das Unverzeihliche getan hatten.
Sie wusste, dass sie jeden davon überzeugen konnte, dass Angel die Wahrheit nicht erfahren dürfte - dass es für seine Genesung hinderlich wäre, dass die Identität des Spenders nur nach eingehender Diskussion mit dem Berater der trauernden Hinterbliebenen preisgegeben werden dürfe, dass es unterm Strich am besten sei, Angel im Dunkeln zu lassen. Es war üblich, die Identität des Spenders geheim zu halten.
Aber hier ging es um weit mehr als um die übliche Verfahrensweise des Krankenhauses in solchen Fällen.
Sie hatte Angst davor, ihm die Wahrheit zu sagen, fürchtete sich vor dem Blick, der in seine Augen treten würde, fürchtete sich vor den Worten, die er zu ihr sagen würde. Worte, die einmal gesagt, niemals zurückgenommen werden konnten.
Denn sie kannte auch eine andere Wahrheit. Sie wusste nicht, wann sie es entdeckt hatte, wann es Teil von ihr geworden war, doch irgendwann in den vergangenen Wochen war Angel ihr wieder unter die Haut gegangen. Es war sein Elan -dieser gewaltige, übergroße Elan, der die Welt dazu herausforderte, es mit ihm aufzunehmen. Als junges Mädchen hatte sie sich darin verliebt, aber sie stellte sogar jetzt, als Erwachsene, fest, dass da etwas fast Magisches in der Stärke seiner Persönlichkeit war, seinem trotzigen Willen, sich seinen eigenen Weg zu bahnen.
So ganz anders als ihr eigener verwässerter, nachgiebiger Wille.
Als sie auf ihn blickte, sah sie sogar jetzt, wo er an der Schwelle des Todes lag, eine Sternschnuppe von Mann.
Die Tür hinter ihr öffnete sich. Sie drehte sich in dem Moment um, als Chris in den Raum trat. Seine Augen verengten sich oberhalb der Maske zu einem Lächeln. »Wie geht es unserem Patienten?«
Madelaine lächelte. »Besser als den meisten. Er reagiert gut auf die Medikamente.«
Chris zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er nahm sich eine Sekunde, um die Akte durchzublättern, schob sie dann zurück in die Hülle, die am Fußende des Bettes angebracht war. Er schaute Madelaine an. »Was werden Sie tun?«
Sie wusste genau, was er meinte, und wich ihm nicht aus. »Ich werde ihn nicht weiter als Kardiologin betreuen. Nach der... Entscheidung zu spenden, habe ich keine andere Wahl.«
»Sie könnten die Angelegenheit der Ethikkommission vortragen - es ist eine Art Grauzone.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde Marcus Sarandon um Übernahme bitten. Er wird tolle Arbeit leisten.«
Chris warf einen Blick auf Angel. »Was werden Sie ihm sagen?«
Sie seufzte. »Ich weiß es nicht.«
Sie war unerträglich, wie alle Beerdigungen.
Die Leichenhalle war ein palastartiges weißes Ziegelgebäude mit Säulen und sorgfältig gepflegtem Rasen und jungen Bäumen, die eines Tages zu hundertjährigen Eichen altern würden und dem Neubau einen Hauch altmodischer Eleganz geben würden. Es war wie so viele andere seiner Art ein Gebäude, mit Bedacht ersonnen, um eine weit verbreitete amerikanische Fiktion zu beschwören - das perfekte Familienheim, ein weitläufiges Südstaatenherrenhaus, das in eine andere Zeit zurücklauschte, als noch eine Generation zur nächsten wurde und wieder zur nächsten, als der Kreislauf des Lebens akzeptiert und verstanden wurde. Man konnte sich sogar einen kleinen, sehr gepflegten Familienfriedhof an seiner Rückseite vorstellen, der von einem weiß gestrichenen Holzzaun umgeben war.
Dies war natürlich der größte Irrglaube überhaupt. Hinter dem Gebäude dehnten sich hektarweit grüner Rasen, Rasen, der sich einem Golfplatz gleich senkte und hob und an manchen Stellen flach war. Ahorn und Erlen standen an den Hängen der Hügel, streuten ihre vielfarbigen Blätter über den Grasteppich.
Madelaine und Lina standen Seite an Seite in der Menge der trauernden Fremden. Ein Wagen nach dem anderen kam, parkte in einer endlosen Reihe längs der Zufahrt und weiter hinunter am Straßenrand. In ernstes Schwarz gekleidete Menschen stiegen aus den Wagen, sammelten sich und wisperten miteinander. Frauen betupften ihre Augen und erzählten Geschichten über Vater Francis. Männer schüttelten die Köpfe und blickten zu Boden, klopften ihren Frauen und Müttern auf die Schultern.
Die Trauergäste spazierten in einer steten schwarzen Reihe über den Weg hin zum Grab, wo der Trauergottesdienst stattfand. Sie erkannte mehrere Gesichter - Freunde von Francis aus dem Pflegeheim.
Sie sah, wie sie an ihr vorbeidefilierten, sah ihren eigenen Schmerz in vielen der Augen widergespiegelt. Jedes Gesicht erinnerte sie an Francis, ließ sie begreifen, auf wie viele Leben er eingewirkt hatte, wie anders die Welt mit ihm gewesen war. Seit zwei Tagen erst war er tot und doch schien es, als sei es bereits ein ganzes Leben her.
Sie schaute zum Himmel hoch, umklammerte das dünne, weiße Erinnerungsalbum mit ihren kalten Händen. Wusstest du das, Francis, hatten wir dir das gesagt?
»Ich will dort nicht hingehen«, sagte Lina leise neben ihr.
Madelaine sah ihre Tochter an, bemerkte die Blässe auf ihren Wangen, den gequälten dunklen Ausdruck in den blauen Augen. Sie überlegte plötzlich, was sie diesem Mädchen sagen sollte, das kein Mädchen mehr war, aber auch noch keine Frau. Sie wusste nicht, ob sie sich zu einem Lächeln zwingen und so tun sollte, als ob alles wieder gut werden würde, oder ob sie ehrlich sein und ihren eigenen Schmerz zeigen sollte. Sie wusste nicht, was Lina jetzt, gerade jetzt, helfen würde. Wenn überhaupt etwas helfen könnte.
Zögernd streckte sie eine Hand aus und streichelte die feuchte Wange ihrer Tochter. »Da ist dieser Ort, zu dem ich manchmal gehe...«
Lina schniefte schwer und blickte zu ihr auf. »Ja?«
»Vielleicht sollten wir dorthin gehen und irgendwie ... auf unsere eigene Art Francis auf Wiedersehen sagen.«
Linas Unterlippe begann zu zittern. Tränen füllten ihre Augen. »Das ist es ja gerade«, sagte sie leise. »Ich will nicht auf Wiedersehen sagen.«
Madelaine wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und so legte sie, statt zu sprechen, ihren Arm um die Hüfte ihrer Tochter und zog sie ganz nahe an sich. Lina widersetzte sich dem für einen Herzschlag, vielleicht nicht einmal so lange, glitt dann nahe an Madelaines Seite. Schweigend gingen sie gemeinsam die lange, schwarze Zufahrt hinunter, ignorierten die Autos, die an ihnen in Wolken von stinkendem Qualm vorbeikrochen, und die Scheinwerfer, deren Licht ihnen in die Augen fiel.
Sie stiegen in den Volvo und schlugen die Türen zu, und für einen Sekundenbruchteil hatte Madelaine das Gefühl, als sperrten sie damit die Beerdigung aus. Aber auf der langen Fahrt zurück zu ihrem alten Viertel spürte sie, wie es wiederkam, Bruchstücke, die durch ihr Hirn zuckten - das schniefende Geräusch, das die Kirche erfüllte, der Duft von Treibhauslilien und der Rauch Tausender geweihter Kerzen. Die leise, summende Stimme des Erzbischofs, die über einen Mann sprach, den Madelaine kaum kannte - Vater Francis. Fromm, ernst, immer bereit zu helfen, sagte der Erzbischof.
Die ganze Zeit hatte sie nur an diesen achtzehnjährigen Jungen denken können, der zu ihrer Rettung gekommen war. Der ihr dünnes, mitleiderregendes Hilf mir gehört hatte und leise geantwortet hatte: Immer, Maddy-Mädcben, immer.
Sie stellte den Motor ab, saß dort eine Minute und schaute zu, wie die ersten Regentropfen platschend auf die Windschutzscheibe fielen. Durch das verschwommen werdende Glas sah sie das Haus ihres Vaters, das da vor den grauen Wolken geduckt lag, zwischen den kahlen Bäumen, seine Fenster so dunkel, wie sie in den langen Jahren seit seinem Tod immer gewesen waren. Der Rasen war zu hoch und braun und mit welkenden Blättern bedeckt.
Schließlich seufzte sie. »Lass uns gehen.«
Madelaine ging voran auf dem Weg zu dem leeren Haus ihres Vaters - es war jetzt ihr Haus, obwohl sie es nie so sehen konnte. Zu seinen Lebzeiten hatte ihr Vater sie enterbt und ihr nach seinem Tode alles hinterlassen. Die letzte besitzergreifende Geste eines kranken Mannes. Er hatte sie mit dem Haus und dem Geld belastet, das alles repräsentierte, was sie an ihrer Kindheit verachtet hatte.
Sie schritt die Ziegelstufen hoch, ging den Weg hinunter, um den toten Rosengarten herum, der einst der Stolz und die ganze Freude ihrer Mutter gewesen war, trat dann auf den braunen Teppich des Hinterhofs.
Der Rasen führte zu einem niedrigen Ufer am Meer, wo die See sanfte Spritzer über die grauen Felsen spuckte. Madelaines hohe Absätze versanken in dem abgestorbenen Gras, als sie zum Ende des knarrenden alten Kais ging und sich niederließ.
Lina setzte sich neben sie, die nackten Beine baumelten über den Rand.
So blieben sie eine Ewigkeit sitzen, starrten beide auf die Wolken, die sich über der Baumreihe am gegenüberliegenden Ufer ballten. Der Regen wurde stärker und prasselte auf die Oberfläche des Wassers nieder.
»Hierher ist mein Dad mit mir gegangen, nachdem meine Mom gestorben war«, sagte Madelaine schließlich.
»Das ist dein Haus, nicht wahr? Das Haus, in dem du aufgewachsen bist?«
Madelaine erschauerte und zog ihren Mantel enger um sich. »Ja, das ist es.«
»An dem Fenster da oben sind Gitter.«
Der Zwang zu lügen, zu vertuschen, kam schnell. Sie verdrängte ihn und nickte. »Das war mein Schlafzimmer.«
»Er hat dich eingesperrt?«
Madelaine lachte kurz auf. »Siehst du? Du hast nicht die schlechteste Mutter in der Weltgeschichte.«
Lina schwieg und wandte sich ab, um auf die Meerenge zu starren. Nach einer Weile sagte sie leise: »Ich greife ... immer wieder nach dem Telefon, um ihn anzurufen, und dann muss ich mich daran hindern.«
Madelaine schlang einen Arm um Linas Schultern und zog sie an sich. Regen fiel um sie herab, peitschte über ihre Gesichter und prasselte auf ihre Kleidung. »Ich rede jeden Tag mit ihm, gerade so, als sei er noch bei mir. Manchmal glaube ich, er will mir antworten ...«
Lina nickte. »Ich will, dass es etwas bedeutet, aber ...« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Er fehlt mir einfach so sehr.«
Madelaine starrte das Profil ihrer Tochter an, das so blass und zerbrechlich wirkte. Sie litt mit Lina und wollte ihr über den Schmerz hinweghelfen, ihr etwas geben, an das sie glauben konnte, etwas, das ihren Schmerz ein wenig erträglicher machen würde.
Angel.
Das Wort kam ihr so plötzlich in den Sinn, dass sie sich aufrichtete und sich umschaute. Sie glaubte verrückterweise, Francis' Stimme gehört zu haben. Dann wurde ihr klar, dass es nur ihr Unterbewusstsein gewesen war, und sie ließ wieder die Schultern hängen und starrte auf die See, die unter ihnen schäumte.
Der Gedanke kam wieder. Gib ihr einen Vater. Das war es, was Francis gesagt haben würde.
Sie wandte sich Lina zu, starrte sie so lange und eindringlich an, bis Lina sich schließlich zu ihr drehte.
»Was ist, Mom?«
Madelaine befeuchtete die Lippen und schmeckte Regenwasser. Sie spürte ein Flattern in der Brust und wusste, dass es Angst war. Das Einfachste wäre jetzt, sich abzuwenden, zu lachen und zu sagen, es sei nichts. Aber seit Francis' Tod hatte sie begriffen, wie zerbrechlich Leben war, dass falsche Entscheidungen zuweilen dauerhafte Folgen haben konnten. Dass man die Worte bedauerte, die man nicht gesagt hatte ...
Es war an der Zeit für sie, nicht mehr der Fußabtreter zu sein, zu dem ihr Vater sie erzogen hatte. Sie musste endlich kämpfen, für sich, für Lina, für sie alle. Vielleicht würde Lina mit Angel davonlaufen, vielleicht würde Angel ihrer Tochter das Herz brechen... Es gab unendlich viele Möglichkeiten und alles konnte falsch laufen.
Aber sie hatte jahrelang nichts unternommen und die Dinge waren trotzdem verkehrt gelaufen.
Sie versuchte zu überlegen, wie sie es am besten sagen sollte, doch am Ende fand sie keine vorsichtige Formulierung, keine Umschreibung, keine Einleitung für etwas wie dies. Es gab nur die Wahrheit und sie wusste, dass diese Lina wie ein Schlag treffen würde. »Ich habe mit deinem Vater gesprochen.« »Ja, richtig.«
Madelaine schluckte schwer. »Das habe ich.«
Lina hob sehr langsam den Kopf und schaute ihre Mutter benommen an.
Madelaine wartete darauf, dass Lina etwas sagte, aber das Schweigen zwischen ihnen vertiefte sich. Schließlich sagte Madelaine: »Er ist im Augenblick sehr krank und kann dich nicht sehen, aber bald ...«
»Du meinst, er will mich nicht sehen.« Lina wich zurück und sprang auf. »Ja, ich wette, ihm geht's hundeelend, seit er erfahren hat, dass er eine Tochter hat. Ich glaube dir nicht«, zischte sie und schüttelte den Kopf.
Madelaine rappelte sich auf und griff nach ihrer Tochter. »Lina ...«
Lina schlug ihre Hand beiseite. »Fass mich nicht an. Ich kann dir nicht glauben, Mom. Ich sitze hier draußen im Regen, nach Francis' Beerdigung, und du erzählst mir - endlich -, dass du mit meinem Vater gesprochen hast...« Sie lachte, aber das Lachen war schrill und hysterisch. »Heute also - beute -erfahre ich, dass ich einen Vater habe, dem ich aber völlig egal bin und der mich nicht sehen will. Perfekter Zeitpunkt, Mom.«
»Baby, bitte...«
Linas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kann nicht glauben, dass du dachtest, dass ich mich dadurch besser fühlen würde.«
»Lina, bitte...«
»Tu mir nur einen Gefallen, Mom. Versuche nicht mehr, mich aufzuheitern, ja?« Sie warf Madelaine einen letzten, verletzten Blick zu, wirbelte herum und rannte über die Planken des Docks davon.
Madelaine stand da und schaute ihr hilflos nach. Niedergeschlagen bückte sie sich und ergriff ihre Handtasche, ging dann langsam über den Kai, den Hügel hoch und zu dem Wagen.
Als sie einstieg, sah sie Lina an, die an das Fenster gepresst saß, die Arme rebellisch verschränkt, die Augen fest zugekniffen. Sie dachte über ein Dutzend Dinge nach, die sie gerade jetzt vielleicht sagen könnte, aber sie alle erschienen ihr banal und dumm angesichts ihrer offensichtlichen Fehleinschätzung. Schließlich sagte sie das Einzige, was Sinn machte. »Es tut mir Leid, Lina. Ich denke, ich hätte dir das nicht sagen sollen. Ich habe nicht klar denken können...« Ihre Worte schwanden in dem Schweigen und blieben unbeantwortet. Ihr fiel nichts ein, was sie hätte hinzufügen können, und so ließ sie den Motor an.
Schweigend fuhren sie heim.
Es tut mir Leid, hatte sie gesagt.
Nach diesem Wochenende hätte sie wissen sollen, wie bedeutungslos diese wenigen Worte waren, wie sie in einen Ozean von Schmerz fielen und nicht einmal ein Kräuseln im Wasser hinterließen.
Angel erwachte langsam, lauschte dem Klang ihrer Stimme. Es dauerte eine Sekunde, bis er klar sehen konnte. Sie las ihm vor - Anne Rice' Geschichte des Körperdiebes, wenn er sich nicht irrte.
Er öffnete weit seine Augen. »Eine ziemlich makabre Wahl«, sagte er und grinste schwach. »Ich hoffe, du willst mir nicht auf diese Art beibringen, dass ich künftig Blut trinken muss.«
Er wusste, dass sie unter der Maske lächelte. »Tut mir Leid, aber das ist das, was ich im Augenblick lese. Ich dachte, du würdest gerne etwas hören ...« Sie zuckte die Achseln und stieß ein kleines, schrilles Lachen aus. »Ich hatte nicht über das Thema nachgedacht. Ist ziemlich krank. Da hast du Recht. Ich dachte nur, dass du dich vielleicht weniger einsam fühlst, wenn du die Stimme von jemand hörst.«
»Du plapperst, Mad.«
Sie lachte wieder und schloss das Buch. »Das tue ich.«
»Gewöhnlich plapperst du nur, wenn du nervös bist. Was ist passiert - hat das Herz dieser erstaunlichen toten Person aufgehört zu schlagen, während ich schlief?«
»Nein«, sagte sie ruhig und er konnte sehen, dass jeder Funke von Humor aus ihren Augen verschwunden war. Sie schaute ihn nun mit einer aufkommenden Traurigkeit an. »Es ist jetzt dein Herz, Angel.«
Er spürte eine Welle von Bitterkeit in sich. Er dachte an sein Herz, das Herz des Spenders, und er spürte es dort schlagen, in seiner Brust, schlagen und schlagen und schlagen. Er überlegte, und dabei wurde ihm seltsam zumute, ob es weiterschlagen würde, wenn sein Körper gestorben war. Er hatte kurz das verrückte Bild vor Augen, dass er in einem Sarg lag, sein Körper mausetot und leichenblass, aber das Herz klopfte munter weiter. Dieses Ding war jetzt seit drei Tagen in ihm, aber es fühlte sich mit jeder Sekunde fremdartiger an. »Ja, sag das dem toten Burschen. Er glaubte, es sei seins.«
Er hob den Kopf vom Kissen, und das kostete ihn unglaubliche Anstrengung. »Wie konntest du zulassen, dass man das mit mir macht, Mad?«
»Wir haben dein Leben gerettet«, sagte sie leise.
»Sieh mich nicht so an«, zischte er und hasste sie in diesem Augenblick, hasste alles und jeden, von Gott angefangen. »Du hast nicht mein Leben gerettet, du hast mein Sterben verlängert. Sieh mich doch an, um Himmels willen. Ich sehe wie ein verdammter Kürbiskopf auf einer Stange aus - oder hast du nicht bemerkt, dass ich zehn Pfund abgenommen habe und mein Kopf die Größe einer Wassermelone hat? Und was ist mit dem armen Kerl, der mir sein Herz gespendet hat? Gespendet.« Er lachte bissig über die Ironie. »Bei dir klingt das so, als habe er den Hungernden einen Teller Suppe gegeben. Aber es war sein Herz, verdammt, sein Herz. Glaubst du, es hätte ihm Freude gemacht, eure schmutzigen Hände in seiner Brust zu haben, sie aufzuschneiden, sein Herz herauszureißen, wie ihr meins rausgerissen habt?«
Sie saß sehr still da, als beherrschte sie ihre eigene Wut mit großer Willenskraft. »Du hast eine zweite Lebenschance bekommen. Darauf solltest du dich jetzt konzentrieren.«
»Und wenn ich das nicht will?«
»Wie kannst du es wagen? Jemand starb, um dir diese Chance zu geben. Wenn du sie vertust, Angel DeMarco, dann schwöre ich bei Gott...« Sie schwieg plötzlich, als ob sie zu viel gesagt hätte. Schwer atmend, wandte sie den Blick von seinem Gesicht ab und starrte an die Wand.
Er fühlte sich plötzlich müde, so müde. Alle Streitlust blutete aus seinem Körper und sammelte sich in diesem verdammten Behälter am Fußende des Bettes. Er strich sich das Haar aus den Augen und spürte wieder, wie geschwollen seine Wangen waren. Er war verdammt froh, dass er keinen Spiegel hatte. »Gott, ihr habt mich zu einem Modell für ein Schlankheitsmittel gemacht - vor Beginn der Kur.«
»Es ist das Prednison. Die Schwellung wird abklingen.«
Er sah sie an. »Es tut mir Leid, Mad.« Er dachte krampfhaft darüber nach, was er sagen könnte. »Ich habe letzte Nacht von Francis geträumt.«
Sie ließ sich langsam wieder auf den Stuhl zurücksinken. Er bemerkte, dass ihre Hände zitterten, bevor sie sie in den Schoß legte. »Wirklich?«, flüsterte sie. »Was geschah?«
»In dem Traum?« Er versuchte sich zu erinnern. »Ich träumte, mir sei kalt. Es war einer dieser Träume, in denen man glaubt, man sei wach. Ich dachte, ich erwachte und sah, dass alle Decken um meine Knöchel lagen. Ich beugte mich vor, um sie hochzuziehen, und als ich sie zurückgezogen hatte, warf ich einen Blick hinüber zu der Beobachtungstür, und da war Francis. Er stand einfach dort und lächelte.«
»Wie sah er aus?«
»Das war das Verrückte. Er war völlig nass, als ob er in einem Platzregen gestanden hätte. Er berührte das Glas, als ob er hindurchgehen wollte, konnte es aber nicht. Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf. >Hallo, Angel<, sagte er. Dann lächelte er - du weißt, welches Lächeln ich meine. Dieses Lächeln, bei dem sein ganzes Gesicht nur noch aus Fältchen besteht und seine Augen fast zu Schlitzen werden.« Er zuckte die Achseln. »Dann war er verschwunden.«
Madelaines Augen füllten sich mit Tränen.
»Was ist, Mad?«
Sie starrte auf ihre Hände, die sie fest verschlungen im Schoß hielt. Sie sah unglaublich zerbrechlich und blass aus. »Francis fuhr letzte Woche nach Portland.«
»Ja, ich weiß.«
Sie riss den Kopf mit einem Ruck hoch. »Das weißt du?«
»Er kam hier vorbei, bevor er aufbrach.«
Madelaine warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Er hat mir nicht gesagt, dass er dich besucht hat.« Sie hielt inne und er hatte den Eindruck, als ob sie unter der Maske die Stirn runzelte.
»Ich bin sicher, dass er dir nicht alles erzählt.«
Sie schluckte schwer. »Ich wollte dir das noch nicht erzählen, wegen deines Herzens ...« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Deines kostbaren Herzens.«
Er hatte plötzlich ein kaltes, unheimliches Gefühl in seinem Bauch. »Was ist?«
»Francis hatte in der Nähe von Portland einen Autounfall.«
Die Kälte breitete sich aus, erfüllte ihn immer mehr. »Ja?«
Sie hielt seinem Blick stand und er sah die Antwort in ihren Augen. »Es tut mir Leid, Angel. Er hat es nicht geschafft. Er war nicht angeschnallt.« Sie sah aus, als ob sie mehr sagen wollte, tat es aber nicht. Sie saß einfach nur da und starrte ihn an. Langsam rollten Tränen über ihre Wangen und sammelten sich auf dem blassen Grün ihrer Maske.
Nein.
Francis konnte nicht tot sein, nicht Francis mit den lachenden Augen und dem schrecklichen Glauben, der nie im Leben jemand etwas zu Leide getan hatte.
»Du lügst«, zischte er und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wahr.«
Aber er sah in ihren Augen, dass es wahr war.
»O Gott«, flüsterte er und wartete darauf, dass sein gebrauchtes Herz aufhörte zu schlagen. Das Leid war ein großer, zermalmender Schmerz in seiner Brust, erfüllte seine Kehle, brannte in seinen Augen. »Verdammt, wer trägt denn in den neunziger Jahren keinen Sicherheitsgurt?« Er widmete sich dem Ärger statt dem Schmerz, der mit jedem Atemzug, den er einsog, wuchs. »Und was, zum Teufel, hat er überhaupt in Portland gemacht? Er ist ein Priester, kein Reisevertreter. Er konnte nie richtig Auto fahren. Ich erinnere mich noch, als wir Kinder waren...«
Nein, dachte er verzweifelt, denk jetzt nicht daran. O Gott, denk an überhaupt nichts. Aber er konnte nicht anders. Er erinnerte sich mit plötzlicher Klarheit an alles, an den Tag, als Francis ihm das Autofahren beigebracht hatte. Wie sie auf dem Parkplatz der Schule wieder und wieder im Kreis gefahren waren, dass der alte Impala ihrer Mutter geruckt und gestottert und der Motor jedes Mal abgewürgt worden war, wenn sie geschaltet hatten ... wie sie gelacht und geflucht und dann wieder gelacht hatten ...
»Nicht Franco«, flüsterte er und sah Mad an. »Ich hätte es sein müssen.«
Die Traurigkeit in ihren Augen bewirkte, dass er selbst zu weinen begann. »Ich wünschte, ich könnte es ändern, Angel.«
»Hat er... hat er gelitten?« Er hasste die Frage im selben Augenblick, als er sie stellte - sie war so gewöhnlich und sinnlos -, aber er brauchte eine Antwort.
Ihr Blick wich ihm aus. »Die Ärzte am Unfallort sagten, er sei auf der Stelle tot gewesen. Sie konnten nichts mehr tun.«
Sie saßen da, weinten Seite an Seite über Stunden, wie es schien. Angel weinte um so viele Dinge - über all die Male, die er Francis nicht angerufen hatte, all die Weihnachtskarten, die er nie abgeschickt hatte. Was hatte er geglaubt - dass sie alle ewig leben würden?
»Gott, Mad«, sagte er mit brüchiger Stimme, »ich habe ihm nicht gesagt...« Seine Worte verloren sich. Es gab so vieles, das er nicht gesagt hatte. So viele Fehler und ungenutzte Chancen und Egoismus. Gott, so viel Egoismus.
»Er wusste, dass du ihn liebtest, Angel. Das hat er immer gewusst.«
Das Wissen drang in ihn ein, drückte ihn nieder. Er wollte, dass es half - wünschte, dass es half -, aber es half nicht. Es trug nur dazu bei, dass es noch mehr schmerzte, dieses Wissen, dass Francis ihn immer geliebt hatte. »Er starb auf dem Weg nach Portland.« Er versuchte, das zu begreifen. »Das muss nur wenige Stunden, nachdem ich ihn gesehen hatte, gewesen sein. Gott, wie konnte ich nicht gewusst haben, dass er schon die ganze Zeit tot war?«
Madelaine blickte wieder beiseite, starrte auf die Uhr an der Wand, sah ihn dann langsam an. »Auf dem Weg nach Portland«, sagte sie langsam. »Ja. Ja.«
»Warum hast du die ganze Zeit gewartet, mir das nicht gesagt?«
»Dein Herz war zu schwach.«
Er wollte darauf etwas Gemeines und Bitteres sagen, etwas über des toten Mannes Herz in seiner Brust, aber er konnte es nicht. »Gott, er ist über eine Woche tot und ich weiß nichts davon. Hast du ihn auch beerdigt, ohne es mir zu sagen?«
»Seine Gemeinde wollte eine große katholische Beerdigung. Ich habe es dir nicht erzählt, weil du aus der Quarantäne nicht hinaus konntest, und sie konnten nicht länger warten. Wir können einen stillen Gedächtnisgottesdienst im Familienkreis feiern, wenn du dich besser fühlst.«
Er schloss seine Augen und stellte sich irgendeine Kirche vor, gefüllt mit Blumen, und einen langen, hölzernen Gang, der zu dem glänzenden Sarg auf dem Altar führte. Genau wie Pops Beerdigung, nur dass dieses Mal nicht der Leichnam eines alten Mannes auf dem bauschigen weißen Satin lag. Es wäre Francis - Francis, der tot in einer Holzkiste lag ...
Mit Blumen drapiert - die Särge wurden immer mit Blumen drapiert, als ob die Schönheit draußen ändern könnte, was darinnen lag. Die Kirche würde von dem schweren süßen Duft der Lilien erfüllt sein und sie würden diese verdammt schreckliche Musik spielen, dazu komponiert, einen zum Weinen zu bringen.
»Nein«, sagte er und spürte, dass die Tränen in seiner Kehle versiegten. »So will ich Francis nicht in Erinnerung behalten. Ich werde ihm auf meine Art Lebewohl sagen, wenn ich hier rauskomme.«
Sie schwiegen wieder und starrten einander an. Angel versuchte, nicht an Francis zu denken, konnte aber nicht damit aufhören. »Es ist komisch, Mad ...« Er war überrascht, dass er laut sprach. Er hatte das nicht gewollt. Aber sie war der einzige Mensch auf der Welt, mit dem er sprechen konnte, der einzige Mensch, der Angel und Francis und die alten Zeiten kannte. »Selbst in all diesen Jahren, die ich fort war, wusste ich immer, dass Francis da draußen war. Jedes Mal, wenn ich mein Bild auf einer Illustrierten oder einem Filmplakat sah, habe ich an Francis gedacht. Ich wusste, dass er mich sehen und lächeln und den Kopf schütteln würde. Ich wusste, dass er auf meinen Anruf wartete, und ich habe so oft den Hörer abgenommen, aber aus irgendwelchen Gründen nie gewählt. Und als er an jenem Tag kam und mich besuchte, da gab es so viele Dinge, die ich ihm sagen wollte, aber es war wieder das Übliche, hier der heilige Francis und da der verrückte Angel, und die Worte wurden nie gesagt.« Er sah sie an und wünschte sich, sie könnte ihm Absolution für seine Sünden erteilen. Aber es war sein Bruder, den er darum hätte bitten sollen, und jetzt war es zu spät. »Ich denke, ich glaubte, dass wir beide unsterblich seien.«
Das Lächeln, das ihre Augen erreichte, war traurig. »Ich weiß, was du meinst. Ich ... habe Francis' Gefühle verletzt, bevor er fuhr. Ich tat das so leichthin, so gedankenlos, und als mir bewusst wurde, was ich getan hatte, dachte ich, ich könnte das mit der gleichen Leichtigkeit wieder gutmachen ...«
Er sah ihren Schmerz und das gab ihm unerwartete Kraft. »Er liebte dich, Mad. Er liebte dich von dem ersten Augenblick an, als er dich in dem Krankenhauszimmer sah.«
»Du erinnerst dich an den Tag?«
Er antwortete nicht, wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte allen Grund anzunehmen, dass er das vergessen hatte. Einst hatte er geglaubt, es sei so, aber jetzt wusste er, dass die Erinnerungen an sie noch in ihm waren, beschützt und behütet in all diesen Jahren. Er schaute sie so lange an, dass er spürte, wie seine Tränen wiederkamen. Er wollte seine Arme öffnen, sie so dicht an sich ziehen, dass sie voneinander nehmen, einander geben konnten, so dass sich keiner von ihnen allein fühlte.
Aber er hatte Angst, dass er verloren sein würde, wenn er sie jetzt berührte, wenn er jetzt seine Arme um sie schlang und ihre Tränen auf seinen Hals tropfen spürte.
»Was sollen wir tun, Mad?«, flüsterte er.
Sie verschränkte ihre Arme und starrte ihn an. Tränen glitzerten auf ihren Wangen. »Wir werden versuchen, ohne ihn zu leben.«
Madelaine stand vor dem Pfarrhaus. Sie trug eine große, leere Schachtel. Links von ihr funkelte die große Ziegelkirche, reflektierte Licht, aber das kleine, nussbraune Haus war dunkel und sah verlassen aus. Helle orangefarbene und goldene Erntedankdekorationen - zweifellos von der Klasse der Sonntagsschule angefertigt - schmückten die Fenster. Die Heiligen Drei Könige und Füllhörner und Truthähne.
Sie dachte an die Dutzende von Kindern, die über winzige Tische gebeugt ausgeschnitten und geklebt und gemalt hatten. Francis war so stolz gewesen, als er ihre Kreationen an sein Schlafzimmerfenster geklebt hatte ...
Kummer überkam sie wieder, eine Welle folgte auf die andere und die nächste, so dass sie zitterte und fröstelte. Sie schien sich nicht bewegen zu können. Sie stand einfach da, sah Hunderte von Momenten vor ihren Augen vorbeiziehen, Dutzende Male, die sie diesen Weg hochgegangen war, die Arme voll Pizza oder Blumen oder Champagner. Wie damals, als sie ihr erstes Examen in Biochemie gemacht hatte ... oder an dem Tag, als Francis zum ersten Mal die Beichte abgenommen hatte ... Linas Taufe ... Madelaines letzter Geburtstag ...
Sie erschauerte und zwang sich, an andere Dinge zu denken - an Lina und Angel und die Tage, die vor ihr lagen.
Madelaine konnte nicht so weitermachen wie bisher. Eine Woche war seit Francis' Tod vergangen und seitdem war sie durch einen Nebel gewankt, hatte nur gesprochen, wenn sie angesprochen wurde, und selbst dann nicht immer. Sie wusste, dass Lina sie brauchte, sie verzweifelt brauchte, aber Madelaine fühlte sich, als habe sie nichts in sich, nur ein klaffendes Loch, wo Francis einmal gewesen war. Er war ihr Fels gewesen, ihre Rettungsleine - über die Hälfte ihres Lebens. Ohne ihn fühlte sie sich verloren.
Sie atmete tief ein und hob das Kinn. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, dies zu verdrängen, so zu tun, als müsse sie diesen Weg nicht hochgehen, diese Tür öffnen und seine Sachen zusammenpacken. Seine Haushälterin hatte sich um die Einrichtung gekümmert, aber Madelaine war gebeten worden, sich um seine persönliche Habe zu kümmern. Am liebsten hätte sie das auf ewig hinausgezögert, aber bald würde ein neuer Priester einziehen.
Sie ging zur Tür und öffnete sie weit, ließ einen Schwall von Sonnenlicht das Zwielicht durchschneiden. Die leere Schachtel fest umfassend, bewegte sie sich hölzern durch den Gemeinschaftsraum zu seinem Schlafzimmer.
Als sie seine Tür öffnete und das Licht einschaltete, überkamen die Erinnerungen sie so heftig, dass sie rückwärts schwankte. Die Schachtel entglitt ihren Fingern und fiel mit einem dumpfen Dröhnen auf den Boden.
Tränen nahmen ihr die Sicht. Mit einem winzigen, schluckenden Geräusch des Kummers bewegte sie sich wie betäubt in dem kleinen Schlafzimmer, berührte Dinge - Fotos, Bücher, die Lieblingsbaseballmütze, die er samstags trug. Der Rosenkranz lag ordentlich auf seiner Bibel.
Sie sah ein Bild auf der Kommode und ergriff es, ließ ihre Finger über die kalte Oberfläche des Glases gleiten. Es zeigte sie und Francis an dem Tag, an dem sie Lina aus dem Krankenhaus heimgebracht hatten. Sie lächelten, aber in ihren Augen war solche Sorge, solche erwachsenen Ängste in diesen Gesichtern Heranwachsender...
He, Maddy-Mädchen, du bist auf der falschen Seite der Stadt.
»Oh, Francis ...« Sie zog sein Kissen vom Bett und glättete die zerknitterte Baumwolle mit den Händen. Die Star Wars-Laken, die sie ihm letzte Weihnacht aus Jux geschenkt hatte.
Sie hatte Angel gesagt, dass sie lernen müssten, ohne Francis zu leben - aber wie sollte sie das tun? Wie konnte man ohne den Sonnenschein auf dem Gesicht leben?
Die Tränen kamen wieder; brennend und heiß, und sie ergab sich ihnen. Sie sank langsam auf ihre Knie und schluchzte in das Kissen, das nach ihrem besten Freund auf der Welt roch.