Kapitel 8
Madelaine saß auf der Sofakante, die nackten Füße zusammengepresst, die kalten Hände im Schoß verschränkt. Es war Samstagmorgen und sie war früh aufgestanden, um ein gutes, kräftiges Frühstück vorzubereiten. Sie hatte sich sorgfältig mit einer weiten Trainingshose und einem übergroßen T-Shirt bekleidet. Sie sah leger aus, wie sie fand.
Innerlich aber fühlte sie sich nervös und hatte Angst.
Ich verspreche dir, dass ich mit deinem Vater Kontakt aufnehmen werde ...
Sie hörte unten im Korridor die Toilette rauschen und sprang auf. Sie huschte in die Küche, zog das Schneidebrett heraus und begann Karotten zu zerkleinern.
Erst als sie drei geschält und zerschnitten hatte, wurde ihr bewusst, dass sie zum Frühstück keine Karotten brauchte.
Sie schob das Gemüse beiseite und starrte auf die geschlossene Tür. Ihre Ängstlichkeit verstärkte sich noch ein wenig mehr. Was, wenn sie die nicht überwinden konnte - was, wenn sie nicht gut genug lügen konnte, um ihre Tochter zu beschützen?
Der Türknopf des Badezimmers drehte sich, die Tür schwang auf. Lina stand im Türrahmen. Sie trug einen eng anliegenden gerippten Pullover und eine Hose, die nicht einmal ein Footballspieler der Nationalliga hätte ausfüllen können. Der Schritt hing zwischen ihren Knien und der ausgefranste, abgeschnittene Saum fiel bis auf den Boden.
»Hi, Mom«, sagte sie und stieß die Tür mit einem Tritt ihres Fußes zu, der in einem Armeestiefel steckte. Einen Rucksack hinter sich herziehend, ging sie über den Korridor auf das Wohnzimmer zu. »Ich gehe ins Einkaufszentrum.«
Madelaines Kehle wurde trocken. »Warte, bis du was gegessen hast.«
Lina erstarrte. »Du kochst?«
»J... ja. Schinken und Käse-Omelett und Toast.«
»Mit Eierersatz und Truthahnschinken zubereitet? Mmh. Köstlich.«
»Du hast sonst immer gerne Truthahnschinken gegessen.«
Lina verdrehte ihre Augen. »Sieh doch mal, wie's wirklich war, Mom. Ich war zu jung, um den Unterschied zu bemerken.«
»Na ja ... aber du kannst den Toast essen.«
Lina warf ihren Rucksack auf die Couch und zuckte mit den Schultern. »Na schön.« Sie machte Anstalten, in ihr Zimmer zurückzukehren.
Madelaine wollte einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen und Lina gehen lassen, aber sie weigerte sich, so einfach nachzugeben. Es war genau diese Art von Feigheit, die ihre Beziehung kaputtgemacht hatte - es würde ein wenig Mut kosten, sie wiederherzustellen.
Vorschriften. Sie reagiert gut auf Regeln.
»Ich möchte, dass du den Tisch deckst«, rief sie dem Rücken ihrer Tochter zu.
Lina drehte sich langsam um. »Du willst, dass ich was tue?«
Madelaine fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen. »Dass du den Tisch deckst.«
Lina musterte sie. Die Hände in die Taschen ihrer Baggies gesteckt, durchquerte sie den Raum. »Mom?«
Madelaine zwang sich, still dazustehen und die Prüfung über sich ergehen zu lassen. »Ja?«
»Sind wir jetzt feine Pinkel geworden?«
Madelaine lachte laut auf. »Mach schon. Deck den Tisch.«
Lina bewegte sich nicht, sondern stand einfach nur da und starrte sie an. Schließlich konnte Madelaine nicht anders und begann, nervös zu werden. Es war ein Fehler zu versuchen, so zu tun, als ob sie eine Familie seien, zu tun, als ob eine Kleinigkeit wie ein Brunch am Samstag in Ordnung bringen könnte, was zwischen ihr und Lina nicht stimmte.
»Hast du gestern meinen Dad angerufen?«
Madelaine zuckte zusammen. Da war sie, die Frage, die sie vermieden haben wollte, wie ein Fehdehandschuh auf den Tisch geworfen. » Vater«, schnappte sie. Sie räusperte sich und versuchte, sachlicher zu klingen. »Er ist dein Vater. Ein Dad ist... anders.«
»Ja, schön. Hast du ihn angerufen?«
Madelaine senkte ihren Blick. Sie starrte auf die Karotten, kleine orangefarbene Stücke, die auf der jadegrünen Arbeitsfläche lagen.
»Mom?«
Madelaine zwang sich, in die misstrauischen Augen ihrer Tochter zu schauen. Sie versuchte zu lächeln, versuchte es und scheiterte. Ein winziger Kopfschmerz brannte hinter ihren Augen. »Was?«
»Hast du ihn angerufen?«
»Ob ich ihn angerufen habe?«
Lina biss sich nervös auf ihre Unterlippe. »Tu mir das nicht an, Mom.« Ihre Stimme brach und für eine Sekunde sah Madelaine die nackte, schmerzliche Verzweiflung ihrer Tochter.
Es war mehr als wer ist er ? Es war wer bin ich ?
Sie legte das Messer hin und ging um die Arbeitsfläche herum. Sie sah Lina fest an und zwang sich dazu, einen Arm auszustrecken. Lina starrte auf die Hand ihrer Mutter, hob dann die Augen und ihre Blicke trafen sich.
Madelaine spürte in dieser einen Sekunde eine Welle der Emotion. Es war so lange her, dass sie einander angesehen hatten, sich wirklich angesehen hatten. Sie hatten Monate damit verbracht, wegzuschauen, vorbeizuschauen, durch einander hindurchzuschauen.
Sie schaute Lina flehend an, bettelte um eine Chance. Sie versuchte zu antworten, merkte aber, dass sie es nicht konnte.
»Du hast keine Verbindung mit ihm aufgenommen«, sagte Lina niedergeschlagen. »Warum?«
Madelaine hielt Blickkontakt, so lange sie konnte, bis ihr Schuldgefühl zu einer würgenden Hand wurde, die ihre Kehle umklammerte. »Ich hatte so viel zu tun. Dieser neue Patient ist wirklich ...«
Lina sprang förmlich hoch. Sie begann zu lachen - oder weinte sie? Madelaine vermochte es nicht zu sagen, bis Lina sich umdrehte, und sie sah, dass ihre Tochter durch ihre Tränen lachte. »Toll, Mom. Du hattest zu viel zu tun, um meinen Dad anzurufen.« Sie nahm ihren Rucksack und schwang ihn über die Schulter. Heftig schniefend rannte sie zur Haustür und riss sie auf. In der letzten Sekunde blieb sie stehen und drehte sich um, warf Madelaine einen schmerzerfüllten Blick zu. »Ich weiß nicht, warum ich dir geglaubt hatte.«
Dann rannte sie los.
Francis lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Später musste er Ilya Fiorelli besuchen, aber daran wollte er noch nicht denken. Und so saß er ruhig da und lauschte dem Phantom der Oper.
Musik erfüllte das Besucherzimmer des Pfarrhauses, pulsierte und hämmerte und verstummte dann wieder. Langsam begann das nächste Lied. »Musik der Nacht.«
Er seufzte erwartungsvoll. Die Musik begann gemächlich, sicher und ruhig, umhüllte ihn, zog ihn in die Welt des Phantoms. Ein einsamer Ort, diese Welt, erfüllt von Herzeleid und Sehnen und unerwiderter Liebe.
Er erinnerte sich - so wie immer - an das erste Mal, als er diese Musik gehört hatte. Er und Madelaine waren zusammen ins Theater gegangen. Als er neben ihr saß, ihre Anwesenheit spürte, sah, wie das Funkeln der Scheinwerfer sich in ihren Augen widerspiegelte, hatte er sich dem Himmel nahe gefühlt.
Lass deinen Phantasien freien Lauf in dieser Dunkelheit, von der du weißt, dass du sie nicht bekämpfen kannst...
Francis sang die Worte laut, tat für eine Sekunde so, als habe er Talent. Als könne er viele Dinge. Die Musik schwoll wieder an, voll wirbelnder, geballter Kraft. Hohe, reine Noten, so zitternd und süß wie der Gesang eines Vogels, der hoch oben sitzt, dann senkten sich die Töne und gerieten in Unordnung und wurden melancholisch.
Und die Traurigkeit kam, wie sie immer kam, eingebunden inmitten der prachtvollen Klänge. Francis fühlte den Schmerz im Lied des Phantoms, die Qual, im Schatten der Frau, die man liebte, leben zu müssen.
Ach, Madelaine, dachte er und stieß einen weiteren Seufzer aus.
»Francis?«
Er richtete sich mit einem Ruck auf, blinzelte in das plötzliche gleißende Sonnenlicht, das sich durch die geöffnete Eingangstür des Pfarrhauses ergoss.
Lina stand im Türrahmen, von hinten vom goldenen Glühen des Morgens beleuchtet. Sie sah unglaublich jung und zerbrechlich aus, winzig in ihrer weiten Hose und der Armeejacke. Aber es waren ihre Augen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen, ihn veranlassten, in plötzlicher Sorge die Stirn zu runzeln.
Er trat die Fußstütze seines Ruhesessels hinunter und sprang auf. »Lina, Schatz, was ist los?«
Sie antwortete nicht.
»Lina?« Er bewegte sich auf sie zu, und während er ihr näher kam, sah er die kleinen Dinge, die das Sonnenlicht verwischt hatte. Sah, wie sie dastand, zu einer Seite geneigt, halb vor seiner Schwelle, halb dahinter, die geschwollene Röte ihrer Augen, die Wangen blauschwarz von Mascara und Tränen verschmiert.
Und er wusste es. Gott helfe ihm, aber er wusste, warum sie hier war, gebrochen und verloren aussah. Madelaine hatte ihr die Wahrheit gesagt.
O, Gott... Bei diesem Gedanken drehte es ihm fast den Magen um. Unsicher schaltete er die Stereoanlage aus und ging zu ihr.
Und sie stand noch immer reglos im Türrahmen. Blass, so blass, und ihre blutunterlaufenen Augen von Traurigkeit erfüllt. Er erinnerte sich an Hunderte anderer Besuche. Zeiten, in denen sie zu ihm gekommen war, lachend, durch seine Tür hüpfend, und sich in seine wartenden Arme geworfen hatte.
»Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte«, sagte sie, kaute an ihrem Daumennagel und sah ihn mit diesen unendlich traurigen Augen an.
Er streckte seinen Arm nach ihr aus und sie ergriff seine Hand und drückte sie fest. Er sah ein Glitzern von frischen Tränen in ihren Augen funkeln.
Er schloss die Tür und führte sie zu dem braungoldenen Sofa. Er setzte sich neben sie, schlang einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sie presste ihre Wange an seine Brust. Er spürte, wie sie zitternd einatmete. »Schsch«, murmelte er.
Er wollte alles für sie besser machen, so, wie er es schon tausendmal in ihrem Leben getan hatte.
Plötzlich zog sie sich zurück, atmete heftig ein und blickte zu ihm auf. »Mo... Mom hat meinen Vater nicht angerufen. Sie hatte es ver - versprochen und dann hat sie ihn nicht angerufen.«
Für einen Sekundenbruchteil empfand Francis Erleichterung.
Tränen quollen unter ihren Wimpern hervor, fielen eine nach der anderen auf ihre verschmierten blassen Wangen. »Ich weiß nicht, warum ich geglaubt habe, dass sie das tun würde.«
»Er hat euch einfach sitzen lassen. Vielleicht ist es am besten, wenn du nicht an ihn denkst.«
»Sag mir, wer er ist«, bat sie leise.
Von diesem Augenblick an würde es kein Zurück mehr geben. Das wusste er. Furcht schloss sich um seine Brust wie eine Fessel. Niederlage ließ seine Schultern heruntersacken, kam in einem ächzenden Seufzer aus seinem Mund. Er wischte eine Träne von ihrer Wange. »Oh, Lina-Ballerina ...«
»Komm mir nicht so, Francis. Nicht du auch noch.«
Er spürte die Scham in sich aufsteigen, ihn erfüllen. »Ich kann dir seinen Namen nicht sagen.«
»Du kannst nicht?« Es war nur der Hauch eines Atems. »Oder willst du nicht?«
»Lina...«
»Sag nichts.« Sie starrte ihn an und er sah in diesem Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, dass sie ihn hasste. Es schmerzte. Gütiger Gott im Himmel, es schmerzte.
»Als ich noch Kind war, habe ich mir die Wiederholungen von >Brady Bunch< angesehen.« Sie biss sich auf die Lippe und blickte an ihm vorbei. Eine lange, lange Zeit verstrich, bevor sie wieder sprach. »Diese Familie brachte mich zum Weinen. Diese alberne, blöde Sitcom brachte mich immer zum Weinen.«
Francis verstand. Schon als Kind hatte sie dieses Familiengefühl haben wollen, dieses Gefühl, irgendwohin zu gehören. Aber er und Madelaine hatten es ihr nicht gegeben. Sie hatten sie mit ihrem Schweigen schützen wollen, aber das hatte sie nur noch mehr verletzt. »Es tut mir Leid, Lina.«
Sie lachte bitter und schrill. »Ja, mir auch.« Sie stand auf und ergriff ihren Rucksack. Sie warf ihn über ihre Schulter, schob sich an ihm vorbei und ging zur Tür.
Er sprang auf. »Lina, warte ...« Er wusste, dass es nicht das Richtige war, was er jetzt sagte, aber es war nichts Richtiges geblieben, und die Worte hallten in dem Raum und erstarben in einer erschreckenden Stille.
Sie schenkte ihm einen harten, kalten Blick. »Worauf?«
Er ging auf sie zu. Sie bewegte sich nicht, stand einfach nur da und starrte ihn mit diesen verletzten blauen Augen an. Er nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände, wischte die Tränen mit seinen Daumen fort. »Ich liebe dich, Lina. Denke immer daran.«
»Ja, sicher tust du das.« Ihre Stimme brach. »Du und Mom, ihr liebt mich beide. Aber keiner von euch will mir die Wahrheit sagen.«
Lina hielt quietschend vor dem Schaufenster von Savemore Drugs. Der Laden starrte sie schweigend an. Seine große, ausgestreckte, hell erleuchtete Front lud sie zum Eintreten ein. Sie ließ ihr Fahrrad ins Gebüsch fallen.
Erregung gewann die Oberhand über Ärger und Kummer. Sie brauchte diese Erregung jetzt, brauchte ein anderes Gefühl, das sie berauschte, sie erfüllte. Sie wischte sich über ihre Augen, versuchte, die letzten Spuren ihrer nutzlosen Tränen auszuradieren. Bei der Berührung wusste sie, dass auf ihren Lidern kein Mascara mehr war, wusste, dass sich alles in einem verklebten, blauschwarzen Geschmiere auf ihren Wangen befand. Wahrscheinlich waren von ihrem »Oregon Cherry«-Rouge nur zwei Streifen von Kriegsbemalung zu beiden Seiten des verwischten Mascara übrig geblieben.
Ja, sie musste heiß aussehen.
Lina hob schniefend ihr Kinn und kniff die Augen zusammen. Sollte bloß jemand etwas sagen. Aber so, wie sie sich fühlte, wünschte sie sich tatsächlich, dass jemand etwas sagte.
Sie war ihr so egal, dass sie ihn nicht einmal anrief. Lausige sieben Zahlen, fünfzehn Minuten von ihrem Tag...
Und Francis, der fast wie ein Dad für sie gewesen war, verriet sie. Ich kann dir seinen Namen nicht sagen.
Lina spürte das entsetzliche Stechen frischer Tränen und wandte sich von dem Laden ab. Seitwärts taumelnd trat sie hinter eine Stechpalme und setzte sich auf einen Stapel Holzpaletten. Sie beugte sich vor, presste ihr feuchtes Gesicht auf ihre Knie und weinte.
Ihre Mutter wusste, wie wichtig dies für sie war. Sie musste es wissen. Und doch war sie zu beschäftigt, um einen Anruf zu machen.
Lina hatte immer auf den Terminplan ihrer Mutter Rücksicht genommen. Sie war stolz auf den Beruf ihrer Mutter - er war bei weitem cooler als das, was die Moms anderer machten. Lina hatte die ganzen geplatzten Verabredungen, die einsamen Nächte, die hastigen gemeinsamen Mahlzeiten hingenommen. Aber genug war genug. Sie konnte sich nicht mehr gefallen lassen.
Sie griff in ihre Büchertasche und nahm einen Cover-Girl-Klappspiegel heraus. Sie klappte ihn auf und starrte ihr kleines Spiegelbild an. Elektrisierende blaue Augen, geschwungene schwarze Augenbrauen, kleine, bogenförmige Lippen.
»Wer bist du?«, flüsterte sie dem Mädchen im Glas zu. Und wer war er - dieser Vater, der seinen Stempel in ihrem Gesicht, ihren Gedanken, ihrer Persönlichkeit hinterlassen hatte und dann einfach gegangen war? Er war die Antwort auf alles. Die Aufdringlichkeit, die Unzufriedenheit, der Zorn - dies alles waren Persönlichkeitsmerkmale, die sie von ihm haben musste, sein lebendes Vermächtnis sein mussten.
Sie erinnerte sich ständig an ihre Frage. Bin ich wie er?
Und an das traurige Lächeln ihrer Mutter, als sie sich erinnerte, das Lächeln, das Lina von ihrem Geburtsrecht ausschloss, von den Erinnerungen, die ihr hätten gehören sollen. Du bist genau wie er.
Ihre Phantasien verselbständigten sich wieder, fingen sie in einem seidenen Netz. Sie waren gleich, sie und ihr Daddy -ihre Mom hatte das gesagt. Sie war wie ihr Vater. Sie würden mehr sein als nur Vater und Tochter. Sie würden die besten Freunde sein. Ihr Vater würde sie nicht belügen oder maßregeln. Er würde nicht stundenlang arbeiten und völlig ermüdet nach Hause kommen oder sich darum kümmern, ob sie ihre Hausaufgaben pünktlich gemacht hatte.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und von ihm geträumt hatte. Aber doch so lange, dass ihre Tränen trocknen konnten, so lange, dass aus ihrer tiefen Traurigkeit Ärger wurde. Ihre Mutter hatte kein Recht, ihr diese Information vorzuenthalten. Nicht diese.
Müde und deprimiert stand sie auf und trat aus den Büschen.
Dort war der Laden. Sie wollte sich abwenden, einfach heimgehen und nachdenken, aber der Laden war so nahe.
Sie brauchte diesen Adrenalinstoß, der kam, wenn sie alle anderen überlistete. Mit einem schnellen Blick in beide Richtungen schwang sie ihre Tasche wieder über eine Schulter und strebte dem Geschäft zu, ging über den breiten, von Azaleen gesäumten Zementweg.
Die doppelten Glastüren wichen in einer elektronischen Begrüßung beiseite. Sie tauchte in die gleißenden Lichter des Superdrugstores, fand sich herrlich auffällig. Ein Punkkind in schäbigen Klamotten im Yuppiehimmel.
Sie grinste, wusste, dass man sie beobachtete, sie einschätzte, die Hausdetektive auf sie aufmerksam machte. Sie ging wie üblich vor. Zuerst kaufte sie eine Zeitung. Es machte einen guten Eindruck, gleich am Anfang Geld auszugeben. Sie steckte zwei Quarter-Münzen in den Schlitz und öffnete die Klappe des Zeitungskastens, zog die neueste Ausgabe der kleinen Lokalzeitung heraus. Sie klemmte sie unter einen Arm, schlenderte dann den Hauptgang entlang, bog ab und ging in die Make-up-Abteilung. Sie fasste alles an, was sie interessierte, wog es ab, fühlte, ob es in ihre Handfläche passte. Sie suchte.
Sie berührte ein Dutzend Dinge, stellte alle wieder an ihren richtigen Platz zurück.
Dann sah sie es, berührte es, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Erregung löste ein schnelles, verstohlenes Lächeln aus.
Eine kleine Tube Wimperntusche in einer Klarsichtpackung aus Kunststoff.
Lina schaute sich verstohlen um, sah niemand. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Ihr Herz begann in ihrer Brust zu donnern. Feuchter, juckender Schweiß nässte ihre Handflächen. Das erste nagende Gefühl von Furcht schlich sich in sie, murmelte, dass sie es nicht tun könne, dass sie nicht gut genug dazu sei.
Dann kamen die anderen Emotionen - das anmaßende Selbstvertrauen, das sie nur in dem hell erleuchteten Gang eines Drugstores finden konnte, der pulsbeschleunigende Adrenalinstoß.
Du kannst es doch tun, oder?
Sie spazierte eine Weile herum, hielt das Mascara wie zufällig. Ihre Finger waren so glatt vom Schweiß, dass sie es dreimal oder viermal von einer Hand in die andere wechseln musste. Ein oder zwei Mal tat sie, als würde sie das Mascara in die Regale zurückstellen - einmal in das mit den Deodorants, einmal in das mit dem Aspirin.
Im Gang, wo die Zahnpasta stand, handelte sie dann.
Sie steckte das Make-up in ihre Tasche und zog die Hand heraus.
Sie hatte es getan.
Schwer atmend und mit klopfendem Herzen zwang sie sich, gemächlich durch das Geschäft zu schlendern. Sie blieb vor den Videos stehen, blätterte ein paar Horrorbücher durch. Die Magazine weckten ihr Interesse und so stand sie da und blätterte in der neuesten Ausgabe des Rollling Stone.
Dann spazierte sie sehr ruhig den Gang hinunter, an der Kasse vorbei und auf die Tür zu. Mit einem schnellen Blick zur Seite sah sie, dass sie allein war. Ein Grinsen breitete sich über ihr Gesicht, als die Automatiktüren sich mit einem Zischen öffneten.
In der allerletzten Sekunde packte eine Hand ihre Schulter und drückte sie sehr fest. Eine laute Männerstimme sagte: »Augenblick mal, Miss.«