Kapitel 1
Reporter hatten das Ereignis jetzt seit Tagen verfolgt. Die Schlagzeilen überschlugen sich. Es gab Andeutungen über Drogenmissbrauch und unsittliches Verhalten der Berühmtheiten, die in die kleine Stadt in Oregon gekommen waren. Es war eine Premierenfeier für einen großen Kinofilm. So etwas hatte es in LaGrangeville noch nie gegeben. In all den Jahren war die Elks Hall nur für ruhige Konferenzen benutzt worden, heute aber dröhnte sie, war von lauter, misstönender Musik erfüllt. Stadtbewohner und Fotografen schwärmten über die schmale Hauptstraße, sahen sich in den verspiegelten Fenstern der vorbeikriechenden Limousinen und warteten darauf, dass etwas Explosives geschah, etwas, das absolut Hollywood war.
Aber dennoch, trotz all dieser Artikel und Interviews und Paparazzi, wusste niemand, wie nahe die Schlagzeile des Enquirer an der Wahrheit sein würde: Es war eine zum Sterben schöne Party.
Angel DeMarco stieg aus dem vollklimatisierten Kokon der Limousine. Durch einen Nebel von Zigarettenrauch und Nieselregen sah er die Menge, die sich auf der Straße versammelt hatte. Gesichtslose Körper drängten sich hinter einer langen, gelben Polizeiabsperrung.
»Er ist es, DeMarco!«
Kameras eruptierten in gleißenden Blitzlichtgewittern. Der Regen wirkte surrealistisch, Streifen von regenbogenfarbenem Silber, Pfützen von unglaublichem Licht auf den schwarzen Straßen.
»Angel... schau mal her! AngelAngelAngel...«
Ihre Bewunderung löste in ihm ein Gefühl von Erhabenheit aus. Gott, wie sehr er es liebte, berühmt zu sein. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, stieß den Rauch langsam aus und ließ dann mit einem Strahlen das Lächeln aufblitzen, dieses Grinsen, das die Illustrierte People erst letzte Woche als »Zwanzigtausend-Megawatt-Lächeln« bezeichnet hatte. Er winkte. Der graue Faden seines Zigarettenrauchs ringelte sich in die Luft.
Er trat beiseite, damit seine Freundin - ihr Name fiel ihm beim besten Willen nicht ein - aus dem Auto steigen konnte.
Sie kam langsam heraus. Ein hochhackiger schwarzer Lederschuh und ein langes, aufreizendes Bein schössen aus der Dunkelheit. Ihr Absatz klackte hart auf dem Asphalt. Sie beugte sich vor, schob ihre aufreizende Mähne von wasserstoffsuperoxydiertem Haar heraus, gefolgt von einem prachtvollen, üppigen Dekollete, und glättete ihr pinkfarbenes Gummikleid, während sie lächelte und winkte.
Angel rechnete der Frau hoch an, dass sie wusste, wie sie sich in Szene zu setzen hatte.
Er nahm ihre Hand und zog sie auf seine bewundernden Fans zu. Ihre lächerlichen Absätze klackten und rutschten auf dem glatten Asphalt, doch das Geräusch wurde bald von dem Gebrüll der Menge übertönt, als diese merkte, dass er auf sie zukam.
Junge Mädchen kreischten und streckten ihre Hände nach ihm aus. Ein paar von ihnen erkannte er wieder - es waren dieselben sommersprossigen Kleinstadtteenager, die die Schule geschwänzt hatten, um ihm bei den Dreharbeiten zu seinem Film zuzuschauen. Sie hatten jeden Tag am Set gestanden, sich hinter den Absperrungen gedrängt, gekreischt und gekichert und geweint, wenn er zum Dreh einer Szene aus seinem Wohnwagen gekommen war.
Sie hatten nichts von ihm verlangt, diese unzähligen Bewunderinnen, nichts außer seiner Präsenz. Er konnte wüst sein und unreif und egoistisch, aber es war ihnen egal - wichtig war ihnen nur, dass er auf der Leinwand alles gab. Er schenkte ihnen sein breitestes, verführerischstes Lächeln, ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Er schenkte jedem Mädchen einen Augenblick, einen einzigen Herzschlag seiner Zeit, indem er eine nach der anderen, nur sie allein, ansah.
»Angel, gibst du uns ein Autogramm? Wie findest du La-Grangeville? Wann wird der Film starten? Wird die richtige Premiere hier sein?«
Die Fragen kamen wie immer, schössen wie Pfeile aus dem Regen. Einige hörte er, andere nicht, aber er wusste, dass das egal war. Sie erwarteten keine Antwort, sie wollten einfach in seiner unmittelbaren Nähe sein, sich für eine Sekunde ihres so langweiligen Lebens auch in seinem Hollywoodruhm sonnen.
»Angel, darf ich mich mit dir fotografieren lassen?«
Er blickte von der Autogrammkarte auf, die er signierte, und sah das junge Mädchen an, das die Frage gestellt hatte. Sie war klein und dicklich, mit Wangen, die wie Porzellan aussahen, und Wellen von gelocktem braunem Haar.
Er wusste sofort, was für eine Art Mädchen das war - sie war das Mädchen, das nie zu den tollsten Partys eingeladen wurde und verzweifelt versuchte, so zu tun, als sei ihr das egal.
Er kannte das alles nur zu gut. Selbst jetzt noch, Jahre später, konnte er sich daran erinnern, was das für ein Gefühl war, ein unreifer Junge zu sein, der nur von weitem zuschauen durfte. Daran, wie sehr das schmerzte.
Er lächelte sie an und ihre Augen weiteten sich überrascht. Sie starrte ihn an als ob er den Mond aufgehängt hätte, und mehr war nicht nötig, das genügte - dieser eine Blick einer Fremden schoss wie eine Droge durch sein Blut.
»Aber sicher, mein Schatz. Ich fühle mich geehrt.« Er löste sich von seiner Begleiterin und ging geduckt unter der Polizeiabsperrung hindurch. Er spürte überall Hände an sich, Hände, die über sein Jackett glitten, an seinem Haar zogen. Früher hatte ihn diese unerwünschte Intimität gestört, aber er hatte gelernt, damit zu leben, sogar sie zu lieben, solange sie nicht zu weit gingen. Er schlang einen Arm um das Mädchen und zog es eng an sich, duckte sich unter dem Vorsprung des alten Ziegelgebäudes. Ein anderes Mädchen - hoch aufgeschossen und schlaksig - machte ein Foto von ihnen.
»Du siehst umwerfend hübsch aus«, sagte er. Das Mädchen trug ein bodenlanges weißes Satinkleid.
»Heute ist Homecoming Party«, lispelte sie und blendete ihn fast mit dem Silber ihrer Zahnspangen.
Homecoming - nach Hause kommen. Das hatte er seit langer Zeit nicht mehr gehört, fast ein Leben lang, und plötzlich fühlte er sich alt. Wenn er der Vater dieses Mädchens wäre, hätte er dafür gesorgt, dass sie mit Perlen und glitzernd gekleidet auf diesen Schulball ging. Er überlegte, was das für ein Gefühl sein mochte ...
Er verdrängte diesen vagen Anflug eines Bedauerns. »Wo ist dein Partner?«
Röte stieg in ihre fleischigen Wangen. »Ich habe keinen. Ich und ein paar... Mädchen wollten einfach nur zuschauen. Wir waren im Dekorationskomitee ...«
Für einen Sekundenbruchteil war er nicht Angel DeMarco, der Filmstar. Er war Angel DeMarco, der Junge, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte. »Wo findet der Ball statt?«, fragte er sanft.
Sie deutete die Straße hinunter. »In der Highschool... in der Turnhalle.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, fasste er das Mädchen bei der Hand und führte sie die Straße hinunter. Die Menge wurde still, teilte sich dann vor ihnen.
»Angel!«
Er hörte seinen Namen, blieb stehen und drehte sich um. Val Lightner, sein Agent und Freund, stand neben der Frau im Gummikleid. Die beiden winkten ihm zu. »Wo willst du hin?«, rief Val, während er seine Zigarette auf die Straße schnippte. »Die warten drinnen auf dich.«
Angel grinste. Das war das Größte, wenn man berühmt war - sie warteten immer. »Bin gleich zurück.« Noch immer lächelnd, führte er das von Ehrfurcht ergriffene Mädchen über die Straße. Gemeinsam betraten sie die Turnhalle. Der Raum war mit etwas dekoriert, das ursprünglich wohl eine Unmenge von Toilettenpapier gewesen war. Oben auf der Bühne produzierte die Band eine grauenhafte Version von Madonnas »Crazy for You«.
Er hörte Leute keuchen, als er das Mädchen auf die Tanzfläche führte. Finger wurden auf sie gerichtet, Gläser fielen zu Boden. Das Kichern hörte auf. Aber er sah sich nicht um. Er schaute das Mädchen an. Nur das Mädchen. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«
Sie öffnete ihren Mund, um zu antworten, aber außer einem hohen Quietschen kam nichts heraus.
Er nahm sie in seine Arme und tanzte mit ihr die letzten dreißig Sekunden des Liedes, und als es vorbei war, zog er sich zurück.
Er fühlte sich überraschend gut, als er die Turnhalle verließ. Die Kinder umschwärmten ihre neue Königin.
»Wie rührend«, kam eine Stimme von draußen.
Angel zwang sich zu einem Grinsen. »Elf bis siebzehn«, sagte er barsch. »Das ist mein Publikum.«
Val schlug Angel auf die Schulter und zog ihn hinaus in die regnerische Nacht. »Du wirst Frauen haben, die bei >Hard Copy< schluchzen, Himmel auch, und Teenager, die dir Einladungen zu ihrem Highschoolball schicken.«
»Ja, ja. Ich weiß. Jetzt lass uns auf diese verdammte Party gehen. Ich brauche einen Drink.«
Sie rannten über die Straße zurück. Angels Begleiterin stand genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte, im Regen. Für einen Sekundenbruchteil wünschte er sich, jemand anderen mitgebracht zu haben - jemand, der wichtig war -, aber er konnte sich niemanden vorstellen, der das hätte sein können.
Verärgert über den Gedanken ergriff er die Hand der Frau und zog sie zur Elks Hall. Gemeinsam, die Köpfe vor dem Regen eingezogen, betraten sie das Gebäude und stiegen die wackelige Treppe zu dem riesigen Foyer hinauf. Das schwache Licht der Deckenbeleuchtung fiel auf die düstere Innenausstattung, schuf Nester von trübem Gold zwischen den Schatten. Oben ließ eine Heavy Metal Band die Bodenbretter erzittern. Staub fiel durch die Fugen. An einer Wand war eine improvisierte Bar aufgebaut worden und Dutzende von Berühmtheiten mischten sich mit Möchtegernprominenz und tranken Schnaps.
Angel fühlte sich, als sei er heimgekommen. Er atmete tief und befriedigt ein und genoss alles an diesem Augenblick - die hämmernde Härte der Musik, den aufdringlich süßen Geruch von Marihuana, die Ausdünstung zu vieler Körper in einem viel zu kleinen Raum. Val murmelte ein schnelles »Auf Wiedersehen«, etwas über sich entspannen wollen, und verschwand in der Menge.
»Hast du Durst?«, fragte seine Begleiterin süß.
Angel setzte zu einer Antwort an, doch bevor er ein Wort herausbekommen konnte, spürte er, dass sich etwas in seiner Brust zusammenzog. Ein Zucken durchfuhr seinen Körper, dann drehte er seine Schulter, um den Krampf wegzubekommen.
Sie runzelte die Stirn. »Bist du okay?«
Der Schmerz ließ nach und er lächelte die Wie-hieß-sie-gleich-noch an. »Mein Körper reagiert auf Alkoholmangel«, sagte er leichthin, während er eine Hand über die latexüberzogene Kurve ihrer Hüfte gleiten und sie dort mit einer Vertrautheit verweilen ließ, die es nicht gab, die er bei einer Frau wie ihr nicht brauchte.
Sie schenkte ihm ein strahlendes Jacketkronenlächeln. »Tequila?«
Er grinste. »Du hast den Enquirer gelesen. Unartiges Mädchen.« Er zog sie dicht an sich. Der Gardenienduft ihres Parfüms drang in seine Nase. »Weißt du auch, was ich mit unartigen Mädchen mache?«
Sie befeuchtete ihre Lippen und schnurrte fast. »Ich hab's gehört.«
Er starrte in ihre Augen, von reichlich Mascara und blauem Lidschatten umrahmt, und sah sein eigenes Spiegelbild darin. Für eine Sekunde war er enttäuscht darüber, dass sie so leicht zu haben war, dass alles so leicht war, und dann war der Augenblick verflogen. Er war zu nüchtern. Das war das Problem. Er dachte zu viel nach, wenn er nüchtern war, wollte zu viel. Wenn er betrunken oder high war, war er Angel DeMarco, der für den Academy Award nominierte Schauspieler. Er war jemand und er brauchte dieses Gefühl wie die Luft zum Atmen.
»Hol mir den Drink, ja, Schätzchen?«
Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und wackelte von ihm weg, entschwand zur anderen Seite des Raumes, zur Bar. Ihr chirurgisch aufgepeppter Körper war perfekt - alle Vertiefungen und Wölbungen wurden von rosa Gummi umhüllt. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Kehle wurde trocken. Er lehnte sich an die raue Holzwand und überlegte, auf welche Weise er ihren appetitlichen Körper auskosten würde, stellte sich vor, wie sie ineinander verschlungen waren, völlig nackt und high, und loslegen würden wie...
Plötzlich wurde es ihm flau im Magen. Zuerst glaubte er, es sei nichts - einfach Alkoholmangel -, dann verschwamm sein Gesichtsfeld, seine Innereien krampften sich zusammen, und er wusste, was geschah.
»O Gott...« Er löste sich von der Holzwand und spürte sie - diese unsichtbare Faust, die seine Brust zusammenpresste.
Alarmglocken dröhnten in seinem Kopf, laut genug, um das Hämmern der Musik zu verdrängen. Er saugte gierig die rauchgeschwängerte Luft ein, schluckte, keuchte, versuchte, seine Lunge zu füllen. Ein stechender Schmerz fuhr ihm durch die Brust, fraß sich an seinem linken Arm hinunter, bis seine Finger kribbelten und heiß waren. Er umklammerte das glatte Holzgeländer, aber es war so lose wie ein alter Zahn und wackelte unter seinem Griff.
»O Gott...« Nicht jetzt, nicht hier ...
Schweiß sickerte in einer kalten Spur aus seinem Haaransatz. Die brüchigen Holzstufen, die zum Tanzboden hochführten, schienen sich vor seinen Augen zu vergrößern. Die dunklen Dielen gingen ineinander über, verschwimmend, verlängert wie der Korridor in diesem Film Poltergeist. Für einen Sekundenbruchteil sah er JoBeth Williams schreiend den türlosen weiten Raum hinunterrennen.
Weshalb hatte sie geschrien? Er versuchte, sich auf diese einzige bedeutungslose Frage zu konzentrieren. Auf irgendetwas, um den tobenden Schmerz in seiner Brust zu stillen. Egal, was es war.
»Angel?«
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass jemand seinen Namen genannt hatte. Als er verstand, versuchte er aufzublicken, konnte sich aber kaum bewegen. Sein Herz hämmerte und schlug, ein ungeöltes Getriebe, das immer wieder aus dem Rhythmus kam. Er befeuchtete seine trockenen Lippen und versuchte angestrengt zu lächeln, während er langsam seinen Kopf hob.
Die Frau - Judy hieß sie, wie er sich plötzlich erinnerte -stand vor ihm, hielt eine Flasche Tequila und zwei Schnapsgläser. Ein Salzstreuer steckte in dem Spalt zwischen ihren Brüsten.
Ihr hübsches, stark geschminktes Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Angel?«
»Ich...« Das Wort kam mit einem pfeifenden Atemzug heraus und blieb hängen. Er versuchte weiterzusprechen, konnte aber nicht klar denken, konnte nichts sehen. Gott, er konnte nicht atmen. Es schmerzte so. »Ich fühl mich nicht gut. Hol Val.«
Panik breitete sich schlagartig auf ihrem Gesicht aus. Sie warf einen schnellen Blick die Treppe hinauf, zu dem Gedränge der Partygäste. Irritiert hob sie ihre sorgfältig gezogenen Brauen.
Er ließ das Geländer los und packte ihr schlankes Handgelenk. Sie gab ein leises, keuchendes Geräusch von sich und versuchte, sich zu befreien. Aber er ließ sie nicht los. Er hielt sie mit aller Kraft fest, die noch in ihm war. »Hol...«
Es traf ihn voll. Sengender, roter Schmerz, explodierend, seine Brust zermalmend. Er konnte nichts anderes tun, als dort zu stehen, schwankend, keuchend, seine Hand auf sein Herz gepresst. Schmerzen, o Gott, Schmerzen, wie er sie seit Jahren nicht gehabt hatte.
»Bitte...«, brachte er mühsam keuchend heraus, »lass mich ... nicht...«
Sterben. Er wollte sagen, lass mich nicht sterben, aber er konnte das Wort nicht herausbringen, bevor die Welt schwarz wurde.
Er erwachte durch das elektronische Blip-blip-blip des EKG-Monitors. Computererzeugte Geräusche, elektronisch und unmenschlich.
Und wunderschön, Gott, so wunderschön.
Er lebte. Er hatte es geschafft, diesen Hurensohn von Sensenmann wieder bezwungen.
Er konnte die Medikamente in seinem Blut spüren, die verschwommene Weichheit von Demerol, das ihm das Gefühl vermittelte, als treibe er auf einem warmen, tröstenden Meer. Er wusste, dass die Wirkung der Medikamente bald nachlassen würde, wusste, dass der Schmerz wiederkommen würde, seine Brust zuschnürend, seine Lunge und sein Herz durchstechend, aber das war ihm in diesem Augenblick egal. Er lebte.
Die Tür wurde mit einem unangenehmen Knarren aufgestoßen. Gummibesohlte Schuhe quietschten über den Boden -der zweifellos mit weißem Linoleum belegt war - und blieben neben dem Bett stehen.
»Schön, Mr DeMarco, Sie sind wach.«
Es war eine tiefe, maskuline Stimme. Sehr sachlich.
Arzt. Kardiologe.
Angel öffnete langsam seine Augen. Ein großer dürrer Mann mit einem tief zerfurchten Gesicht und harten schwarzen Augen starrte auf ihn herab. Ungebändigtes graues Haar sträubte sich in einem Dutzend verschiedener Richtungen um sein Gesicht. Einstein auf Slimfastkur.
»Ich bin Dr. Gerlaine. Chef der Kardiologie im Valley Hospital hier in LaGrangeville.« Er bückte sich, zog einen Stuhl heran und setzte sich, während er Angels Patientenakte aufschlug.
Jetzt kommt es, dachte Angel. Der übliche Sermon.
Gerlaine klappte die Mappe zu - so verdammt symbolisch, dieses leise Schließen. »Sie sind ein sehr kranker junger Mann, Mr DeMarco.«
Angel grinste. Er lebte noch, atmete noch, und er hatte dieses Arztgesülze seit Jahren gehört. Sie spielen mit geborgter Zeit, Mr DeMarco. Sie müssen Ihren Lebenswandel ändern -Ihren Lebenswandel ändern - Ihren Lebenswandel ändern. Diese Gespräche waren in seinem Gehirn wie auf Tonband festgehalten, liefen ab, wurden zurückgespult, begannen Millionen Mal im Dunkel der Nacht aufs Neue, aber er wollte seinen Lebenswandel nicht ändern, wollte sich nicht gesund ernähren, Sport treiben oder sich an die Vorschriften halten.
Er war vierunddreißig Jahre alt und vor Jahren hatte er den Weg über eine dunkle Straße der Rebellion um der Rebellion willen angetreten. Er wusste, dass es eine nutzlose, bedeutungslose Existenz war - und das war es, was ihm daran gefiel. Niemand verließ sich auf ihn oder brauchte ihn. Er flitzte wie ein Akrobat von einer Party zur nächsten, feierte durch, schluckte Schnaps, hatte Sex und zog weiter.
»Ja, ja, ja«, antwortete er. »Ganz im Ernst.«
Dr. Gerlaine runzelte die Stirn. »Ich habe mit Ihrem Arzt in Nevada gesprochen.«
»Kann ich mir denken.«
»Er sagte mir, Sie seien der Alptraum eines Kardiologen.«
»Deshalb mag ich Kennedy ja so. Er ist ehrlicher als jeder normale Arzt.«
Dr. Gerlaine schob die Patientenkarte zurück in ihre Hülle. »Kennedy sagt, er habe Sie vor sechs Monaten darauf hingewiesen, dass Sie - seine Worte - tief in der Scheiße sitzen würden, wenn Sie wieder einen Herzanfall bekommen. Na schön, mein Sohn, viel tiefer geht's nicht.«
Angel lachte. »Aber hallo! Nun mal langsam. Ich kapiere diesen Fachjargon nicht so schnell.«
»Kennedy sagte mir, dass Sie Witze machen würden. Aber ich finde all das überhaupt nicht komisch. Sie sind ein junger Mann. Reich und berühmt, wenn das stimmt, was die Mädchen von der Schwesternstation sagen.«
Angel dachte an die Aufregung, die seine Anwesenheit hervorgerufen haben musste, und spürte einen Adrenalinstoß. »Sie haben Recht. Ich bin beides.«
Es entstand eine Pause, bevor der Arzt weitersprach. »Sie nehmen dies alles nicht ernst genug, Mr DeMarco. Sie sind schon seit langer Zeit krank. Die Virusinfektion, die Sie als junger Mann hatten, hat Ihr Herz geschwächt. Aber dennoch haben Sie getrunken und geraucht und Drogen genommen. Die nüchterne, harte Wahrheit ist, dass Sie Ihr Herz im Eiltempo verschlissen haben, und wenn wir nicht bald etwas tun, werden wir vielleicht überhaupt nichts mehr tun können.«
»Das habe ich schon mal gehört. Aber ich bin noch da, Doktor. Und wissen Sie, warum?«
Gerlaine musterte ihn. »Sicherlich nicht deshalb, weil Sie die Anweisungen eines Arztes befolgen.«
»Nee.« Seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ich verrate Ihnen mein Geheimnis, Doktor: Nur die Guten sterben jung.«
Gerlaine lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete Angel. Minuten verrannen, während der Monitor rhythmisch pulsierte. Schließlich sprach der Arzt. »Haben Sie eine Frau, Mr DeMarco?«
Angel warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Ich denke, sie wäre hier, wenn ich eine hätte.«
»Kinder?«
Er grinste. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Doktor Kennedy sagte, dass er in all den Jahren, die er Sie behandelt hat, außer Ihrem Agenten und einer Horde Reporter nie jemand gesehen hat, der Sie im Krankenhaus besuchte.«
»Was soll das, Doktor? Ist das eine makabre Version von >Dies war Ihr Leben<? Wollen Sie meinen Trainer dazu bringen, zu bestätigen, dass ich nie ein guter Teamspieler war?«
»Nein. Ich frage einfach: Wer wird um Sie trauern, wenn Sie sterben?«
Es war eine gemeine Frage, gestellt, um zu verletzen, und genau dies bewirkte sie. Er dachte plötzlich an seinen Bruder Francis. Auf einmal hatte er wieder seine Kindheit vor Augen und die Erinnerung daran war so eindringlich und süß, dass er das Gras riechen konnte und den Regen und das Meer.
Über die Vergangenheit nachzudenken bewirkte, dass er sich ... zerrissen fühlte. Er wusste, dass seine Bekannten in Hollywood oberflächlich waren. Nicht die Art von Freunden, wie sein Bruder einmal einer gewesen war. Sie sahen ihn nicht, diese Clique, diese Bande von Begleitern, die mit ihm von einer Party zur anderen zogen, wie das im Filmgeschäft üblich war.
Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er ein tiefes Bedauern, empfand den Verlust all dessen, vor dem er davongelaufen war, den Verlust des Bruders, den er verlassen hatte. Er verdrängte dieses Gefühl unbarmherzig und starrte den Arzt durchdringend an. Er wollte ihm sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Aber, verdammt, er brauchte den Mann. Es war Zeit, den Charme spielen zu lassen, der ihn so schnell so weit gebracht hatte. »He, Sie haben natürlich Recht. So muss dieser berühmte Satz entstanden sein von wegen >so ernst wie ein Herzanfalls Also, Sie können Ihren Arsch darauf verwetten, dass ich meine Gesundheit von jetzt an ernst nehmen werde. Keine Drogen - oder jedenfalls kaum noch welche. Und ich werde den Schnaps sein lassen. Nur noch Bier. Bier ist doch in Ordnung, oder?«
Gerlaine starrte ihn sichtlich bekümmert an. »Wenn Sie nicht schnell etwas tun, Mr DeMarco, werden Sie sterben. Bald. Und was immer Sie an Träumen und Hoffnungen haben, wird mit Ihnen sterben. Es gibt keine zweite Chance.«
Angel lächelte. Immer dieselbe alte Leier. »Definieren Sie >bald< für unser Publikum.«
Gerlaine reagierte mit dem erwarteten Schulterzucken.
Angel lächelte triumphierend. So war es immer - dieses Schulterzucken war die Körpersprache eines Arztes für einen beliebigen Zeitpunkt zwischen dieser Sekunde und dem Jahr 2010. Sie hatten keine wirklichen Antworten, nur Ratschläge und noch mehr Ratschläge. »Sie meinen, ich werde eines Tages sterben. Okay, Mann, das werden Sie auch.«
»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Gerlaine gelassen. »Wenn Sie nicht etwas tun, Mr DeMarco, dann, glaube ich, werden Sie dieses Jahr sterben.«
Angels anmaßendes Lächeln verflog. »Dieses Jahr? Aber es ist schon fast Oktober.«
»Ja, richtig.«
Angel konnte nicht begreifen, was ihm gesagt worden war. Etwas stimmte nicht. Er wurde vielleicht schwerhörig. »Wollen Sie mich verarschen?«
Gerlaine sah ihn überlegen an. »Ich >verarsche< Patienten nicht, Mr DeMarco. Ich informiere sie.«
Dieses Jahr. So etwas hatte ihm noch niemand zuvor gesagt. Es war immer ein Herumreden und Herumdrucksen gewesen, von wegen »irgendwann« und »eines fernen Tages«. Vorträge über Alkoholmissbrauch und der zusätzlichen Wirkung von Zigarettenrauchen und zu fetthaltiger Ernährung.
Angel wollte auf etwas einschlagen, seine Faust in die massive Ziegelwand rammen und spüren, wie der vertraute Schmerz durch seinen Arm schoss. »Dann bringen Sie mich auf Vordermann«, schnappte er. »Schneiden Sie mich auf und reparieren Sie den Schaden.«
»So einfach ist das nicht, Mr DeMarco. Der Schaden, den dieser letzte Anfall bewirkt hat, ist zu groß. Ich habe mit Chris Alienford vom St.-Joe's-Krankenhaus gesprochen und er ist wie ich der Meinung, dass eine bloße Operation nicht hilft.«
Schaden. Zu groß.
Schlimme Worte, sehr schlimme Worte.
»Wollen Sie mir damit sagen, dass ich sterben werde und Sie nichts tun können, um mich zu retten?«
»Nein. Ich sage Ihnen damit, dass eine übliche Herzoperation keine Lösung ist. Dazu ist es zu spät. Sie brauchen ein neues Herz.«
»Nein. Sie meinen doch nicht etwa eine ...«
»Transplantation.«
Für einen Sekundenbruchteil konnte Angel nicht atmen. Eiskalte Furcht stach tief, so tief in sein Herz. »Jesus«, sagte er und keuchte. »Jesus...«
Transplantation. Ein neues Herz. Das Herz eines anderen in seiner Brust. Das Herz eines Toten. Schlagend, schlagend.
Er starrte Gerlaine an, versuchte, mit normaler Stimme zu sprechen, sich furchtlos zu geben. Er zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Kommt nicht in Frage. Ich kaufe nicht mal gebrauchte Autos.«
»Das ist kein Witz, Mr DeMarco. Ihr Herzleiden hat das Endstadium erreicht und das bedeutet, es ist so schlimm, wie es klingt. Sie werden sterben, wenn Sie kein gesundes Herz bekommen. Wir werden Sie auf die Transplantationsliste setzen und hoffen, dass wir rechtzeitig einen Spender finden.«
Einen Spender. Angel glaubte für einen Augenblick, er müsse kotzen. »Und mir damit ein Leben geben als was - als Frankensteins Lieblingsmonster?«
»Es ist eine Operation, Mr DeMarco, kaum anders als andere Operationen. Sicher wird es gewisse Vorschriften geben, Einschränkungen, was Ihren Lebenswandel und die Ernährung anbelangt, aber mit ein paar kleinen Veränderungen ...«
Angel war fast sprachlos. »Himmel auch ...«
»Es gibt ausgezeichnete Psychotherapeuten, die dazu ausgebildet sind, in Zeiten wie diesen zu helfen ...!«
»Ach, wirklich?« Angel unterdrückte die Antwort noch rechtzeitig. Er wusste, dass er gerade jetzt charmant zu sein hatte, versuchen musste, das, was er haben wollte, mit Süßholzraspeln und nicht mit Ausrasten zu bekommen, aber er schaffte es nicht. Er fühlte sich, als stürze er von einer Klippe in ein tiefes, dunkles Loch, und die Hilflosigkeit dabei löste in ihm den Wunsch aus, vor Wut zu schreien. »Wie viele Herztransplantationen haben Sie schon durchgeführt, Mr Chef der Herzabteilung im LaGrangeville Hospital?«
»Keine, aber ...«
»Nichts aber. Ich glaube Ihnen kein Wort. Kein Wort. Haben Sie kapiert? Bereiten Sie alles vor, um mich in das beste Herzzentrum des Landes fliegen zu lassen.« Er funkelte den Arzt an. »Und das sofort.«
Gerlaine stand langsam auf. »Kennedy sagte mir, dass Sie schlecht darauf reagieren würden.«
»Schlecht reagieren?«, äffte Angel ihn nach. »Schlecht darauf reagieren? Soll das vielleicht ein Witz sein?«
Gerlaine schob den Stuhl beiseite und seufzte tief. Er schüttelte den Kopf. »Ich werde die Vorbereitungen für eine Verlegung treffen. Im St. Joseph's Hospital in Seattle wären Sie am besten aufgehoben. Alienford ist wahrscheinlich der renommierteste Herzchirurg im Lande.«
»Seattle?« Sein Herz hämmerte völlig außer Kontrolle, sorgte dafür, dass dieser idiotische Monitor zu klicken und piepen begann. Er war so wütend, dass er kaum atmen konnte. »Jesus Christus, das ist ja wohl ein Witz. Sie schicken mich nach Hause.«
Gerlaines Gesicht erhellte sich. »Tatsächlich? Ich wusste nicht, dass Sie aus Seattle kommen. Also ...«
»Wenn jemand das herausbekommt - egal wer -, werde ich dieses gottverdammte Krankenhaus so schnell verklagen, dass Sie in einem Pflegeheim Bettpfannen leeren. Haben Sie das kapiert, Doktor?«
»Mr DeMarco, seien Sie vernünftig. Sie sind von einer Hollywoodparty hergekommen. Man hat Sie gesehen.«
»Niemand darf wissen, dass ich ein neues Herz brauche. Lassen Sie sich was einfallen, um das zu verheimlichen, Doktor.«
Gerlaine starrte ihn stirnrunzelnd an. »Sie haben merkwürdige Prioritäten ...«
»Ja, ja, machen Sie nur Witze! Verschwinden Sie endlich aus meinem Zimmer!«
Gerlaine schüttelte den Kopf und schlurfte wortlos zur Tür. Er drehte sich um, schenkte Angel einen langen, besorgten Blick und verließ dann das Zimmer. Die Tür fiel klickend hinter ihm ins Schloss.
Ruhe senkte sich, breitete sich unangenehm über die kahlen Wände und auf das gefleckte Linoleum aus. Der Monitor klickte weiter und weiter und weiter.
Angel starrte auf die geschlossene Tür, spürte, wie das Blut durch seinen Körper schoss, in seinen Schläfen hämmerte, durch die müden alten Klappen seines Herzens gesaugt und wieder hinausgepumpt wurde. Seine Finger waren so kalt, so kalt, und er konnte nicht einmal anständig atmen.
Eine Transplantation.
Er wollte laut darüber lachen, sich einreden, er sei in einem miesen Provinzkrankenhaus, wo man falsch diagnostiziert hatte, und ein Teil von ihm glaubte das auch. Aber eben nicht alles von ihm, nicht der Teil tief, tief in ihm, wo die Furcht immer gelebt hatte, jene verborgene Stelle in seiner Seele, die nicht einmal Schnaps und Drogen erreichen konnten.
Transplantation.
Das Wort drehte sich wieder und wieder und kam zurück.
Transplantationtransplantationtransplantation.
Sie wollten ihm sein Herz herausschneiden.
Medikamente wirbelten tröstend durch Angels Körper. Er konnte seine Augen nicht offen halten und sein Körper fühlte sich schwer an und brannte. Sein Bewusstsein kam und ging mit dem Ticken der Wanduhr.
Nach Hause. Sie schickten ihn nach Hause.
Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, aber die Erinnerungen waren hartnäckig. Diesmal hatte er nicht die Pillen und den Schnaps und die Frauen, um sie zu verdrängen, und ohne diesen Panzer von Betäubungsmitteln war er so verdammt verwundbar. Er schloss seine Augen und langsam, ganz langsam wurde der antiseptische Geruch des Krankenhauses von einer regensüßen Brise fortgeweht. Er hörte den Monitor nicht mehr, sondern das Brummen eines Motors ...
Er war wieder siebzehn ... fuhr mit seinem Motorrad, auf der Harley-Davidson, die ihn seine Seele gekostet hatte. Der Motor dröhnte und schnurrte unter ihm. Er fuhr und fuhr, ohne zu wissen, wohin er wollte, bis er die Ampel erreichte. Das Schild hing in einem absurden Winkel über ihm: Wagon-wheel Estates Trailer Park.
Er ließ das Motorrad voranrollen, fuhr ganz langsam an einem Wohnanhänger vorbei, dann am nächsten und am übernächsten. Jedes dieser Mobilheime hockte auf einem winzigen Streifen Asphalt, Wohnzimmer, aufgebockt auf Betonblöcken, Hinterhöfe aus Kies, zwei Meter im Quadrat messend.
Schließlich gelangte er zu dem Heim seiner Kindheit.
Der Wohnwagen, einst buttergelb, jetzt verschrammt und durch die Zeit grau geworden, steckte in einem von Unkraut überwucherten Grasflecken. Mülleimer, die von Abfall überquollen, säumten den Maschendrahtzaun, der das DeMarco-»Anwesen« vom Grundstück der Wachtels nebenan abgrenzte. Ein verwahrloster Ford Impala stand in gefährlichem Winkel auf der Zufahrt geparkt.
Er hielt neben dem Zaun und stellte den Motor ab. Für eine Sekunde blieb er unsicher sitzen, klappte dann den Motorradständer aus und stieg ab. Er ging den Zaun entlang, über die rissige Asphaltauffahrt und quer über das Band von Presskieselplatten, die zur Vordertür führten.
Während Angel an ihr vorbeiging, warf er einen Blick auf die Mülltonne, sah die zerknüllten Einkaufstaschen aus Papier und die verbogenen Maisdosen, die über den Rand ragten. Immer war es seine Aufgabe gewesen, nie die von Francis, die Müllfassade sorgfältig zu arrangieren. Der wirkliche Müll - die wöchentliche Ration von Gin- und Wodkaflaschen -musste um jeden Preis versteckt werden.
Als ob die Nachbarn das nicht wüssten. Jahrelang hatten sie die vulgären, betrunkenen Schlägereien gehört, die aus dem uringelben Wohnwagen drangen, hatten jeden Samstagabend das Schlagen von Türen und das Zerbrechen von Glas gehört.
Die Musik von Angels Jugend.
Er stieg die quietschenden Metallstufen hoch und blieb oben stehen, starrte auf die schmutzige Tür. Eine Sekunde lang wollte er nicht hineingehen. Er wusste, es war verrückt, siebzehn Jahre alt zu sein und Angst davor zu haben, sein Zuhause zu betreten, aber so war es gewesen, so lange er zurückdenken konnte.
Von drinnen war eine Bewegung zu hören. Der Wohnanhänger verschob sich etwas und knarrte auf den Betonstützen, während sich Schritte der Tür näherten. Plötzlich wurde der Knopf gedreht und die Tür aufgerissen.
Seine Mutter stand im Türrahmen, mit einer Zigarette und einem Glas Gin. Ihre Haut hatte eine kränkliche, gelbgraue Farbe, ein Indiz für ihr Kettenrauchen, und Falten durchzogen ziehharmonikaförmig ihre Wangen. Schwarze Haare - von einer viel zu intensiven Farbe, um natürlich zu sein - hingen in ungepflegten Strähnen in ihr aufgedunsenes Gesicht. Dicke Tränensäcke betonten ihre blutunterlaufenen braunen Augen.
Sie sah ihn an, nahm einen tiefen Schluck von ihrem Gin, leerte das Glas ganz und warf es nach hinten auf den braunen zerlumpten Teppich. »Wo bist du gewesen?«
»Was interessiert's dich?«
Sie rülpste, wischte sich die Feuchtigkeit von ihrem Mund. »Werd mir bloß nicht frech, Junge.«
Angel seufzte. Warum war er hier? Worauf hatte er gehofft? Auf ein Lächeln, einen Willkommensgruß, eine Aufforderung, hineinzukommen? Wann würde er endlich aufhören, etwas von seiner Mutter zu wollen? »Ich hab ein Problem, Ma.«
Eine buschige graue Augenbraue wanderte nach oben. »Du hast Schwierigkeiten.« Sie sagte das ohne die Andeutung einer Emotion. Es war eine sachliche Feststellung.
»Ja.«
Sie zog fest an ihrer Zigarette und blies ihm dann den Rauch ins Gesicht. »Was willst du von mir?«
Das saß. Er war wütend und enttäuscht. »Nichts.«
Sie schnippte die noch brennende Zigarette auf die Zufahrt. »Francis hat mir gestern sein Zeugnis gezeigt. War das schönste Geschenk, das eine Mutter bekommen kann.«
Angel kämpfte gegen den augenblicklich einsetzenden Groll an, wehrte sich dagegen, sich zu etwas Unüberlegtem hinreißen zu lassen. So war es immer mit seiner Mutter gewesen und so würde es immer sein. Francis war ihr Liebling, ihr blonder Junge. Francis, der Gute und Reine, Francis, der Messdiener. Ihre Eintrittskarte in den Himmel. Und Angel war ihr aufmüpfiger und störrischer Fehler. Wie viele Male hatte sie ihm erzählt, sie hätte besser 'ne Abtreibung mach'n soll'n?
»Willst'n Drink?«, fragte sie, wobei sie ihn noch immer anstarrte.
»Sicher, Ma«, sagte er müde. »Ich nehme einen Drink.«
»Martini?«
Er wusste, wie ihr Martini war - ein Viertelliter Gin und zwei Eiswürfel. »Schön.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich von ihm ab und ging in die Küche.
Er folgte ihr widerwillig in das düstere Innere. Mattes Licht fiel durch einen schmutzigen beigen Lampenschirm, von dem schäbigen Teppich widergespiegelt. Ein verschossenes, bronzefarbenes Velourssofa stand da, an die Wand mit dem Holzpaneelimitat gepresst. Spanplattentische waren mit Klatschmagazinen übersät. Aschenbecher stapelten sich darauf. Auf dem Boden, neben einem wuchtigen schwarzen Fernsehsessel, breitete sich eine feine Ascheschicht aus.
Angel nahm auf dem durchgesessenen Sofa Platz. Binnen Sekunden war seine Mutter wieder bei ihm. Die Gläser mit den Drinks klirrten in ihren Händen. Er versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, dass sie nicht sprach. Sie wollte sich nicht mit Angel unterhalten, wollte nicht mit ihm zusammen sein, aber sie hatte immer Zeit gehabt, mit ihm zu trinken.
Damals, als er noch ein Kind war, elf Jahre alt, brachte sie ihn mit einem mütterlichen Schubs auf den Weg zum Alkoholismus. Sie brauchte jemanden, mit dem sie trinken konnte, aber den frommen Francis forderte sie nie dazu auf. Angel war die perfekte Wahl - solange er nicht redete.
Es war rührend, wie sehr er diese Zeit mit ihr genossen hatte.
Für eine Weile hatte er das Gefühl, sie habe ihn ausgewählt, sie wolle mit ihm zusammen sein. Aber als er in die siebte Klasse kam, kapierte er, wie es wirklich war. Sie hätte sogar mit Adolf Hitler getrunken, falls der in der »Cocktailstunde« vorbeigekommen wäre. Sie hätte alles getan, um ihrem durchweichten Hirn zu beweisen, dass sie eine Gesellschaftstrinkerin war.
So saßen sie scheinbar eine Ewigkeit da, er auf dem Sofa, sie in dem Fernsehsessel, und tranken schweigend. Das klirrende Eis und die Schluckgeräusche wirkten in dem stillen Raum außergewöhnlich laut. Angel wollte ihr sagen, weshalb er eigentlich gekommen war - um ihr Lebewohl zu sagen -, aber er würde den Ausdruck in ihren Augen nicht ertragen können, wenn er es sagte. Sie hätte sofort gewusst, dass er vor Schwierigkeiten davonlief, und ihr triumphierendes Lächeln würde alles bestätigen, was sie je über ihn gesagt hatte.
Nach einer Weile hörte er ein Auto vorfahren. Der Motor blubberte, spuckte, erstarb. Schritte hallten auf den Metallstufen.
Ma setzte ihren Drink ab und eilte zur Tür, riss sie weit auf. Sie breitete ihre Arme aus und juchzte vor Freude. »Frankie!«
Angel setzte seinen Drink ab und stand auf. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er stand da und wartete. Sein Herz begann heftig in seiner Brust zu schlagen. Er war noch nicht dazu bereit, seinem Bruder Lebewohl zu sagen, noch nicht ...
Ma trat beiseite und schob ihren Liebling hinein.
Francis trat in den Wohnanhänger und ließ seine Tasche mit den Büchern auf das Sofa fallen. »Hey, Angel«, sagte er.
Ma versetzte Francis einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass er vorwärtstaumelte. »Du kommst gerade rechtzeitig zum Abendessen. Ich geh in die Küche und mach dir dein Lieblingsgericht. Frankfurter Würstchen und Bohnen für meinen Frankie.« Mit einem letzten Quietscher eilte sie über den Korridor und verschwand in der Küche.
Francis sah ihn an. »Auf dem Hof steht eine brandneue Harley-Davidson.«
Angel rutschte nervös auf dem Sofa hin und her. »Ich hab Ärger, Franco. Ich muss die Stadt verlassen. Ich bin nur...« Zu seiner Schande spürte er, dass Tränen in seinen Augen brannten. »Ich bin nur gekommen, um Lebewohl zu sagen.«
»Mach das nicht, Mann«, sagte Francis leise und schüttelte seinen Kopf. »Lauf nicht einfach weg. Was immer es ist, wir können doch darüber reden. Überlegen, was zu tun ist. Geh nicht. Bitte...«
»Ich muss.« Er wandte sich ab, um die Enttäuschung in Francis' Augen nicht sehen zu müssen, und rannte aus dem Wöhnmobil. Er sprang auf das Motorrad, ließ die Maschine an und raste dröhnend aus der Stadt. Er zwang sich dazu, nicht zurückzuschauen. Er hatte Angst, dass er anfangen würde zu weinen, wenn er das täte ... und nicht mehr aufhören könnte.
Der antiseptische Geruch kam wieder, war scharf und bitter. Das Licht des Krankenzimmers stach schmerzend in seine feuchten Augen. Er war Seattle siebzehn lange, einsame Jahre ferngeblieben. Und jetzt, nach all dieser Zeit, würde er zurückkehren.
Nach Hause kommen.