Kapitel 23
Er weiß, dass die Nacht jetzt kälter wird. Er kann Beweise für den Frost sehen, auch wenn er ihn nicht spüren kann. Der Himmel hat sich zu einem dichten Schwarz verwandelt, so wie er es oft in diesen schwindenden Novembertagen tut. Bäume schmiegen sich längs der Straße aneinander, und wenn er sehr aufmerksam lauscht, kann er sie miteinander flüstern hören, erschauern vor dem Frost. Er fragt sich, warum er sie nie zuvor reden gehört hat.
Aber jetzt hört er so viele verschiedene Dinge - das prasselnde Trommeln von Regentropfen, wenn sie auf den Zaun fallen, den sanften Aufprall eines abgefallenen Blattes. Selbst das Sternenlicht macht ein Geräusch, ein leises, brummendes Surren, das ihn an die Bienen erinnert, die sich an den ersten Tagen des Hochsommers in ihrem Rosengarten versammeln. Alles macht ein Geräusch, wie es scheint, bis auf die Schaukel auf der Veranda, die schwer und still unter ihm hängt. Und bis auf ihn. Er ist das stillste Ding von allen.
Die Tiere in der Umgebung wissen, dass er hier ist. In Nächten wie diesen, wenn es kalt und dunkel ist, schleichen sie an dem Haus vorbei, haben ihre goldenen Augen auf ihn gerichtet, ihr Fell gesträubt. Wenn er sie sieht, glaubt er etwas zu fühlen, ein Kitzeln in seinen Fingerspitzen, das sich wie eine Erinnerung anfühlt, als ob er sich erinnern könnte, wie weich sie gewesen sind, wie tröstend es einmal gewesen war, eine Hauskatze zu streicheln. Aber das Kitzeln ist Einbildung. Er weiß, dass er keinen richtigen Tastsinn mehr hat. Er erinnert sich nur, weil es ein schönes Gefühl ist, sich zu erinnern, und er sonst nichts zu tun hat.
In der Ferne biegt ein Auto in Richtung Haus ab. Die Scheinwerfer spähen in hellgelben Lichtkegeln voraus. Die Bäume schweigen, wenn das Licht sie berührt. Der Wagen wendet und parkt am Bordstein. Die Lichter gehen aus.
Er hört das Geräusch einer Tür, die geöffnet wird, dann den leichten Rhythmus von Schritten, während Angel um den Wagen herumgeht und die andere Tür öffnet. Im Licht der schwachen Innenbeleuchtung sieht er Madelaine auf dem Beifahrersitz.
Sie steigt aus dem Wagen aus. Die Straßenlaterne wirft ein Netz von goldenem Licht um sie und das Bild erinnert ihn an Ikonen, die er gesehen hat. Sie lächelt zum ersten Mal seit Tagen. Er weiß instinktiv, dass es Angel ist, der ihr ihr Lächeln zurückgegeben hat.
Es sollte schmerzen, zu sehen, wie sie einen anderen Mann mit liebevollen Augen ansieht, und so wartet er darauf, dass der Schmerz kommt, aber es passiert einfach nicht, und das Ausbleiben überrascht ihn.
Er weiß, dass er noch Schmerz empfinden kann. Er hatte ihn früher an diesem Tage gespürt, als Madelaine vor das Haus trat. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen und rot und er wusste, dass sie um ihn geweint hatte. Es hatte ihn geschmerzt, als er sie dort auf der Veranda stehen sah, bekleidet mit seinem alten Hemd. Tief, tief in ihm, an der Stelle, wo einmal sein Herz gewesen war.
Aber jetzt lächelt sie und ist so strahlend schön, dass es ihm sehr schwer fällt, gleichmäßig zu atmen. Sie scheint über die Auffahrt zu ihm zu schweben, ihr Kopf ist zu Angel geneigt und ihr wunderschönes Gesicht in goldenes Licht getaucht.
Ihm wird ganz plötzlich bewusst, dass sie beide jung und glücklich aussehen. Genau so hatten sie sich immer angesehen, auf eine Art, wie sie ihn nie angesehen hatte.
Seltsamerweise erfüllt ihn dieses Wissen mit Wärme, gibt ihm das Gefühl, so leicht zu sein, dass er von der Verandaschaukel fortschweben kann. Ein prickelndes Gefühl durchströmt ihn - diesmal glaubt er fast, dass es wirklich ist. Es beginnt in seinen Zehen und fließt langsam nach oben. Es ist ein Gefühl, als ströme reines, glühendes Sonnenlicht durch seine Adern, illuminiere ihn von innen. Er bekommt ein fast trunkenes Gefühl von Schwerelosigkeit.
Er erwartet, fortzutreiben, und als das nicht geschieht, blickt er nach unten und sieht, dass mehr von ihm verschwunden ist. Von der Hüfte abwärts ist er nichts als ein Schatten, der aus Schatten dringt.
Es überrascht und verwirrt ihn, dieses langsame Verschwinden seines Körpers, aber es macht ihm keine Angst. Es scheint... richtig so.
Als er wieder aufschaut, sieht er, dass Madelaine neben ihm auf der Veranda ist. Er kann den gedämpften Klang ihrer Stimme hören, während sie mit seinem Bruder spricht, obwohl er ihre Worte nicht versteht. Angels Antwort kommt mit einem summenden Geräusch, das dem Flüstern der Bäume nicht unähnlich ist.
Er möchte nahe bei ihnen sein, mit einer Hand winken und sagen: Ich bin hier, seht mich doch.
Sie öffnet die Tür und schaltet die Verandabeleuchtung ein und dort, in dem goldenen Schimmer, sieht er einen Schatten neben ihnen stehen.
Irgendwie weiß er, dass dies der Schatten des Mannes ist, der er einmal war. Hypnotisiert beobachtet er, wie er selbst in den Schatten seines Bruders schlüpft und dort bleibt, so nah, dass er sie berühren kann.
Es ist ein gutes Gefühl, scheint richtig zu sein, hier, im Schatten seines Bruders zu sein, ein Teil von Angel und doch getrennt. Er spürt, wie er sich entspannt, sich auf der Verandaschaukel zurücklehnt. Ein erleichterter Seufzer kommt über seine Lippen und bei diesem Geräusch schlägt ein Vogel mit seinen Flügeln und stürzt sich von dem Apfelbaum in den Vorgarten.
Er weiß endlich, worauf er gewartet hat, und das Warten ist fast vorüber.
Lina blickte zum Himmel auf und hatte das Gefühl, als ob sich ihr eine ganz neue Welt eröffnet habe. Warum das so war, wusste sie nicht genau. Es war derselbe alte Nachthimmel, den sie gesehen hatte, seit sie ein Kind war, dieselben alten Sterne. Aber an diesem Abend nahm sie sie auf eine Art wahr wie nie zuvor. Die Milchstraße war ein verschmierter Strich von grauweißem Licht, betupft mit glitzernden Sternen. Während sie dort lag, nach oben starrte, schoss ein Stern über den Himmel und hinterließ eine funkelnde Spur von Licht, bevor er verschwand.
»Wünsch dir was«, sagte Zach.
Lina lächelte. Jett hätte so etwas Altmodisches niemals gesagt. Doch während sie die Unsinnigkeit dieser Feststellung bemerkte, erwärmte sie etwas daran. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ulkiger und komischer wurde es, fast ein Spiel.
Sie rollte sich auf die Seite und musterte ihn. Er lag ausgestreckt neben ihr, die Arme hinter den Kopf verschränkt. Sandblondes Haar umrahmte sein Gesicht. Sie sah das Sternenlicht, das von seinen Augen reflektiert wurde, und dachte verträumt, dass das passend sei - denn er war es, der ihr den Zauber eines Nachthimmels gezeigt hatte.
Er wandte sich zu ihr und schenkte ihr ein breites, schläfriges Lächeln. »Hast du dir etwas gewünscht?«
Daraufhin hätte sie ihn fast berührt, aber er hatte ihr gegenüber nie eine Andeutung gemacht, dass er das wollte. Sie hatten die letzten beiden Wochen zusammen verbracht - gemeinsam Mittag gegessen, auf dem Pausengang herumgehangen, auf den Bus gewartet. Sie sprachen über alles. Darüber, wie einsam man sich manchmal fühlte, wenn man sechzehn war, und darüber, dass Erwachsene einen kaum verstanden. Es war Zach, der Lina zuerst dazu brachte, über ihre Gefühle für ihre Mutter nachzudenken. Er hatte das ganz locker gesagt, an einem Abend genau wie diesem, als sie auf der Tribüne an der 20-Yard-Linie gesessen hatten. Sie hatte nicht geglaubt, dass er ihre Ansichten ändern wollte. Er hatte nur geredet und sie hatte einfach zugehört...
»Ich erinnere mich, wie's war, als das Krankenhaus anrief«, hatte er gesagt und sich an einen der Sitze hinter ihnen angelehnt. »In der einen Minute waren meine Eltern noch da, stauchten mich zusammen wegen meiner Frisur und meiner Kleidung und meiner Zensuren, und in der nächsten Minute waren sie weg. Es macht einfach puff\, und du bist allein.«
Sie beugte sich näher zu ihm, wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ich hätte alles dafür gegeben, Lina - alles -, nur um noch einmal meine Mom mit mir schimpfen zu hören.«
Lina erinnerte sich an die letzten verletzenden Dinge, die sie zu Francis gesagt hatte, und dass sie nie eine Chance bekommen hatte, sich zu entschuldigen, ihm zu sagen, dass er der Vater sei, nach dem sie gesucht habe. Jetzt wusste sie, dass das Leben einem manchmal keine zweite Chance gibt, sich zu entschuldigen. Manchmal zerstörte ein schrecklicher, tragischer Anruf einfach alles.
Sie liebte ihre Mutter. Das wurde ihr in diesem Augenblick bewusst, durchfuhr sie mit einer plötzlichen, schmerzlichen Heftigkeit. Wenn ihrer Mutter etwas zustieß, würde Lina sich nur noch zusammenrollen und sterben wollen. Und doch verletzte sie ihre Mutter immer wieder, sagte bissige, hasserfüllte Worte zu ihr, als hätte sie ewig Zeit, sich dafür zu entschuldigen.
»Du hast solches Glück«, hatte Zach in die Dunkelheit geflüstert. Seine Stimme war leise gewesen.
Sie hatte ihm sagen wollen, dass sie sich glücklich fühlte, aber sie fühlte sich durch ihre neue Reife so angeschlagen, war beschämt über die Erkenntnis, wie egoistisch sie gewesen war. Doch sie spürte auch etwas anderes. Hoffnung. Sie hatte das letzte Jahr damit verbracht, auf das Leben zu reagieren - ein rebellisches Gör zu sein, um ihre Mutter zu ärgern, oder eine stinkende Raucherin, um Jett zu gefallen. Jetzt wollte sie nur sie selbst sein - wer immer sie sein mochte. Es war plötzlich, als ob die Welt sich ihr öffnete, glitzernd und voller Möglichkeiten.
Und Zach hatte ihr das gegeben, mit nicht mehr als einigen wenigen ehrlichen Worten. Sie hatte überlegt, ob sie seine Hand nehmen und sie halten sollte, sie drücken sollte, um ihn wissen zu lassen, dass sie verstand, aber das hatte sie nicht gewagt.
Doch jetzt rückte sie ein wenig näher zu ihm, bis sie dicht genug war, um die winzigen Sommersprossen auf seinem Nasenrücken zu sehen. Sie wartete darauf, dass er sie ansah, aber das tat er nicht. Er blickte einfach weiter zum Himmel auf. Sie kniff fest die Augen zu und dachte so intensiv, wie sie konnte, küss mich.
Er rührte sich nicht.
Schließlich stieß sie einen verärgerten Seufzer aus. Kein Wunder, dass sie noch Jungfrau war. Sie konnte nicht einmal einen Jungen dazu ermuntern, sie zu küssen. Sie hatte zwei Jahre versucht, Jett dazu zu bringen, ihr einen zweiten Blick zu schenken, aber er hatte das nie getan. Und jetzt behandelte Zach sie, als ob sie die beste Freundin seiner kleinen Schwester sei.
»Irgendwas stimmt mit mir nicht«, murmelte sie und war entsetzt, als sie hörte, wie die Worte in die Stille zwischen ihnen drangen.
Er drehte sich zu ihr. Er stützte einen Ellenbogen auf, lehnte die Wange auf seine Hand und lächelte auf sie hinab.
Sie bemerkte, dass seine blauen Augen nachts fast schwarz wirkten und dass seine Nasenflügel sich ein wenig blähten, wenn er atmete. Er hatte ein Gesicht wie ihr Onkel Francis -von dieser Art, die einladend war und einem das Gefühl vermittelte, ein Freund zu sein. Sie wollte ihn fragen, ob er sie hübsch fand oder dick oder sonst was, aber sie traute sich nicht und so sagte sie nichts.
Er lächelte und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass er genau wusste, was sie dachte. Es demütigte sie, dieser Gedanke, dass ihr Mangel an Selbstsicherheit so offensichtlich war. Sie zupfte nervös an dem Haar hinter ihrem Ohr. »Was ist?«
»Du bist das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe«, sagte er.
Bei diesen Worten hätte sie am liebsten geweint und sie überlegte, ob man so empfand, wenn man verliebt war. Sie hätte zu gerne gewusst, was sie sagen sollte - die richtigen erwachsenen Worte -, aber sie konnte sie nicht finden.
»Weißt du, der Winterball steht ja bevor...«, sagte er schließlich. »Was ... was hältst du davon, wenn wir zusammen dahin gehen?«
Furcht erfüllte sie schlagartig. Vielleicht machte er sich lustig über sie. »Wir würden ganz schön komisch aussehen.«
Er lachte und es war ein so wundervolles Geräusch, dass sie mit ihm lachte. »Also?«
Sie starrte ihn voller Ehrfurcht an. Ihre Gefühle waren ein einziges Durcheinander und ihr Herz schlug einen völlig verrückten Rhythmus in ihrer Brust. »Okay.«
Er schenkte ihr ein breites und ruhiges Lächeln, bei dem ihre Kehle trocken wurde. Und dann küsste er sie.
Lina schwebte eine Stunde später, als Zach sie heimfuhr, noch immer auf Wolken. Er hielt den Minivan vor der Auffahrt an und stellte den Motor ab. Dann kam er zu ihrer Seite herum und öffnete die Tür.
Sie nahm seine Hand und stieg aus dem Wagen. Sie wünschte sich, den Mut zu haben, um einen weiteren Kuss zu bitten, aber das wagte sie nicht. Sie hatte Angst, auf der Stelle neben dem Rosengarten ihrer Mutter zu einer kleinen Pfütze zu zerschmelzen.
Er bewegte sich näher zu ihr und blickte mit einer Intensität auf sie hinab, die ihr das Atmen schwer machte. »Beim Ball ... trag etwas Blaues - so wie deine Augen.«
Sie konnte nicht einmal antworten, nickte nur.
Lächelnd führte er sie über den Weg zu ihrem Haus. Auf halbem Wege merkte sie, dass ihr Dad auf den Verandastufen saß. Er saß dort in der Dunkelheit, völlig allein.
Lina und Zach blieben vor ihm stehen.
Angel erhob sich langsam, klopfte seine Jeans ab und hielt Zach eine Hand hin. »Ich bin Angel«, sagte er unnötigerweise -als ob er kein Superstar aus Hollywood sei. »Angelinas Vater.«
Zach schüttelte seine Hand. »Ich bin Zachary Owen, Mr DeMarco. Ich möchte mit Lina zum Winterschulball gehen, wenn Sie einverstanden sind.«
Angel lachte. »So eine Art Vater bin ich nicht. Alle Rendezvous müssen mit ihrer Mutter abgesprochen werden.«
Die Art, wie er die Verantwortung von sich wies, traf. Lina runzelte die Stirn.
Zach drehte sich zu ihr. »Gute Nacht, Lina. Bis morgen dann.«
Sie nickte fast besorgt und blickte ihm nach, als er ging. Dann wandte sie sich an Angel. »Was machst du hier draußen?«
»Auf dich warten.«
Ein warmes Gefühl erfüllte sie. Sie grinste ihn an. »Cool.«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Komm her.« Er führte sie zu der obersten Stufe und sie setzten sich Seite an Seite hin. Der dunkle Vorgarten streckte sich vor ihnen aus.
»Ich muss dir etwas erzählen«, sagte er mit einer leisen, zögernden Stimme, die in ihrem Magen ein flaues Gefühl von Besorgnis auslöste. »Es wird dich vielleicht betroffen machen.«
Sie wandte sich zu ihm. »Und das ist?«
Er schaute weg von ihr, als könne er ihrem Blick nicht standhalten, und ihre Ängstlichkeit wuchs zu Furcht. Er geht weg, genauso, wie Mom es gesagt hat. Er will mir sagen, dass er kein Dad mehr sein möchte.
»Es geht um meine Operation«, sagte er.
Für einen Sekundenbruchteil empfand sie Erleichterung, gefolgt von einer neuen Welle von Angst. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
Er lächelte sanft. »Mir geht's gut. Sehr gut übrigens für...« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern und er starrte sie mit einer Intensität an, die beunruhigend war. »Sehr gut für einen Mann, der eine Herztransplantation hinter sich hat.«
Er sah so ernst und verängstigt aus, dass sie fast gelacht hätte. »Ist das dein großes >Ich muss dir was erzählen<? Gott, ich dachte, du wirst sterben.«
»Du findest es nicht abstoßend?«
»Meine Güte, Dad. Ich bin das Kind einer Kardiologin. Ich bin auf der Intensivstation aufgewachsen - ich wette, ich weiß mehr über Herzempfänger als du.«
Er schenkte ihr ein plötzliches Lächeln, das dann langsam verschwand. »Das ist noch nicht alles.«
Sie grinste. »Ich weiß, die Sensationspresse hatte Recht. Du hast das Herz eines Außerirdischen.«
Er lachte. »Ist das die neueste Meldung?«
Sie schwiegen. Lina stützte sich auf die Ellenbogen und starrte auf die dornigen schwarzen Rosensträucher längs des Palisadenzauns.
Angel streckte sich neben ihr aus. »Die Sache ist die, Lina. Ich habe ... ich meine, ich bekam...« Er atmete zitternd ein und sagte nichts mehr.
Lina wandte sich zu ihm. Die schwache Verandabeleuchtung gab seinem Gesicht, seiner blassen Haut, einen gesunden, goldenen Schein. Dunkelbraunes Haar, das die Farbe von Kaffee hatte, umrahmte sein Gesicht, lockte sich auf dem hellblauen Kragenstoff. Er starrte zu dem mit Sternen übersäten Novemberhimmel hoch und seufzte schwer.
Lina konnte spüren, dass er Probleme hatte. Es war eigenartig, aber vor einer Woche noch hätte sie so etwas nicht einmal bemerkt - dass ein Erwachsener Probleme damit hatte, etwas zu sagen. Sie wäre gereizt und ungeduldig geworden und hätte ihm gesagt, er solle es ausspucken, weil sie nicht den ganzen Tag Zeit hätte.
Aber alles in den letzten Wochen hatte ihre Perspektive verändert. Und wenn es eines gab, das sie verstand, so war es die Schwierigkeit, das auszusprechen, was man dachte. Deshalb wartete sie geduldig und sagte gar nichts.
Schließlich versuchte er es wieder. »Ich habe Angst, dir dies zu sagen, Lina. Ich möchte dir nicht wehtun ...«
Sie sah ihn nicht an. Das war auch nicht nötig. Sein Gesicht war in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie trug es wie ein Medaillon in ihrem Herzen. »Onkel Francis pflegte zu sagen: >Liebe schmerzt, Angelina-Ballerina, aber sie heilt auch.<« Sie seufzte wehmütig, erinnerte sich an all die Abende, an denen sie genau an diesem Platz mit Onkel Francis gesessen und mit ihm über alles gesprochen hatte, was sie beschäftigte. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass er für ewig hier sitzen würde, wenn sie ihn darum bat.
»Du hast Franco geliebt, nicht wahr?«
»Ja«, flüsterte sie. »Ich liebte ihn.«
»Was, wenn er irgendwie ... noch da wäre?«
»Das ist er«, sagte sie leise, »er ist in meinem Herzen. Und in Moms.«
»Und in meinem.«
Er brachte die Worte in einem anderen Tonfall hervor, als sie es erwartet hatte - fast leichtfertig. Es überraschte sie, wie er es sagte, veranlasste sie plötzlich zu überlegen, was Angel für seinen Bruder empfinden mochte. Sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen und Francis hatte kein einziges Mal erwähnt, dass sein Bruder der berüchtigte Angel DeMarco sei. »Du machst dich über mich lustig«, sagte sie anklagend.
»Nein. Ich versuche nur, einen Weg zu finden, dir etwas zu sagen, aber das gelingt mir irgendwie nicht.«
»Dann sag's einfach. Ich bin kein Säugling mehr, der beschützt werden muss.«
Er drehte sich zu ihr und sah sie an. Dann ergriff er ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Sie konnte den pochenden Rhythmus unter dem weichen Flanell seines Hemdes spüren. »Fühl meinen Herzschlag«, sagte er.
Sie nickte.
»Der ist von...« Er schluckte schwer und sah ein wenig krank aus. »Das ist Francis' Herzschlag.«
Es dauerte eine Sekunde, bis sie die Bedeutung der Worte begriff. Und als sie begriff, zog sie die Hand fort und blinzelte ihn an. »W... willst du damit sagen ...«
»Ich habe das Herz deines Onkels Francis in mir.«
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Lina?«
Sie hörte die Angst in seiner Stimme und das verwirrte sie. Sie wandte sich zu ihm. Für einen Lidschlag starrte sie in seine besorgten Augen und hatte das Gefühl, als fiele sie durch eine endlose Dunkelheit. Sie dachte verrückterweise: Ich kenne diesen Mann überhaupt nicht. Er ist mein Vater und ich kenne ihn überhaupt nicht...
Dann wurde ihr bewusst, dass er Angst hatte, weil sie ihm wichtig war. Er hatte Angst, dass sie glauben würde, er hätte etwas Böses getan. Er hatte Angst vor ihr. Ein weiteres winziges Stück des Puzzles passte - Liebe bedeutete immer, ein wenig Angst zu haben.
Sie lächelte ihn an und fühlte in diesem Augenblick etwas, das so groß war, so atemberaubend cool, dass sie am liebsten vor lauter Freude darüber geschrien hätte. »Du hast Francis' Herz«, sagte sie leise.
Er wurde so still, als ob er nicht mehr zu atmen schien. »Ja.«
Da wusste sie, dass sie alles Weitere in der Hand hatte. Was immer sie sagte, würde für immer über ihre Beziehung entscheiden. Tränen verwischten ihr Blickfeld und sie wischte sie beiseite. »Ich wusste, dass er mich nicht verlassen würde«, flüsterte sie.
Erleichterung breitete sich über sein Gesicht aus. »Du bist wirklich was Besonderes, Lina.«
Ganz langsam breitete er die Arme aus und sie schmiegte sich an ihn. Es war das erste Mal, dass er sie in die Arme nahm, und sie wusste, dass sie es nie vergessen würde, niemals. Es fühlte sich an wie Francis ... und es fühlte sich an wie Angel, fühlte sich an, als ob sie beide sie hielten, beide Männer, die sie so sehr liebte.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie eng umschlugen dort auf der obersten Stufe saßen, über alles und jedes sprachen, das ihnen in den Sinn kam. Aber irgendwann gegen zehn Uhr, etwa um die Zeit, als die alte Mrs Hendicott zum letzten Mal ihre Hintertür öffnete und ihren Tigerkater nach draußen schob, begann es zu regnen. Langsame, schwere Tropfen, die mit dem Hauch eines für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Windes kamen. Seltsamerweise war keine Wolke am Himmel.
Hinter ihnen knarrte die Verandaschaukel und verschob sich seitwärts, als ob eine unsichtbare Hand ihr einen kräftigen Stoß versetzt hätte. Sie machte ein winselndes, quietschendes Geräusch. Der Wind wurde heftiger und pfiff durch das Dachgesims und es klang - verrückterweise - wie Onkel Francis' Lachen.