Kapitel 5

Madelaine saß auf der Kante von Linas Bett. Hier und da konnte sie noch Stücke der blassblauen gestreiften Laura-Ashley-Tapete sehen, die sie vor so vielen Jahren hatte anbringen lassen, aber der größte Teil der Wände war mit Postern von Rockgruppen bedeckt, von denen Madelaine nie etwas gehört hatte. Tausende winziger Reißzweckenlöcher in der teuren Tapete, jedes ein Stempel von Linas sich entwickelnder Persönlichkeit.

Madelaine legte sich auf das Bett zurück, schloss die Augen und dachte an ihre Tochter. Für eine Sekunde sah sie in Gedanken nur längst vergangene Bilder vor sich - Pustebäckchen und lachende blaue Augen, ein Paar speckige Beinchen, die über den Boden des Esszimmers watschelten. Ein zahnloses wundervolles Lächeln.

Ob alle Mütter so fühlten? Bewahrten alle Mütter ein Bild ihrer Babys in ihren Herzen auf, erwarteten, dass erwachsene Mädchen noch immer nach Talkumpuder und Babyshampoo dufteten?

Ach, sie hatte so viele Fehler gemacht. Sie hätte Lina die Wahrheit über ihren Vater schon vor vielen Jahren erzählen sollen. Bereits letztes Jahr, als sie gesehen hatte, wie es mit Lina abwärts ging, hätte sie die Ursache dafür vermuten müssen und reinen Tisch machen sollen. Aber sie hatte solche verdammte Angst davor gehabt, dass Lina sie nicht mehr lieben würde. Angst davor, dass ihr Baby sein Zuhause verlassen würde ...

Es war wundervoll gewesen, als nur sie beide, Mutter und Kind, in dem stillen Haus gewesen waren, Plätzchen gebacken und Gutenachtgeschichten gelesen hatten.

Längst vergessene Erinnerungen an die Tage, an denen sie selbst ein Teenager gewesen war, noch zum College ging und alleine ein Kind großzog, kamen ihr in den Sinn. Bilder von diesem entsetzlichen Apartment an der University Avenue, mit den Fenstern, die sich nicht öffnen ließen, und der Heizung, die nie funktionierte ... an die wackelige Treppe, die zu der purpurnen Vordertür führte ... an den Wagen, der jeden Morgen an der Ecke Fifteenth und University stehen blieb ... an die Nächte, als sie beide zum Abendessen Cornflakes mit Rosinen aßen und sie hoffte, dass die Milch noch frisch war. Doch selbst in den schlimmsten Zeiten - während der achtzehnstündigen Arbeitstage und ihres nächtlichen Studiums - hatte Madelaine Lina immer bei sich gehabt. Ein neugieriges Kleinkind, das sich an die Hüfte einer erschöpften Assistenzärztin klammerte. Damals hatten sie zusammengehalten. Sie beide gegen den Rest der Welt...

Aber dann hatte sich die Außenwelt eingemischt, hatte ihre klebrigen Finger ausgestreckt und nach Lina verlangt. Das war der Anfang vom Ende - als Lina langsam größer geworden war und Fragen zu stellen begann und Madelaines Fehler sah. Vielleicht hätte Madelaine gewusst, wie sie mit diesen täglichen Traumata umgehen sollte, wenn sie normale Schulen besucht hätte, mit Freundinnen aufgewachsen wäre. Doch so etwas hätte ihr Vater niemals erlaubt. Er hätte nie gestattet, dass Madelaine mit dem zusammen war, was er als Gesindel bezeichnete. Sie hatte jeden Tag ihrer Kindheit allein verbracht, von Freunden geträumt, die sie nie besuchen würden, und von Ausflügen, die niemals stattfanden. Sie wusste nichts von Schulbällen oder Rangeleien und noch weniger über Rebellion.

Sie wusste überhaupt nichts über Teenager, die verängstigt und aggressiv und verwirrt waren.

Madelaine wusste nur, wie man sich versteckte, heuchelte, lächelte, wenn der Schmerz so groß und tief wurde, dass sie manchmal nicht atmen konnte. Und sie wollte nicht, dass ihr Baby diese Kunst erlernte.

Seufzend erhob sie sich und stand unsicher da. Was sollte sie tun, wenn Lina endlich heimkam?

Falls sie heimkam.

Madelaine erschauerte. Sie wollte nicht daran denken, wollte nicht ständig lauschen, ob das Telefon oder die Hausglocke klingelte, darauf warten, dass das Schlimmste eintrat. Sie wollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob Lina das tun würde, was Madelaine vor so vielen Jahren getan hatte.

Sie trat an den Kassettenrecorder, der auf Linas Schreibtisch stand, und sah gedankenlos die Musikkassetten und die CDs durch, die daneben gestapelt waren. Ganz unten in dem Stoß steckte das alte Band von Helen Reddy, das sie so oft gehört hatten.

Sie nahm es heraus, entstaubte die Plastikhülle und öffnete sie. Dann steckte sie die Kassette in das Gerät und drückte auf Play.

Die Musik glitt auf einer Flutwelle bittersüßer Erinnerungen durch das Zimmer.

»Das ist nicht fair, Mom«, sagte eine zitternde Stimme.

Madelaine drehte sich zur Tür um. Lina sah unglaublich jung und verwundbar aus, ein Kind in Erwachsenenkleidung, das Make-up auf ihren blassen Wangen verschmiert. Sie war so klein, ihre Knochen waren so zart wie die eines Vögelchens, ihr Gesicht war schmal und herzförmig. Das Pechschwarz ihres widerspenstigen Haares kontrastierte scharf mit dem blassen, ach so blassen Cremeton ihrer Haut. Haut, die ihre sprühenden, kornblumenblauen Augen noch betonten.

Madelaine schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln. »Hi, Ba... Lina. Ich habe auf dich gewartet.«

Lina fuhr sich mit einer Hand durch ihr stacheliges schwarzes Haar. »Ja, richtig. Wolltest mir noch mal alles Gute zum Geburtstag wünschen, ja?«

Madelaine ging langsam auf ihre Tochter zu, blieb aber auf halbem Wege stehen und setzte sich stattdessen auf das Bett. Sie blickte zu ihrer sechzehnjährigen Tochter auf.

»Ich möchte dir etwas erklären«, sagte sie schließlich.

»Ja.« Lina zog einen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich. Sie beugte sich vor, legte ihre Ellenbogen auf die Knie und sah ihre Mutter mit einem wütenden Blick durchdringend an. Vier silberne Ohrringe, leiterartig übereinander angebracht, funkelten in ihrem linken Ohr. »Dann erklär mal. Erzähl mir von meinem Dad.«

Dad. Das Wort wie ein Schnitt mit einem Rasiermesser. Madelaine zuckte zusammen. Er war kein Dad. Ein Dad war immer da, beschützte seine Familie und half, wenn das Baby Fieber oder einen Alptraum hatte. Ein Dad ließ nicht alle sitzen.

Lina seufzte dramatisch. »Hör mal, Jett wartet da draußen auf mich...«

»Du triffst dich mit einem Jungen namens Jett?«

»Willst du nun reden oder nicht? Andernfalls ...«

»Ich lernte deinen ... Vater kennen, als ich ungefähr so alt war wie du.« Madelaine versuchte zu lächeln. »Es ist eine Geschichte, die du schon Millionen Mal vorher gehört hast. Ich wurde schwanger und er ... er konnte die Stadt nicht schnell genug verlassen.«

Linas blaue Augen wurden schmal. »Hast du je wieder von ihm gehört?«

Madelaine versuchte, sich nicht daran zu erinnern, wie lange sie auf einen Anruf, einen Brief, auf irgendetwas gewartet hatte. Versuchte zu vergessen, wie sie noch Jahre später zu Weihnachten geweint hatte. »Nein.«

»Wie heißt er?«

Madelaine wusste, dass dies die Frage war, die alles kaputtmachen würde. Gleich, wie sie antwortete, es würde falsch sein. Wenn sie log, würde Lina sie hassen, und wenn sie wahrheitsgemäß antwortete, würde Lina Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen. Nur, dass er kein Mann war, der sich über einen mitternächtlichen Anruf - »Hi, ich bin deine Tochter« - freuen würde. Wenn er sein Kind hätte kennen lernen wollen, wäre er nicht einfach gegangen.

Wenn Lina ihn fand, würde er ihr das Herz brechen. Ein Wort, eine Geste, ein kleines Lachen - alles, was deutlich machte, dass es ihm egal war - würde Lina umbringen.

»Nun?«, fragte Lina.

Madelaine wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie hätte das schon vor langer, langer Zeit tun sollen. Aber sie konnte seinen Namen nicht einfach so preisgeben. Madelaine musste mit ihm sprechen, bevor Lina es tat. Der Gedanke daran - der bloße Gedanke, ans Telefon zu gehen und ihn nach all diesen Jahren anzurufen - entsetzte sie. Es würde alles verändern. Gott steh uns bei. »Ich kann dir seinen Namen nicht jetzt gleich sagen, aber...«

»Lass es.« Lina sprang auf und trat den Stuhl weg.

»Lass mich ausreden. Ich kann dir seinen Namen nicht jetzt gleich sagen. Aber ich werde ...« Es kostete sie ihre ganze Kraft, ihre nächsten Worte zu formulieren. »Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen und ihm von dir erzählen.«

Linas Augen weiteten sich. Ein winziges Lächeln spielte um ihren Mund. »Heißt das, er weiß nichts von mir?«

Madelaine überlegte, wie sie auf diese Frage antworten sollte - verärgert, bitter, traurig. Am Ende entschied sie sich, einfach ehrlich zu sein. »Soweit ich weiß, ist er nicht einmal im Bilde darüber, dass du geboren bist.«

Lina biss sich auf die Unterlippe, um ein Lächeln zu unterdrücken. Madelaine konnte die Erregung im Gesicht ihrer Tochter sehen, sah das Leuchten in den hellblauen Augen. Lina wollte so verzweifelt glauben, dass ihr Vater ein guter Mann war, ein liebender Vater, der seiner Chance beraubt worden war, wirklich ein Vater zu sein. »Ich wusste es.«

Madelaine starrte sie an. Lina hatte nicht bedacht, was die Worte tatsächlich bedeuteten, und Madelaine war froh darüber.

»Du versprichst mir, ihm das zu sagen?«

»Ich habe dich nie belogen, Lina.«

»Aber du hast geschwiegen.«

Madelaine zuckte zusammen. »Ich werde es ihm sagen.«

»Er wird mich sehen wollen«, sagte Lina und Madelaine konnte das Verlangen in der Stimme ihrer Tochter hören, das Bedürfnis.

Madelaine stand auf und ging vorsichtig auf sie zu. Als sie nahe genug war, um sie berühren zu können, blieb sie stehen. Obwohl sie das gestutzte Haar ihres Babys streicheln wollte, bewegte sie sich nicht, hob keinen Finger. »Er könnte dich enttäuschen, Liebling.«

»Das wird er nicht«, flüsterte Lina.

Madelaine konnte nicht anders. Sie streckte ihre Hand aus. »Baby, du musst verstehen ...«

»Ich bin nicht dein Baby! Du bist es, die er nicht will. Du. Er wird mich nicht enttäuschen. Du wirst schon sehen.«

Lina machte kehrt und rannte aus dem Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu. Madelaine hörte ihre Schritte durch das Haus poltern, dann das ferne Klicken, als die Haustür zuschlug.

Und sie blieb völlig allein in dem Zimmer zurück und lauschte Helen Reddy. You and me against the world.

 

Die Hillhaven-Privatklinik erstreckte sich wie ein halb umgestürzter Haufen von Bauklötzen an der schmalen Vorstadtstraße. Auf einem niedrigen Hügel über der von Bäumen gesäumten Straße gelegen, blickte sie düster auf die ruhige Sackgasse hinunter. Gestutztes Gras, durch den Kälteeinbruch der vergangenen Nacht herbstbraun poliert, streckte sich längs der Betonzufahrt. Hinter dem ein Meter achtzig hohen Eisenzaun wanderten ein paar ältere Männer und Frauen durch die welkenden Gärten und sprachen leise miteinander.

Francis lenkte seinen alten Volkswagen auf den Bordstein und parkte in einem ungeschickten Winkel. Er beugte sich zum Beifahrersitz, ergriff seine Bibel und seine schwarze Ledertasche und stieg aus dem Auto. Köstliche, kühle Regenluft kräuselte sein Haar und wehte ihm eine widerspenstige Locke in die Augen. Er stand für einen Moment da und beobachtete, was auf dem Hof vorging. Er konnte das vertraute Kratzen von Metallkrücken hören, die über die Bürgersteige gezogen wurden, und das ferne Winseln eines elektrischen Rollstuhls. Pfleger in gestärkten weißen Uniformen bewegten sich zwanglos zwischen den Patienten und blieben hier und da stehen, um ihre Hilfe anzubieten.

Er spazierte zum Eingang hinauf und trat auf den Hof. Das Tor schloss sich hinter ihm mit einem Klirren, das die Gespräche übertönte. Ein Dutzend Köpfe drehte sich zu ihm und er sah Erwartung in jedem Augenpaar aufleuchten - sie alle hofften, hofften so sehr, dass ein Angehöriger zu Besuch kam.

»Vater Francis!«, kreischte die alte Mrs Bertolucci und klatschte in ihre knorrigen arthritischen Hände.

Er lächelte sie an. Sie sah gerade jetzt so hübsch aus. Sonnenlicht fiel auf ihr weißes Haar und Freude stand in ihren wässerigen Augen. Die linke Hälfte ihres Gesichts war gelähmt, doch das änderte nichts an ihrer Schönheit. Er kannte sie seit fünfzehn Jahren - wie so viele der Menschen, die hier wohnten, hatte sie in Francis' alter Nachbarschaft gelebt und gearbeitet. Jahrelang hatte er mit ihr gemeinsam das Abendmahl genommen und jetzt war er hier, um es zu geben.

Nacheinander kamen sie auf ihn zugeschlurft. Er lächelte. Dafür lebte er.

Und in diesem Augenblick fühlte er Frieden, war wieder einmal von der tröstenden Wärme seines Glaubens umhüllt. Es war ihm bestimmt, hier zu sein. Ihm war immer bestimmt gewesen, hier zu sein. Jetzt, wo er das Werk des Herrn verrichtete, fühlte er sich wirklich wohl und zufrieden.

Er wusste, dass er heute Nacht wieder verwundbar sein würde, wenn er allein in seinem Bett lag, lauschte, wie der Wind durch das Dachgesims fuhr, und das Klirren der Fensterscheiben hörte. Der Zweifel würde durch die verschlissenen Vorhänge kriechen und an seiner Seele nagen, und er würde nachdenken und sich Sorgen machen... Er würde an Madelaine und Lina denken und an all die Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hatte. Er würde daran denken, wie er Madelaine dazu ermutigt hatte, Lina die Wahrheit zu verschweigen, und das Schamgefühl würde ihn erdrücken. Vor allem aber würde ihn die Einsamkeit wie die Mauern einer Festung umschließen. Doch momentan war er glücklich. Deshalb war er eine Stunde früher zu dem Heim hinübergeeilt. Hier und jetzt, mit dem engen weißen Kragen um den Hals und eine Bibel unter den Arm geklemmt, fühlte er sich sicher.

Er kniete sich auf den harten Grasteppich und sie scharten sich um ihn und sprachen alle auf einmal.

Fred Tubbs hustete schwer und zog dann ein abgegriffenes Päckchen Spielkarten aus seiner Brusttasche - dasselbe Päckchen, das er seit Jahren schwenkte. »Zeit für ein schnelles Kartenspiel, Vater?«

Francis grinste. »Sie haben mich schon letzte Woche ausgenommen, Freddy.«

Der alte Mann zwinkerte. »Ich spiele gerne Karten mit einem Mann, der ein Armutsgelübde abgelegt hat.«

»Schön, vielleicht eine Partie ...«, sagte Francis. Er wusste, dass Freddy Stunden im Aufenthaltsraum verbracht hatte, Karten spielend, dieselben Familienfotos betrachtend, die er schon Millionen Mal gesehen hatte, immer wieder die Weihnachtskarten und Briefe von geliebten Angehörigen las, die nie die Zeit für einen Besuch hatten.

Und sie wussten es auch - das konnte er an der Freude in ihren Gesichtern sehen, der Freude darüber, dass man sich an diesem sonnigen Herbstnachmittag einfach an sie erinnerte.

Er stand auf und griff nach Mrs Bertoluccis Rollstuhl. Sie sprachen noch immer mit ihm, jetzt nacheinander, mit ihren krächzenden, papierdünnen Stimmen, während sie sich zur Eingangstür bewegten. Er wollte die Rampe hochgehen, blieb stehen und sah sich um. »Wo ist Selma?«

Schweigen. Und er wusste es. Die übliche Traurigkeit stieg in seiner Brust auf.

»Gestern«, sagte Sally MacMahon, wobei sie den Kopf mit der pechschwarz gefärbten Mähne schüttelte. »Ihre Tochter war bei ihr.«

Ein erleichtertes Murmeln, weil Selma nicht allein gewesen war.

»Wir dachten, dass Sie vielleicht eine Messe für sie lesen könnten, Vater«, sagte Fred. »Miss Brine sagte, es sei ihr recht - im Aufenthaltsraum um vier Uhr.«

Francis streckte seine Hände nach dem Mann aus und drückte dessen schmale Schultern. Er schaute nacheinander in die Gesichter ringsum, auf faltige, altersfleckige Haut und dünnes Haar, auf dicke Brillengläser und Hörgeräte und Perlenketten aus dem billigen Supermarkt und wusste, was sie jetzt von ihm brauchten.

Glaube. Hoffnung. Kraft.

Und er musste sie ihnen geben. Das Lächeln, das er ihnen schenkte, war breit und kam aus tiefstem Herzen. »Sie hat jetzt keine Schmerzen mehr«, sagte er sanft und glaubte an die Worte, die er schon so viele Male zuvor gesprochen hatte. »Sie ist bei Gott und den Engeln und bei ihrem Mann. Wir sind es, die Schmerz über ihren Heimgang empfinden.«

Mrs Costanza legte ihre rötliche, großknöchlige Hand auf Francis' Arm und blickte mit wässerigen Augen zu ihm auf. »Danke, dass Sie gekommen sind, Vater«, sagte sie mit ihrer zittrigen Stimme. »Wir haben Sie gebraucht.«

Er lächelte in ihr hübsches, von der Zeit gezeichnetes Gesicht und erinnerte sich plötzlich daran, dass sie ihm früher in ihrem Eckgeschäft an der Cleveland Street Blumen geschenkt hatte. Das war hundert Jahre her... und doch kam es ihm vor, als sei es erst gestern gewesen. »Und ich brauche euch alle«, sagte er nur.

 

Madelaine hielt ihre Tasse mit dem Morgenkaffee vorsichtig fest und winkte den Krankenschwestern zu, während sie über den breiten, mit Linoleum ausgelegten Korridor ging. Sie bog in ihr Büro ab, einen kleinen, kastenförmigen Raum, der im englischen Landhausstil eingerichtet war. Auffällig geblümte Vorhänge in Burgunder- und Grüntönen umrahmten das kleine Fenster. Schwere Mahagonibücherschränke, überquellend von Büchern und Taschenbüchern und Andenken dankbarer Patienten säumten eine Wand. Pflanzen standen auf der Fensterbank und Fotos von Francis und Lina hingen in Gruppen an der grün gestreiften Tapete. Ein Esszimmertisch aus dem neunzehnten Jahrhundert diente Madelaine als Schreibtisch.

Auf seiner glänzenden Platte standen Fotos von Francis und Lina.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, die dort liegenden Stapel von Papieren durchzublättern. Bevor sie die Hälfte geschafft hatte, klopfte jemand an die Tür.

Sie blickte nicht auf. »Herein.«

Dr. Allenford, der Herzspezialist des Transplantationsteams trat durch die Tür in ihr kleines Büro. »Sie haben wohl für mich nicht zufällig eine Tasse Kaffee?«, fragte er, während er in dem geblümten Besuchersessel Platz nahm.

Sie schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

Er fuhr sich mit einer Hand durch sein stahlgraues Haar und seufzte. »Na gut. Rita drängt mich ohnehin, mit dem vielen Trinken aufzuhören.«

Madelaine kicherte und wartete darauf, dass Allenford zur Sache kam.

»Wir haben einen neuen Transplantationspatienten bekommen. «

Madelaine konnte diese Worte nicht oft genug hören. Plötzlich war sie überhaupt nicht mehr erschöpft oder deprimiert, sondern brannte darauf, mehr zu erfahren. »Wirklich?«

»Schauen Sie nicht so aufgeregt drein. Er ist ein großes Risiko. Drogenmissbrauch von Jugend an, Partygänger der Spitzenklasse und Frauenheld - wenn man den Medien Glauben schenken darf-, und er hat definitiv die verkehrte Einstellung.«

»Oh.« Madelaine lehnte sich in ihrem Sessel zurück und musterte den Mann, der sie das meiste von dem gelehrt hatte, was sie zurzeit über Herztransplantationen wusste. Allenford war einer der besten Ärzte auf diesem Gebiet, hoch motiviert, ehrgeizig und talentiert. Wenn Chris sagte, dass der Patient ein großes Risiko darstellte, wusste er, wovon er sprach.

»Die Situation ist kritisch.«

»Status?«

»Vierunddreißigjähriger Mann. HIV-negativ und kein Krebs. Kardiomyopathie im Endstadium. Ich habe gestern die Routineuntersuchungen gemacht und alles sieht gut aus.« Chris beugte sich vor und schob den dünnen Ordner über den Schreibtisch. »Doch wie ich sagte, hat er eine schlechte ... Einstellung. Einer von diesen reichen, berühmten Hollywoodtypen, die glauben, die Welt sei ihnen etwas schuldig.«

Madelaine hatte diese Diskussion mit Chris schon früher geführt. Wie immer dachte Chris zuerst an die Erfolgsquote des Krankenhauses und bewertete die Chancen eines Kandidaten im Hinblick darauf, wie lange er überleben würde, bevor er ein überaus kostbares Herz bewilligte. Madelaine beneidete Chris nicht um die enorme Verantwortung seiner Aufgabe. Jedes Mal, wenn er jemanden als Empfänger für ein neues Herz auswählte, gab es andere Patienten, die wegen dieser Entscheidung wahrscheinlich sterben würden. Einer lebte, einer starb. So einfach war das. Sie konnten es sich nicht leisten, jemandem ein neues Herz einzusetzen, der sich nicht darum kümmerte.

»Ich werde mit ihm sprechen, Chris«, sagte sie.

Er schaute zu ihr auf. Sie verstanden sich mit einem einzigen Blickwechsel sofort. Sie wussten beide, dass sie soeben eingestiegen war und einen Teil seiner Last trug. Ich werde Ihnen sagen, ob er diese Chance bekommen soll.

Es war eine Entscheidung, die kein Mensch jemals über einen anderen treffen sollte, aber doch taten sie das jeden Tag.

»Wir wahren seine Anonymität um jeden Preis. Er ist unter einem Alias eingeliefert worden. Sagen Sie also Ihren Leuten, dass es sie ihren Job kostet, wenn seine Identität oder die Prognose irgendwie an die Presse gelangt.«

»Verstanden.«

»Ich werde mich mit dem Team in Verbindung setzen und es auf Trab bringen. Hilda wird sich mit den restlichen Tests beeilen müssen und ihm schnell Manieren beibringen.« Er schenkte ihr einen raschen, bedeutungsvollen Blick. »Wenn der nicht in Rekordzeit ein Herz bekommt, hat er ein enormes Problem.«

Sie nickte verstehend. »Möchten Sie, dass wir uns heute Nachmittag zum Kaffee treffen, um die Einzelheiten zu besprechen?«

»Sicher. Um vier, falls nichts Unvorhergesehenes passiert.«

»Gut.« Madelaine lächelte ihn an, schlug den Ordner auf ihrem Schreibtisch auf und schaute auf den Namen des Patienten. Angelo Dominick DeMarco.

Sie klappte den Ordner wieder zu, aber nicht schnell genug. Erinnerungen drangen mit einer solchen Heftigkeit auf sie ein, dass sie das Gefühl hatte, er würde vor ihr stehen. Sie erinnerte sich an Angels lautes, meckerndes Lachen und das leichte Schwanken seines Gangs, daran, wie er mit der Hand durch sein langes schwarzbraunes Haar fuhr. Vor allem aber erinnerte sie sich an seine malachitgrünen Augen, tief unter pechschwarzen Brauen sitzend, die ihn gefährlich aussehen ließen. Bis er lächelte.

Selbst nach so vielen Jahren erinnerte sie sich an die Macht dieses Lächelns. Es war wie das Klischee vom Sonnenschein, der die Wolken durchdringt.

Francis. Sie dachte plötzlich an ihn und wusste, dass die Nachricht ihm das Herz brechen würde. Sein kleiner Bruder war krank ... starb vielleicht... Gott, wie sollte sie ihm das nur beibringen?

»Madelaine?« Chris' Stimme drang in ihre Gedanken.

Sie schaute ihn über den Schreibtisch hinweg an, versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber stattdessen waren da nur Erinnerungen, Bilder und eine große, plötzliche Furcht. »Ich kann diesen Patienten nicht nehmen, Chris.« »Was?«

»Angel ist der Bruder von Vater Francis.«

»Ah. Ihr Priester. Kennen Sie Angelo?«

Madelaine brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. »Ja. Nein. Nicht wirklich.« Sie zuckte die Schultern. »Ich kannte ihn vor langer Zeit. Als wir Kinder waren.«

Chris' Augen verengten sich. »Als ihr Kinder wart, hm? Sind Sie mit ihm in Verbindung geblieben?«

»Nein.«

»Hassen Sie ihn?«

Madelaine schluckte schwer und dachte nach. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich hasse ihn nicht.«

Er lächelte. »Lieben Sie ihn?«

Die Frage traf sie unvorbereitet. In Gedanken sah sie ein Dutzend Bilder von Angel, wie er einmal gewesen war. Den lachenden, dunkelhaarigen Jungen mit den kühnen Träumen, den Jungen, der ihr Herz gestohlen und sie zum ersten Mal geküsst hatte. Dann kamen die dunkleren Bilder, die Erinnerungen, die schmerzten. »Nein. Ich liebe ihn nicht.«

»Gut.« Er erhob sich und legte seine Hände auf ihren Schreibtisch, wobei er sie bedeutungsvoll ansah. »Er braucht Sie, Madelaine.«

»Tun Sie mir das nicht an, Chris. Geben Sie ihn jemand anders.«

»Es gibt niemand, der so gut ist wie Sie, verdammt, und das wissen Sie. Dieser junge Mann wird sterben, Madelaine. Sie sind seine einzige Hoffnung. Gehen Sie wenigstens zu ihm.«

Sie starrte Allenford an, wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Sie konnte Angel nicht einfach sterben lassen. »Okay, Chris.«

Er lächelte. »Prima.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Als er sie gerade geöffnet hatte, drehte er sich wieder um. »Ich brauche Ihren Bericht noch heute. Wenn er ein neues Herz bekommen soll, muss er sofort auf die UNOS-Liste gesetzt werden. Und vergessen Sie nicht, dass wir absolutes Stillschweigen über seine Berühmtheit wahren müssen. Ich will nicht, dass die Reputation dieses Krankenhauses Schaden erleidet.«

»In Ordnung.«

Allenford verließ ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.

Madelaine setzte sich, noch immer benommen, ihre Augen starr auf die Tür gerichtet.

Angel DeMarco war zurückgekommen.