Kapitel 15
Gegen Mitternacht streckte Madelaine ihre Beine und erhob sich von der Couch. Der Nachspann lief über den schwarzen Bildschirm ihres Fernsehgerätes, begleitet von sentimentaler, romantischer Musik. Sie betupfte ihre Augen, verlegen selbst in der Privatsphäre ihres eigenen Wohnzimmers, weil sie bei einem so schlechten Film geweint hatte. Dagegen hatte sie nie etwas tun können. Es war äußerst eigenartig - sie hatte nicht geweint, als ihre Mutter gestorben war, ebenso wenig bei der Beerdigung ihres Vaters, aber sie brauchte nur einen guten Hallmark-Werbespot zu sehen, um wie ein Kind zu weinen.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand: Viertel nach zwölf.
Francis kam spät.
Das war natürlich nichts Neues. Er kam immer zu spät. Sie griff nach ihrer Tasse mit dem koffeinfreien Tee und nahm den letzten lauwarmen, zuckersüßen Schluck. Sie durchquerte das Zimmer, ging zur Haustür, öffnete sie und trat auf die Veranda. Sie schaltete die Deckenleuchte ein und stand dort in einer Pfütze von Licht.
Der Sturm tobte noch immer. Regen prasselte auf das welke Gras, sammelte sich in schmutzig braunen Pfützen in ihrem Blumenbeet, spritzte auf den Zugang zum Haus. Die Schaukel auf der Veranda quietschte und schwang völlig schief. Ein fernes Grollen von Donner hallte, gefolgt von einem Zucken weißen Blitzes.
Sie runzelte die Stirn und starrte durch das Dunkel auf die windgepeitschte Straße. Über ihr ächzte ein schwerer Ast. Pinienzapfen fielen in einem Wirbel geschwärzter Nadeln herab und hüpften auf dem Pflaster darunter.
Die Straßenlaternen flackerten und erloschen.
Madelaine seufzte. Es war der dritte Stromausfall in diesem Herbst. Sie drehte sich um, kehrte ins Haus zurück und schloss die Tür. Sie tastete sich durch die Dunkelheit, ging in die Küche und öffnete die Schublade, in der sich das Werkzeug befand. Sie kramte darin, bis sie die Taschenlampe zu fassen bekam. Sie schaltete sie ein und richtete den kräftigen weißen Lichtstrahl auf das Wohnzimmer. Sie nahm eine Schachtel Streichhölzer, stellte Kerzen als Notbeleuchtung auf den Kaffeetisch und die Beistelltische und entzündete sie.
Als sie damit fertig war, war es Viertel vor eins.
Sie spürte das erste prickelnde Gefühl von Ängstlichkeit, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. Eine Kerze ergreifend, ging sie zum Fenster hinüber und starrte hinaus, suchte in der pechschwarzen Nacht nach einem Zwillingsscheinwerferpaar.
Komm schon, Francis.
Um halb zwei war ihre Furcht so groß geworden, dass sie körperlich spürbar war. Sie überlegte, ob sie in dem Hotel in Oregon anrufen solle, wusste aber, dass das nichts nützen würde. Alles, was man ihr sagen würde, war, dass Francis gegen acht Uhr abgereist sei - genau das, was er ihr selbst gesagt hatte.
Er sollte inzwischen längst hier sein.
Beruhige dich. Sie atmete tief ein und ging zum Bücherschrank, nahm ihren Straßenatlas heraus und schlug in dem schweren Band die Karten von Oregon und Washington auf. Sie fand die winzige Stadt am Fuße des Mount Hood und vermutete das Hotel in dessen unmittelbarer Umgebung. Dann zählte sie sehr methodisch die roten Entfernungsangaben bis Portland.
Wahrscheinlich eine Stunde und fünfzehn Minuten Fahrzeit. Vielleicht sogar anderthalb Stunden.
Und von Portland bis Seattle könnte man bei diesem Wetter dreieinhalb Stunden brauchen. Insgesamt also fünf Stunden.
Sie lächelte fast. Ihrer Berechnung nach müsste Francis jede Minute in die Auffahrt einbiegen - vorausgesetzt, dass er pünktlich losgefahren war. Was er, wie sie sehr wohl wusste, nicht getan hatte. Wie gewöhnlich würde er willkürlich die Dauer der Fahrzeit ausgerechnet und ihr einfach eine Uhrzeit genannt haben.
Sie fühlte sich besser, kroch zurück auf die Couch und zog die Decke über sich, kuschelte sich in sie. Ihr Kopf sank auf das Kissen und sie schloss die Augen.
Sie erwachte dadurch, dass es wieder Strom gab. Geräusche plärrten aus dem Fernseher. Licht drang in ihre verschlafenen Augen. Sie blinzelte heftig und richtete sich auf, starrte verdutzt auf den Fernseher. Ein Fernsehmissionar bat mit einer dröhnenden, autoritären Stimme um Spenden. Gott will, dass Sie tief in die Tasche greifen ...
Sie griff nach der Fernbedienung, um den Ton abzustellen. Stattdessen drückte sie auf die Lautstärketaste mit dem Ergebnis, dass die Stimme des Fernsehpredigers sie mit gebt, gebt dem Herrn anschrie. Sie zuckte zusammen, drückte einen anderen Knopf und ließ die Fernbedienung auf die Couch fallen. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Viertel vor drei.
»Francis«, flüsterte sie und sprang auf.
Sie rannte zur Haustür und riss sie auf. Der Sturm war einem sanft fallenden Regen gewichen. Mehrere Zedernäste lagen auf ihrem Rasen verstreut. Abfallende Blätter wehten am Zaun entlang. Die Auffahrt war leer.
»Mom?«
Sie wirbelte herum. Ihr Herz schlug so laut, dass sie es in ihren Ohren hören konnte. Sie sah Lina im Wohnzimmer stehen, eine Decke um ihre Schultern gelegt. »Hallo, Süße«, sagte sie mit bebender Stimme und schloss widerwillig die Tür. »Bist du durch den Fernseher geweckt worden? Tut mir Leid.«
Lina schüttelte den Kopf.
Madelaine bemerkte zum ersten Mal, wie blass Lina war. Sie ging durch den Raum zu ihr. »Baby, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Sprich nicht so mit mir.« Lina schlang die Decke fester um ihren Körper. »Ich hatte einen Alptraum... I... ist Francis schon da?«
Madelaine verbarg ihre Furcht hinter einem raschen, strahlenden Lächeln. »Nein, noch nicht, aber du kennst ja Francis ...«
Das Telefon klingelte.
Madelaine und Lina schauten gleichzeitig zum Telefon, sahen sich dann an. Sie teilten einen einzigen verzweifelten Gedanken: O Gott, kein Anruf mitten in der Nacht.
Lina machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Geh nicht ran, Mom.«
Madelaine stand da, war unfähig, sich zu bewegen. Ihr Magen verkrampfte sich. Das Telefon schrillte wieder. Sie sprang zu dem Apparat, nahm den Hörer mit zitternden Händen ab und hob ihn an das Ohr. »H... hallo?«
»Könnte ich bitte Madelaine Hillyard sprechen?«
Sie erkannte die Stimme sofort - aus ihr sprach kalte, unpersönliche Autorität. »Am Apparat.« »Ma'am, hier spricht Officer Jim Braxton von der Oregon Highway Patrol.«
Sie presste ihre Augen zu. »Ja.« Ihre Stimme war ein dünnes, zitterndes Flüstern.
»Kennen Sie einen Francis Xavier DeMarco?«
Sie atmete heftig ein. »Ja.«
»Ihr Name und Ihre Telefonnummer waren in seiner Brieftasche. Sie sind als die Person aufgeführt, die bei einem Notfall zu verständigen ist.«
Eine Erinnerung an das letzte Weihnachtsfest durchzuckte ihr Gehirn - als Francis die Brieftasche geöffnet hatte, die sie ihm geschenkt hatte, und ihren Namen auf das gelbe kleine Stück Papier geschrieben hatte, das in dem Schlitz für eine Kreditkarte steckte. »Ja«, war alles, was sie sagte. Ihr Herz schlug so laut, dass sie kaum etwas verstehen konnte.
»Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es einen Unfall gegeben hat.«
Sie wankte und sank langsam auf die Couch. »Lebt er?«
»Oh, mein Gott«, sagte Lina.
»Er ist ins Claremont Hospital nach Portland gebracht worden. Ich kann Ihnen die Nummer geben.«
Sie spürte ein wenig Hoffnung. »Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht? Das bedeutet, er lebt.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. »Er lebte, als der Krankenwagen am Unfallort eintraf, Ma'am. Das ist alles, was ich weiß.«
Sie konnte sich nicht einmal bedanken. Er gab ihr die Nummer des Krankenhauses und sie schrieb sie benommen auf. Dann wählte sie die Nummer und ließ sich mit der Notaufnahme verbinden.
Ja, sie hatten einen Francis DeMarco. Ja, er lebte noch, aber sein Zustand war ausgesprochen kritisch. Es hatte einen Unfall gegeben ... Ob sie eine Verwandte sei? Nein?
Dann könne man ihr leider keine weiteren Informationen geben. Mr DeMarco sei im Augenblick im Operationssaal und ob der behandelnde Arzt sie anrufen könne, wenn er fertig sei?
Madelaine murmelte etwas von »sie würde da sein« und knallte den Hörer auf die Gabel.
Sie wandte sich an Lina, die noch immer an derselben Stelle stand. Ihr Gesicht war jetzt blass, ihre Augen mit Tränen gefüllt. »Er ist tot«, sagte sie dumpf.
»Nein. Er lebt. Er ist im OP.«
Lina begann zu weinen. »Oh, Mom ...«
Madelaine stand auf und blieb stehen. Sie zitterte. Sie atmete tief und gleichmäßig ein. Jetzt war keine Zeit für diese Panik, diese Furcht. Die Fassung verlieren konnte sie später, aber jetzt brauchte Francis sie. Lina brauchte sie.
Sie ging damit auf die einzige Art um, die sie kannte - mit nüchterner Sachlichkeit. Sie zog den unsichtbaren weißen Mantel an und wurde Dr. Hillyard, die mit diesen Krisen tagtäglich fertig zu werden hatte.
Sie ging zu Lina und nahm ihre Tochter in die Arme, hielt sie ganz fest. Sie spürte, dass Lina endlich ihre Arme um sie schlang, spürte das Zittern von Linas Körper an ihrem, spürte die Feuchtigkeit von Linas Tränen an ihrem Hals. »Schh«, flüsterte sie und streichelte Linas feuchte Wange.
»Wir müssen jetzt stark sein, um Francis' willen. Für das, was wir fühlen, ist jetzt keine Zeit. Zieh dich an und pack das Notwendigste zusammen. Ich werde die Fluggesellschaft anrufen.«
Lina schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Madelaine fasste ihre Tochter bei den Schultern. »Du kannst. Du musst.« Ihre Stimme wurde ein wenig weicher. So viel gestattete sie sich. »Er ist im Operationssaal, Lina. Das bedeutet, dass er noch lebt. Er braucht uns.«
Lina blickte zu ihr auf. Ihr Mund zitterte. »Wir brauchen ihn auch, Mom.«
Die wenigen kurzen Worte schmerzten so sehr, dass Madelaine spürte, wie ihr die Tränen kamen. »Ja.« Sie sagte das Wort nicht mit ihrer normalen Stimme. Sie flüsterte es. Aber es dröhnte in der Stille wie ein Schrei.
Die Fahrt zum Flughafen und der Flug nach Portland schienen eine Ewigkeit zu dauern.
Madelaine starrte aus dem kleinen, ovalen Fenster des Flugzeugs und sah ihre eigenen aschgrauen Gesichtszüge in dem Plexiglas. Ihre Augen schienen schwarze Löcher zu sein, eingebrannt in fleischfarbenen Kunststoff. Ihr Mund war ein farbloses Geschmiere.
Schließlich begann das Flugzeug mit dem Sinkflug, der ihre Ohren verschloss. Madelaine wandte sich an Lina und sah die Blässe auf der Wange ihrer Tochter, das hilflose Zittern ihrer Unterlippe.
Es drängte sie zu sagen, dass mit Francis alles in Ordnung sei, aber sie konnte ein solches Versprechen nicht geben. Die Ärztin in ihr war zu dominant und siegte über die Mutter, die bedingungslose Hoffnung anbieten wollte.
»Starr mich nicht an, Mom.« Lina blinzelte nicht und drehte sich auch nicht zu ihr, sondern starrte einfach stur geradeaus auf den burgunderrot gepolsterten Sitz vor sich. Eine Träne quoll zwischen ihren Lidern hervor und rollte über eine farblose Wange, fiel auf den Sicherheitsgurt aus Nylon.
Madelaine streckte zaghaft eine Hand aus und bedeckte Linas kalte Hand mit ihrer eigenen.
Lina sagte leise: »Ich glaube, er ist tot.«
»Nein.« Madelaine antwortete schnell. »Er ist im Operationssaal. Wenn er tot wäre ...« Sie konnte nicht weiterreden, konnte nicht daran denken. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Wenn er tot wäre, würde ich es fühlen.«
Daraufhin wandte Lina sich zu ihr, die Augen vor Hoffnung geweitet. »Was meinst du damit?«
Madelaine verschränkte ihre Finger mit denen Linas und hielt ihre Hand fest, bis das Fleisch wieder warm wurde. Sie drehte sich leicht in ihrem Sitz, so dass sie den Kopf anlehnen konnte. »Ich war sechzehn, als ich Francis kennen lernte.« Sie schloss die Augen und dachte an Dutzende Augenblicke auf einmal. Sie sah ihn an jenem Tag, als er zur Praxis des Arztes gekommen war, um sie zu retten - die Kavallerie in Gestalt eines Bücher verschlingenden, blauäugigen Achtzehnjährigen mit einem Herzen so groß wie die ganze freie Natur. Sie hatte neben dem öffentlichen Telefon gekauert, war jedes Mal nervös zusammengezuckt, wenn die Tür sich öffnete, sicher, dass Alex jede Sekunde hereingedonnert käme. Aber es war nur Francis gewesen, der zu ihr gekommen war, seine Arme nach ihr ausgestreckt und ihre Hand genommen hatte. Maddy-Mädchen, du bist auf der falschen Seite der Stadt.
Hilf mir, hatte sie geflüstert und Tränen waren ihr über die Wangen gelaufen. Und dann seine Antwort, ein Wort nur, so einfach, so schnell. Immer.
Madelaine versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Ich wüsste es, wenn er tot wäre. Ich würde es fühlen ...«
»Was?«, wollte Lina wissen.
»Nichts.« Sie bedeckte ihr Herz mit einer Hand, spürte den pochenden Puls ihres eigenen Lebens. »Hier drin, da wäre ich leer.« Ihre Stimme krächzte, als die Bilder zurückkehrten -Francis lächelnd, lachend, ihre Hand haltend, ihre Tränen trocknend, sie sein Maddy-Mädchen nennend. »Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn atmen könnte ... und ich atme.«
Madelaine schwieg, verloren in der Welt ihrer Erinnerungen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass Lina ebenfalls schwieg, dass Tränen, eine nach der anderen, über ihre Wangen rollten.
Madelaine berührte das Kinn ihrer Tochter. »Oh, Baby...«
Lina schluckte schwer, starrte aus dem Fenster hinter Madelaine. »Ich habe ihn angeschrien«, sagte sie mit leiser, gequälter Stimme. »Als ich ihn das letzte Mal sah ...«
»Tu das nicht«, sagte Madelaine eilig.
Lina schloss fest die Augen. »Ich habe ihn verletzt.«
»Er sagte mir, er habe dich hängen lassen. Er wollte zum Jugendgericht kommen, um dich abzuholen ...« Kummer schloss sich so schmerzhaft um ihre Brust, dass sie kaum atmen konnte. »Er ... er hatte Angst, dass du ihm nicht verzeihen würdest.«
»Das habe ich«, flüsterte Lina. »Das habe ich.«
Madelaine schob das Gewicht ihrer Schuld fort und versuchte angestrengt, ihrer Tochter ein Lächeln zu schenken. »Sag ihm das selbst, wenn du ihn siehst.«
Madelaine war im Laufe ihres Berufslebens tausendmal in Wartezimmern von Krankenhäusern gewesen, hatte aber nie wirklich zur Kenntnis genommen, wie diese waren. Wie die unverbindlichen Wände sich um einen schlössen, dass die Plastikstühle Rückenschmerzen auslösten. Wie nutzlos Illustrierte waren. Ja, sogar beleidigend. Was wurde von ihr jetzt erwartet - dass sie etwas über den heldenhaften Kampf einer berühmten Persönlichkeit gegen seine Kokainsucht las?
Sie ging vor dem kleinen Fenster auf und ab, von dem aus man auf den Parkplatz schauen konnte.
Lina saß steif auf einem Stuhl neben dem Münztelefon. Keine von ihnen hatte in den dreißig Minuten, die sie jetzt hier waren, gesprochen. Man hatte ihnen gesagt, dass Francis noch immer im Operationssaal sei und dass ein Dr. Nusbaum mit ihnen sprechen würde, wenn die Operation vorbei wäre.
Madelaine hatte in den OP eilen wollen, wusste aber, dass sie nichts tun konnte. Die beste Hilfe, die sie anzubieten hatte, war, seine Hand zu halten, wenn es vorbei war.
Sie drehte sich um und warf wieder einen Blick auf die große schwarze Bahnhofsuhr an der Wand. Weitere sechzig Sekunden einer Ewigkeit tickten vorbei.
Schließlich trat ein großer, weißhaariger Mann in grünem Operationskittel in den winzigen Raum. Seine Gesichtsmaske hing lose um seinen Hals. Auf seiner Kleidung waren schwarzrote Blutspritzer. Sie schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, dass es das Blut von Francis war.
Der Mann fuhr sich mit einer Hand durch das lichte Haar und seufzte schwer. Er schaute von Madelaine zu Lina und wieder zurück zu Madelaine. »Sie sind Mrs DeMarco?«
Es war seltsam, wie sehr die Frage schmerzte. Sie schüttelte den Kopf, rang die Hände und bewegte sich auf ihn zu, ihren Blick starr auf sein Gesicht gerichtet, nach Antworten suchend und stumm um Hoffnung bittend. »Nein, ich bin Dr. Madelaine Hillyard - Herzspezialistin, St. Joe's«, fügte sie überflüssigerweise hinzu und überlegte, warum sie das gesagt hatte. »Dies ist meine Tochter, Lina. Wir sind Franciss ... Familie.«
»Es tut mir Leid, Dr. Hillyard ...«
Sie hörte sonst nichts mehr. Blut dröhnte in ihren Ohren und sie konnte nicht atmen. Für eine entsetzliche Sekunde glaubte sie, sich übergeben zu müssen, direkt hier, auf den Boden des Wartezimmers.
»Die Verletzung war zu schwer...«
Sie atmete lange und zitternd ein, ballte die Hände zu Fäusten. Sie spürte, wie ihre Nägel sich in das Fleisch gruben, die Haut zerfetzten, als sie um Fassung rang. Der Schmerz war ihr willkommen - er gab ihr etwas, worüber sie nachdenken konnte, wenngleich nur kurz. Was dann schließlich aus dem Durcheinander ihres Verstandes kam, was sie artikulierte, waren Fragen, sachliche, präzise, logische Fragen, die sich wie eine Schutzhülle um ihren weißen Kittel schlössen. »Ich muss seine Akte einsehen. Was ist passiert?«
»Hirnstammverletzung«, sagte er sanft, gerade so, als ob eine weichere Stimme einen Unterschied machte, wenn die Worte so kalt und hässlich waren. »Er ist durch die Windschutzscheibe seines Autos geschleudert worden und dann mit dem Kopf gegen einen Baum geprallt. Massive intrakranielle hämorrhagische Diathese. Wir haben ihn gerade auf die Intensivstation gebracht, aber...«
»Was?«, schrie Lina. »Heißt das, er lebt?« Sie sah Madelaine offensichtlich verwirrt an, schaute dann wieder zu dem Chirugen. »Sie sagten, es würde Ihnen Leid tun ...«
Nusbaum ließ sich bei der Wahl seiner Worte einen Augenblick Zeit. »Rein physisch lebt er - vermittels maximaler Intervention.«
»Maximale Intervention?«, sagte Lina. Ihre Stimme war schrill. »Was zum Teufel ist das?«
Nusbaum schaute betont Madelaine an. »Ich habe drei EEGs gemacht. Sie sind völlig flach ...« Er beendete den Satz nicht, aber Madelaine wusste, was das bedeutete. Drei flache EEGs und ein Patient wurde gesetzlich für hirntot erklärt.
»Es tut mir Leid«, sagte er wieder.
Sie starrte ihn ausdruckslos an, dachte an all die vielen Male, als sie den gleichen sinnlosen Satz zu Menschen gesagt hatte - Es tut mir Leid, Herr Soundso ... alles versucht... Verletzungen waren zu schwer. Ihr war nie bewusst geworden, wie spröde und untröstlich die Worte waren, wie sie einem ins Innerste drangen und alles darin umdrehten, an den Eingeweiden zerrten, bis man keine Kraft mehr hatte.
Ein entsetzlich vertrautes Bild ging ihr durch den Kopf. Sie sah Francis, ihren Francis, irgendwo in diesem höhienartigen Gebäude in einem Bett liegen, seinen Körper verbunden mit einem Dutzend Maschinen, seine Augen - seine warmen, liebevollen Augen - leer an die Decke starrend. Sie spürte tief in ihrem Inneren einen Schrei aufsteigen, immer gewaltiger werdend, von einer solchen Gewalt, dass er sie zu ersticken drohte.
»Was sagt er, Mom?«, fragte Lina.
Madelaine schaute ihre Tochter an und sah dort ein sechsjähriges Mädchen stehen, ein Mädchen mit zerzausten Zöpfen, über deren hellrosa Wangen Tränen rannen. Für einen Sekundenbruchteil schwand ihr eigenes Leid und sie konnte nur an ihr kleines Mädchen denken und daran, was diese Neuigkeiten bei ihr anrichteten, was jede Sekunde dieses Augenblicks für den Rest ihres Lebens bei ihr anrichten würde. Mit dieser Situation wollte sie richtig umgehen, wollte den Unterschied zwischen einem Koma und einem Hirntod erklären. Wollte, dass Lina wirklich verstand, dass die Maschinen Francis' Körper zwar am Leben erhielten, aber dass seine Seele gegangen war und dass der Körper sich bald selbst abschalten würde, gleich, ob mit oder ohne die Maschinen. Der Körper wusste, wann sein Gehirn tot war ...
Aber sie konnte die richtigen Worte nicht finden oder überhaupt Worte.
Das Gefühl von Versagen drängte sich durch ihren Schmerz und zog sie hinab, erdrückte sie. Sie durchquerte langsam das Zimmer und schlang einen Arm um Linas schmale Schultern. »Er sagt, dass Francis von uns gegangen ist, Baby.«
Lina wich vor ihr zurück und wirbelte herum, starrte blicklos aus dem Fenster. Dann ließ sie sich langsam auf den nächsten Stuhl sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
Tränen traten in Madelaines Augen. Sie wollte ihnen freien Lauf lassen, so wie Lina es getan hatte, wollte die Erleichterung, die das Weinen brachte, aber sie konnte es nicht. Sie blickte zu Dr. Nusbaum auf. »Können wir ihn sehen?«
»Natürlich«, sagte er weich. »Bitte, folgen Sie mir.«
Der Krankenhauskorridor war unheimlich still. Krankenschwestern gingen auf Schuhen mit Kreppsohlen vorbei, bewegten mit ihrer Anwesenheit kaum die Luft. Zimmer um Zimmer war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Leere Stühle säumten die weißen Wände. Magazine lagen auf Formica-Tischen gestapelt.
Lina war in Krankenhäusern aufgewachsen. Als Kind hatte sie in solchen Korridoren gespielt, war lächelnden Krankenschwestern hinterhergelaufen, hatte auf Wartezimmerstühlen Dr.-Seuss-Bücher gelesen. Krankenhäuser waren für sie immer der Arbeitsplatz ihrer Mutter gewesen. Es gab keinen Unterschied zu einem Anwaltsbüro oder einem Schönheitssalon.
Aber jetzt sah sie sie als das, was sie waren - schattenhafte Lagerhäuser, wo die Toten und Sterbenden in stillen, mit Vorhängen verhüllten Räumen untergebracht waren, wo Maschinen saugten und piepten und Leben durch dicke elektrische Kabel erhielten.
Sie spürte ihre Mutter neben sich, hörte ihre Pfennigabsätze auf dem Linoleumboden klappern. Sie wollte ihre Hand in die Hand ihrer Mom schieben und sie drücken, aber sie konnte sich nicht überwinden, das zu tun. Ihre Arme schienen schlaff zu sein, hingen schwer an ihren Seiten. Und ihre Beine waren so weich wie Wackelpudding. Tränen waren ein stechender, brennender Schleier, der alles in ein weißes Geschmiere verwandelte.
Schließlich blieb Dr. Nusbaum vor einem Zimmer stehen. Die Tür war geschlossen. Daneben gab ein großes Beobachtungsfenster den Blick in das Zimmer frei. Ein gelber Vorhang war um das Bett zugezogen, verbarg Francis vor ihren Blicken.
Der Arzt wandte sich zu ihnen. »Er sieht...« Er warf einen schnellen Blick zu Lina und sprach dann leise zu Madelaine. »Die Verletzung an der linken Seite war schwer. Er ist natürlich verbunden, aber...«
Lina dachte augenblicklich an Francis' Lächeln, an dieses breite Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht zu ziehen schien, Fältchen um seine Augen bildete und ein Dutzend kleiner Falten auf seinen Wangen schuf.
Sie atmete scharf ein.
»Danke, Dr. Nusbaum«, sagte ihre Mutter mit steifer, hölzerner Stimme. »Ich werde mit Ihnen sprechen, nachdem ich ihn gesehen habe.«
Lina starrte ihre Mutter schockiert an und fragte sich, wie sie in diesem Augenblick so sachlich sein konnte.
Dr. Nusbaum nickte und ließ sie allein.
»Ich verstehe nicht, Mom«, flüsterte sie und versuchte angestrengt, nicht zu weinen. »Vielleicht liegt er im Koma... Menschen erwachen doch aus einem Koma, oder? Vielleicht, wenn wir mit ihm reden ...«
Mom schluckte schwer. »Das hier ist anders, Baby.«
Lina wünschte sich, nicht zu verstehen. Aber sie verstand. Sie war das Kind einer Ärztin und wusste, was Hirntod bedeutete. In einem Koma funktionierte das Gehirn und deshalb gab es Hoffnung. Wenn das Gehirn aber starb, gab es keine Hoffnung. Francis, ihr Francis, war tot und er kam nicht zurück.
Eine lange Zeit - Lina konnte das leise Ticken der Uhr über ihren Köpfen hören - standen sie dort, starrten einander an und sagten nichts.
»Ich muss ihn sehen«, sagte ihre Mutter schließlich.
Lina wandte sich dem Fenster zu, trat näher. Sie streckte die Hände aus, berührte die Glasscheibe und dachte - völlig verrückt -, dass es so sei, als berühre sie Francis zum letzten Mal. Aber die Scheibe fühlte sich nur kalt und platt an.
Hinter dem dünnen Schleier des absurd gelben Vorhangs konnte sie die schattenhafte Kontur eines Körpers in einem Bett sehen, das Heben und Senken eines schwarzen Zylinders daneben. Sie versuchte, durch den Vorhang hindurchzusehen, sich einfach nur für eine Sekunde vorzustellen, wie es sein müsste, in diesen Raum zu treten und ihren Francis in einem Krankenhausbett liegen zu sehen, seine Wangen weiß, das Gesicht eingefallen, die Augen - o Gott, seine Augen, seine blauen, blauen Augen...
»Ich kann es nicht, Mom«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie fühlte sich so gemein. Aber sie konnte es nicht tun, konnte es nicht, konnte ihn nicht ansehen und danach schlafen. Nicht, wenn diese Augen leer waren, nicht, wenn er sie nicht anlächeln und seine Hand ausstrecken konnte. »Ich kann ihn so nicht ansehen ...«
Ihre Mutter trat näher zu ihr, strich ihr mit einer kalten Hand beruhigend über die Wange. Lina wartete darauf, dass ihre Mutter sie ansah, aber das tat sie nicht, sondern starrte nur auf dieses Fenster und den Vorhang.
»Ich sah meine Mutter, nachdem sie gestorben war«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, die so verzerrt war, dass Lina sie kaum erkannte. »Mein Vater führte mich in ihr dunkles Schlafzimmer und sagte mir, ich solle sie ansehen, ihre Wange berühren ... Sie war so kalt.« Sie erschauerte leicht und zog ihre Hand zurück, verschränkte ihre Arme. »So viele Jahre danach, immer dann, wenn ich an meine Mutter dachte, dachte ich an... das falsche Bild, hatte die falsche Erinnerung. «
Endlich wandte sie sich an Lina. »Ich möchte nicht, dass es dir auch so geht, Baby. Ich möchte, dass du Francis so in Erinnerung behältst, wie er war.« Ihre Stimme brach.
War.
»Du hättest es mir sagen sollen, Mom.«
Madelaine runzelte leicht die Stirn. »Was meinst du damit?«
Lina starrte auf das Fenster, auf die schattenhafte Kontur des Mannes, dessen Anwesenheit sie so viele Male als ganz selbstverständlich hingenommen hatte. Der Mann, der ihre Tränen getrocknet hatte, als sie ein kleines Mädchen war, der ihre Hand gehalten hatte, wenn sie sich fürchtete. Bis zu diesem Augenblick war ihr überhaupt nicht bewusst gewesen, wie viel von ihrer Welt sich ausschließlich um ihn drehte. Wie sehr sie ihn liebte. »Als ich meine Wutanfälle bekam und nach meinem Vater suchte ...« Sie begann zu weinen. Es waren heiße, brennende Tränen, die über ihre Wangen rollten und auf ihr T-Shirt fielen. »Du hättest mir sagen sollen, dass er die ganze Zeit da war.«