Kapitel 21

Lina ging auf dem stillen Korridor der Intensivstation auf und ab. Dann und wann sagten eine Krankenschwester oder ein Arzt hallo, und sie war gezwungen, aufzuschauen und etwas als Antwort zu murmeln, doch davon abgesehen bewegte sie sich einfach ständig.

Hilda kam über den Korridor geeilt und tippte ihr auf die Schulter. »Du läufst ja wie eine gefangene Katze herum, Süße. Was ist los?«

Lina sah sie kaum an. Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, still zu stehen. Sie kannte Hilda fast ein Leben lang und liebte sie, aber im Augenblick war sie zu nervös, um auch nur zu plaudern. Sie erinnerte sich ein wenig spät daran, dass Hilda ihr eine Frage gestellt hatte, aber ihr fiel nicht mehr ein, was sie gefragt hatte.

Hilda musterte Lina mit ihrem typischen Blick von Kopf bis Fuß und lachte dann in missbilligendem Tonfall. »Meine Tochter ist Kosmetikerin, wie du weißt. Sie könnte mit deinem Haar wahre Wunder vollbringen.«

Die OP-Schwester hatte ihr schon seit sehr vielen Jahren Kosmetiktipps aufgetischt. Jedes Mal, wenn sie Lina sah, kam sie schnell zu ihr, zwickte sie in die Wange, schüttelte den Kopf und murmelte etwas darüber, wie hübsch Lina doch mit ein bisschen weniger Make-up sein könnte.

Normalerweise lachte Lina über Hildas nicht ganz ernst gemeinten Rat.

Heute nicht.

Ihr Vater würde sie in wenigen Sekunden zu Gesicht bekommen. Was, wenn er sie hässlich fand?

Sie stöhnte auf, steckte die Hände in die Hosentaschen, drehte sich schnell um und lief los, ließ Hilda einfach mit offenem Mund stehen. Sie rannte zum Büro ihrer Mom und schlich sich hinein, schlug die Tür hinter sich zu. Sie eilte zu dem antiken viktorianischen Spiegel neben dem Bücherschrank und schaute in das Glas.

Das Mädchen, das sie anstarrte, sah blass aus und hatte verquollene Augen, die Folge von zu wenig Schlaf. Ihr Haar stand in Tausenden ungleichmäßiger Stacheln ab. Durch den schwarzen Lidstrich, den sie unter den unteren Wimpern gezogen hatte, sah sie aus, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen.

Wieso hatte sie das vorher nie gesehen?

O Gott, dachte sie in einem plötzlichen Anflug von Panik. Mein Daddy wird mich für abgrundtief hässlich halten.

Sie durchwühlte die Schublade des Schreibtisches ihrer Mutter und zog einen Kamm heraus, versuchte, ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Aber das nützte nichts.

Als sie wieder vor den Spiegel trat, spürte sie, wie die Furcht sich verstärkte. Sie sah noch immer wie eine dieser Ausreißerinnen aus, die man zuweilen nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen der Innenstadt geistern sah.

Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und Lina wirbelte wieder herum. Sie war so nervös, dass sie den Kamm fallen ließ. Er fiel klappernd auf den Linoleumboden.

Mom trat in den Raum und Lina fühlte sich so elend, dass sie fast einen Brechreiz bekam. Ihre Mutter sah wie immer so aus, als sei sie gerade aus einer Seite für Kosmetikwerbung getreten - goldbraunes Haar, das in sorgfältig frisierten Locken um ihr Gesicht fiel, wunderschöne haselnussbraune Augen, betont durch ein klein wenig brauner Mascara. Sie trug einen cremefarbenen Kaschmirpullover und einen schwarze Hose, war das Bild von kühler Kultiviertheit und Klasse.

Das war das, was ihr Vater für hübsch hielt.

Lina musterte sich wieder im Spiegel und zuckte zusammen. »Ich kann es nicht, Mom. Ich muss morgen wiederkommen. Ich glaube, ich habe heute Morgen durch das Müsli beim Frühstück eine Lebensmittelvergiftung bekommen.«

»Er wartet auf dich«, erwiderte sie ruhig, während sie hinter sich die Tür schloss.

Lina spürte, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte. »Er - er sagt, dass er mich sehen möchte?«

Mom runzelte die Stirn und bewegte sich auf sie zu. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Lina nickte, schüttelte dann den Kopf, versuchte darauf, wieder zu nicken. Doch die Tränen kamen, stiegen ihr in die Augen. »Nein«, flüsterte sie.

Mom streichelte ihre Wange. »Es ist ganz normal, nervös zu sein.«

»Ich bin hässlich.«

»Du siehst toll aus.«

»Ich hätte mir nie von Jeff das Haar schneiden lassen dürfen.« Sie schaute schnell zu ihrer Mutter auf, wartete auf deren Ich hab's dir ja gesagt, doch zum Glück kam das nicht. Schließlich sagte sie: »Meinst du ... du könntest mich so zurechtmachen, dass ich wie du aussehe?«

Mom musterte sie. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Oh, nein ... du bist viel hübscher als ich.«

»Ja, natürlich«, greinte sie. »Und Bosnien ist ein tolles Urlaubsziel.«

Mom nahm sie bei der Hand und führte sie zu dem Sessel hinter ihrem Schreibtisch.

Lina setzte sich.

»Heb dein Gesicht hoch«, sagte Mom. Lina gehorchte. Ihre Mutter entfernte mit einer Creme und einem Papiertuch Linas Make-up und legte dann ein neues auf. Etwas Mascara, Rouge und einen Hauch von hellrosa Lippenstift. Anschließend kämmte sie Linas Haar aus dem Gesicht und besprühte es mit irgendetwas.

Lina wollte aufstehen.

»Bleib sitzen«, befahl Mom, während sie zu dem antiken Armoire in der Ecke ihres Büros ging. Sie öffnete die reich verzierte Tür, kramte in den Kleidern, die darin hingen, und nahm einen eisblauen Angorapullover heraus. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück und lächelte. »Eigentlich sollte das ein Weihnachtsgeschenk sein.«

Lina starrte den weichen Pullover an und fühlte sich beschämt. Sie wusste, dass sie beim bevorstehenden Weihnachtsfest einen kurzen Blick auf etwas so Feminines geworfen und es dann beiseite gelegt, ihre Mutter für hoffnungslos bescheuert gehalten hätte. Sie schaute ihre Mutter an. »Ist irgendwie cool, Mom. Danke.«

Mom lachte. »Genau das hättest du bei der Bescherung auch gesagt.«

Lina zog lächelnd ihr T-Shirt mit der Bierwerbung von Coors über den Kopf und warf es in eine Ecke. Dann streifte sie den unglaublich weichen Pullover über. Als ihre Mutter mit ihr wieder vor den Spiegel trat, konnte Lina ihre Veränderung fast nicht glauben.

Dieses Mal starrte eine wunderschöne junge Frau sie an. Durch den Pullover wirkten ihre Augen unglaublich blau. Statt wie sonst gespenstisch weiß auszusehen, wirkte sie jetzt blass und irgendwie zerbrechlich, genau wie diese Mädchen in den Calvin-Klein-Anzeigen. Impulsiv drehte sie sich um und schlang ihre Arme um ihre Mutter, hielt sie fest.

Dann wurde ihr bewusst, was sie getan hatte, und sie wich verlegen zurück.

Mom lächelte. »Du solltest wissen, dass er sehr krank ist, dein Vater. Er hat gerade eine Herzoperation hinter sich gebracht und muss sehr vorsichtig sein. In etwa einer Stunde wird er entlassen werden, aber schnell bewegen darf er sich nicht. Ich habe Vorbereitungen getroffen - für den Fall, dass alles gut verläuft -, ihm heute zu helfen, ein Haus zu finden. Das machen wir drei gemeinsam.«

»Klingt irgendwie nach Familie«, sagte Lina. Sie war überrascht von der Sehnsucht, die in ihrer Stimme mitklang.

Mom schaute betroffen drein, dann ein wenig traurig. »Mehr wie neue Freunde.«

Lina nickte. Sie atmete tief ein, reckte die Schultern und hob das Kinn. »Ich bin bereit, Mom.«

»Gut. Er ist in Zimmer 264-W.«

»Du kommst nicht mit mir?«

Mom schüttelte den Kopf. »Ich denke, ihr zwei solltet eine Weile alleine sein.«

Lina unterdrückte einen Anflug von Furcht. Sie dachte daran, wie hübsch sie aussah, daran, wie der blassblaue Pullover ihre Augen so blau wie die von Francis wirken ließ, daran, dass ihr schwarzes Haar adrett aussah und nicht struppig.

Ich werde ihn dazu bringen, mich zu lieben. Das feierliche Gelöbnis klang in ihr nach und sie hielt es fest, presste es an ihre Brust und betete, dass sie es wahr werden lassen konnte. Sie blickte zu ihrer Mutter auf und wollte etwas sagen, aber nichts erschien ihr passend. Sie konnte die Furcht in den Augen ihrer Mutter sehen und sie wusste, dass sie ihnen beiden galt.

Sie lächelte ihrer Mom kurz zu und ging. Sie eilte über den langen Korridor, vorbei an dem Bereitschaftsraum der Krankenschwestern, vorbei am Wartezimmer.

Als sie schließlich sein Zimmer erreicht hatte, schlug ihr Herz wild und sie spürte einen feinen Schweißfilm auf den Innenflächen ihrer Hände.

Sie schaute durch das Beobachtungsfenster und sah vor dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand einen Mann stehen, der ihr den Rücken zugewandt hatte. Er trug ein Jeanshemd und Levi's, und sein Haar war lang und dunkelbraun. Ein gutes Zeichen, dachte sie - langes Haar.

Sie atmete tief ein und klopfte an die Tür. Auf sein leises »Herein« stieß sie die Tür auf und ging hinein.

»Hallo, Lina«, sagte er mit weicher, ruhiger Stimme, bei deren Klang ein Schauer des Erkennens über ihren Rücken lief. Es war eine Stimme, die sie kannte, die sie aber nicht zuordnen konnte.

Sie wartete nervös darauf, dass er sich zu ihr umdrehte.

Er drehte sich langsam um. Ihr Atem stockte, als sie ihn erkannte. Ihre Knie wurden weich. Am liebsten hätte sie die Hände nach irgendetwas ausgestreckt, um sich festzuhalten, aber da war nichts.

Es war Angel DeMarco.

»Oh, mein Gott«, flüsterte sie, fühlte sich völlig verunsichert und verwirrt.

Er lächelte sie mit diesem Megawattgrinsen an, das sie schon eine Million Mal auf der Leinwand gesehen hatte. »Ich sehe, dass deine Mom dir nicht gesagt hat, wer ich bin.«

Sie versuchte, nein zu sagen. Das Wort kam wie ein hohes Quietschen heraus.

»Komm her zu mir.«

Sie bewegte sich wie eine Maschine, während ihre Gedanken sich überschlugen. Ihr Vater war Angel DeMarco. Ihr Vater war Angel DeMarco. Ihr Vater war Angel DeMarco. Die anderen Kinder würden das nicht glauben. Brittany Levin würde ausrasten.

Dann traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht, traf sie so hart, dass alles andere aus ihrem Verstand verschwand. »DeMarco«, sagte sie.

Er nickte, schenkte ihr ein sanfteres Lächeln, persönlicher als alles, was sie je im Film gesehen hatte. »Ich bin Francis' Bruder.«

Für eine Sekunde konnte sie nicht atmen. »Das hat man mir nie gesagt.«

Irgendetwas veränderte sich daraufhin an seinem Blick. Die Augen wurden dunkel, gaben ihr das Gefühl, ihn verletzt zu haben.

»Ich habe nie gelesen, dass du aus Seattle bist oder dass du einen Bruder hast. Ich ... ich glaub, ich habe irgendwo gelesen, dass du aus dem Mittleren Westen kommst.«

Ein Lächeln spielte um einen Mundwinkel. »Taktische Manöver, um die Spur zu verwischen. Ich wollte nicht, dass jemand weiß, wo ich aufgewachsen bin. Tut mir Leid.« Er kam auf sie zu, bewegte sich in diesem schlurfenden Gang, den alle Patienten nach einer Operation hatten. Instinktiv streckte sie die Hände nach ihm aus und er ergriff sie beide.

Lina blickte in seine legendären grünen Augen und einen Herzschlag lang konnte sie nicht atmen. Er hatte die Augen von Francis - obwohl die grün waren und nicht blau, aber es waren Francis' Augen. Und er schaute sie genauso intensiv an, wie Francis sie angesehen hatte, so, wie es nur wenige Menschen taten.

»Du bist viel schöner, als ich gedacht hatte«, sagte er mit belegter Stimme und in seinen Augen war das gleiche Staunen, das sie empfand.

In ihren Augen brannten Tränen, aber das war ihr egal. »Danke.« »Ich ... ich habe absolut keine Ahnung, wie es ist, Vater zu sein, weißt du.«

»Schon in Ordnung.«

»Vielleicht sollten wir langsam anfangen, zuerst einfach nur Freunde sein.«

Freunde sein. Diese Worte lösten eine verwirrende Welle von Erregung aus. Es war das, was sie immer gewollt hatte -ein Vater, der ihr bester Freund war. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzulachen. Er würde alles sein, was sie sich je von einem Dad gewünscht hatte. Das wusste sie genau. Er würde all den Schmerz und das Leid und die Furcht aus ihrem Leben nehmen, dafür sorgen, dass sie verschwanden. Von jetzt an würde sie immer einen sicheren Platz haben.

Er ließ ihre Hand los und berührte ihr Gesicht, blickte ihr tief in die Augen. »Sieh mich nicht so an, Angelina.«

Sie atmete plötzlich und überrascht ein. Für einen Sekundenbruchteil hatte sie geglaubt, er habe sie Angelina-Ballerina genannt. Aber das hatte er nicht. Das hatte er natürlich nicht.

»Was ist?«, fragte er, während er sie musterte.

»Nichts... es ist nur, dass Francis mich immer Angelina nannte ... Das macht sonst niemand.«

»Es ist dein Name«, sagte er. Dann sank seine Stimme zu einem Flüstern. »Ich mein's ernst, Lina. Halte mich nicht für einen Gott oder sonst was. Ich würde dich nur hängen lassen ...«

Was er da sagte, war so lächerlich, dass sie es ignorierte. Stattdessen starrte sie ihn weiter an, prägte sich alles in seinem Gesicht ein, über diesen Augenblick, was sie fühlte, während er ihre Hand hielt. »Keine Sorge. Ich werde dich lieben ...«

Er legte plötzlich einen Finger auf ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Sie blinzelte ihn verwirrt an. Als er seine Hand zurückzog, sagte sie: »Aber...«

»Ich möchte mir das verdienen«, sagte er harsch und starrte mit einer Ernsthaftigkeit in ihre Augen, die sie erschreckte. Plötzlich waren es überhaupt nicht mehr Francis' Augen. »Es ist die einzige Chance, die wir haben.«

Angel schaute auf das Blatt Papier, das sich auf dem Klemmbrett befand. Er brauchte nur zu unterschreiben und würde danach frei wie ein Vogel sein.

Er empfand einen seltsamen Widerwillen, es zu unterschreiben.

Er sah sich in dem käseweißen kleinen Krankenhauszimmer um, in dem er die letzten Wochen gelebt hatte, und plötzlich war es wie ein Zuhause. Er kannte die Vögel, die über seine Fensterbank huschten, wusste genau, wie die Sonne bei Sonnenuntergang durch seinen gelben Vorhang fiel. Er hatte angefangen, den Geruch von Desinfektionsmitteln und Kartoffelpüree und Soße zu mögen. Sogar Sarah, die Deutsche, war eine Freundin geworden.

»Alles okay?«, fragte Madelaine.

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich wie ein Idiot und hatte doch plötzlich Angst, dass er es draußen nicht schaffen könnte, dass das Herz, das sich in seiner Brust so stark und neu anfühlte, da draußen schwach werden, ihn im Stich lassen würde. Oder dass er seinen alten, verantwortungslosen, von Alkohol beherrschten Lebenswandel wieder aufnehmen und wieder verloren sein würde.

»Ich weiß nicht. Ich glaubte, ich sei bereit, aber ...«

»Lina und ich werden für dich da sein, Angel. Du wirst da draußen nicht allein sein.«

»Danke, Mad.« Er berührte ihr Gesicht. Ein flüchtiges, zärtliches Streicheln, das ihn beruhigte. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich all die Zeit über getan hätte.«

Sie lächelte. »Du wärst gut zurechtgekommen.«

Er zuckte die Schultern und sah sich wieder um. »Ich denke immer wieder, dass ich Gepäck haben sollte ... etwas, das mich an die Zeit erinnert, die ich hier verbracht habe.«

Sie legte ihre Hand auf seine Brust, direkt auf sein Herz. »Das hast du.«

Hinter ihnen öffnete sich die Tür und sie drehten sich beide um, erwarteten, Sarandon und Allenford für die anstehende Verabschiedung zu sehen.

Eine Frau mittleren Alters stand im Zimmer. Sie trug einen verschlissenen Wollmantel und schmutzbespritzte Gummistiefel. »Ich suche nach ...« Sie sah Angel und ihr Unterkiefer fiel herunter. »Oh, mein Gott, Sie sind das...« Sie sah Madelaine an. »Es ist Angel DeMarco.«

Madelaine stand für eine Sekunde wie angewurzelt da, stürmte dann vor, nahm die Frau beim Arm und führte sie hinaus. Sie schlug die Tür hinter sich zu.

Eine Minute später war Madelaine wieder da. Sie schaute grimmig und wütend drein. »Der Wachdienst hat sie durchgelassen. Ihr Vater liegt auf Zimmer 246-E.«

»Scheiße«, fluchte Angel. »Wir müssen schleunigst von hier verschwinden. Sobald die Frau an ein Telefon kommt, wird sie glauben, sie hätte in der Lotterie gewonnen. Man wird sie bezahlen und ihr fünfzehn Minuten Ruhm geben.«

Madelaine sah ihn an. »Es tut mir Leid.«

»Braucht dir nicht Leid zu tun - das musste passieren.« Er nahm eine Gesichtsmaske von dem Nachttisch und band sie am Nacken zu. Bevor er sie über sein Gesicht streifte, sagte er: »Hier ist die Story: Ich war über einen längeren Zeitraum, der geheim bleibt, hier und habe mich erfolgreich einer Herzoperation unterzogen. Darüber hinaus gibt es keinen Kommentar. Lass Allenford so bald wie möglich eine Pressekonferenz anberaumen. Und lass mich irgendwie hier rauskommen. Sofort.«

Madelaine nickte. »Gehen wir.«

Lange bevor die ersten Reporter auftauchten, hatte Madelaine Angel in ihrem Wagen, und sie fuhren in Windeseile vom Krankenhaus fort.

Lina und Angel waren in ihrem Element. Sie schaute in den Rückspiegel und beobachtete sie. Sie saßen nebeneinander, hatten die Köpfe zusammengesteckt und redeten angeregt miteinander. Lina sagte, dass sie es absolut cool fände, wie sie Angel aus dem Krankenhaus geschleust hätten. Angel erzählte ihr, wie er sich einmal auf der Ladefläche eines Kleintransporters versteckt hatte, während seine Fans eine Bühne stürmten.

Madelaine steuerte den Wagen über die Magnolia Street und hielt vor dem ersten Haus, das sie für ihn zur Besichtigung ausgewählt hatte.

»Was hältst du davon?«, fragte sie, während sie den Wagen parkte.

Lina und Angel sahen aus dem Fenster, schauten sich dann an und schüttelten gleichzeitig die Köpfe.

Mit einem Seufzer fuhr sie wieder an. Es ärgerte Madelaine, dass sie es sich nicht einmal ansehen wollten. Doch mehr als das - sie fühlte sich ausgeschlossen. Sie hatte die Häuser keineswegs zufällig ausgewählt. Sie hatte sehr viel Zeit aufgewendet. Sie hatte mit mehreren Immobilienmaklern eingehend über zu vermietende Häuser gesprochen, die allenfalls zehn Minuten vom Krankenhaus entfernt liegen sollten. Daraufhin hatte sie sich die sieben besten flüchtig angesehen und für heute Besichtigungstermine für alle vereinbart.

Sie waren bereits bei Haus Nummer vier, aber Angel war noch nicht einmal aus dem Wagen gestiegen. Die ersten drei Häuser hatte er auf Anhieb nicht gemocht, als er sie sah.

Schließlich hielt sie vor dem Haus, das ihr von den ausgewählten am besten gefiel.

Sie stellte den Motor ab und warf einen schnellen Blick auf das Haus. Sie wusste, dass Angel es nicht mögen würde, nicht der Angel mit dem Apartment in einem Hochhaus in Las Vegas und mit den Limousinen. Dennoch musste sie es ihm einfach zeigen. Es war die Art von Haus, die Francis gemocht hätte.

Es war ein kleines Holzhaus mit Stabwerkfenstern und einer großen, ganz um das Haus herumführenden Veranda. Um die Jahrhundertwende erbaut, war es der Sommersitz für einen der Gründerväter der Stadt gewesen, aber die nachfolgenden Generationen hatten andere, modernere Häuser gebaut. So stand es auf einem lang gezogenen Ufergrundstück des Lake Washington, ungepflegt und leer. Die meisten Leute würden die überhöhte Miete, die die Familie dafür wollte, nicht zu zahlen bereit sein - für dieses Geld konnten sie erstklassige Häuser in Broadmoor bekommen.

Riesige alte Ahornbäume säumten den geziegelten Zufahrtsweg, der von der gewundenen Asphaltstraße zum Haus führte. Hartnäckige Shasta-Margariten wuchsen in zwanglosen Gruppen mitten im Gras.

»Nächstes Haus«, sagte Madelaine, während sie einen Sekundenbruchteil auf die zweistimmige Aufforderung Fahr weiter wartete.

Stille.

Sie drehte sich um und schaute zum Rücksitz. Angel und Lina starrten auf das Haus.

»Francis hätte dieses Haus geliebt«, sagte Lina. Sie öffnete die Tür, stieg aus dem Wagen und ging den Weg hoch.

Madelaine sah Angel an.

»Ich hätte mir nie vorgestellt, dass ich in einem Holzhaus leben würde«, sagte er nach einer Minute.

Sie lächelte entschuldigend. »Ich weiß, dass es nicht dein Stil ist.«

Er schenkte ihr ein schnelles, strahlendes Grinsen, das sie fast umwarf. »War es nicht. Aber Nachmittagsspazierfahrten mit einem Volvo auch nicht.« Er erschauerte dramatisch.

Sie musste einfach lachen. »Gehen wir rein.«

Sie stiegen aus und traten gemeinsam auf die Zufahrt. Angel wankte. Madelaine schlang instinktiv einen Arm um seine Hüfte und ließ ihn sich an sie lehnen.

Eine Sekunde später merkte sie, dass sie ihn hielt. Ihr stockte der Atem. Sie drehte sich langsam um, begegnete seinem fragenden Blick. So standen sie eine Ewigkeit, ohne dass einer von ihnen etwas sagte.

»Ich habe dir nie gedankt«, sagte er schließlich.

Ein Gefühl flüchtiger Enttäuschung überkam sie, ohne dass sie wusste, warum. »Dafür gibt's keinen Grund«, erwiderte sie.

»Stimmt nicht«, sagte er und blickte so intensiv in ihre Augen, dass sie überlegte, was er darin sehen mochte. »Ich habe gelernt, dass es immer einen Grund gibt.«

Sie streckte impulsiv eine Hand aus und streifte ihm eine Haarlocke aus den Augen. Einen Sekundenbruchteil später wurde ihr bewusst, dass sie das getan hatte, weil er so wie sein Bruder geklungen hatte. Es war genau das, was Francis in einem solchen Augenblick gesagt hätte. Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich von Verlassenheit. »Im Augenblick wäre er stolz auf dich.«

Es gab keine Frage, wer er war. Angel grinste und schaute sie an. »Weil ich sein liebstes Mädchen halte?«

Sie bemerkte eine Verwandlung in seinen Augen - dieses Mal war darin keine Spur von Francis und seiner zärtlichen, liebevollen Seele. Dieses Mal war darin nur Angel, hitzköpfig und auf brutale Weise ernst, und er sah sie an, als ob sie ihm wichtig sei. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Plötzlich fühlte sie sich, als sei sie wieder sechzehn, sei in den Armen des Jungen, der sie liebte.

Sie sagte sich, dass ihr das egal sein müsse, dass sie nichts von diesem Mann wollte, der ihr das Herz gebrochen hatte, aber sie wusste, noch während sie diesen Gedanken hatte, dass es zu spät war, und diese Erkenntnis machte ihr schreckliche Angst. »Nein. Weil du dich veränderst, Angel. Und wir beide wissen, wie schwer so etwas ist.«

Er lachte und löste sich von ihr. Sie wandten sich dem Holzhaus zu und machten sich dann gemeinsam auf den Weg dorthin. Auf halbem Wege ergriff Angel Madelaines Hand.

Als sie am nächsten Morgen zur Arbeit kam, war der Parkplatz voll von Übertragungswagen. Reporter waren wie ein Rudel gefräßiger Hyänen über das Krankenhaus hergefallen, machten Fotos von jedem, der zur Eingangstür ging, überschütteten jeden, den sie sahen, mit Fragen.

Madelaine war außer Atem und verärgert, als sie sich durch die Menge drängte und wohl ein Dutzend Mal »Kein Kommentar« murmelte. Als sie ihr Büro erreichte, warteten Sarandon und Allenford bereits auf sie.

Madelaine seufzte und warf den Wildledermantel über die Rückenlehne ihres Sofas. »Angel wusste, dass das kommen würde. Man hat ihn gestern kurz vor seiner Entlassung gesehen.«

»Muss diese nette Frau gewesen sein, die ich in dem Sensationsblatt >Hard Copy< gesehen habe«, sagte Sarandon ruhig und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

»Was erwartet Angel von uns?«, fragte Allenford.

»Wir sollen der Presse bestätigen, dass er eine Herzoperation hatte. Sagen, dass die Operation erfolgreich war und er entlassen wurde. Darüber hinaus will er keinen Kommentar.«

»Das wird nicht lange helfen.«

Madelaine hörte den Anflug von Eifer in Chris' Stimme und sie glaubte, den Grund dafür zu kennen. Der Chirurg wollte, dass alle Welt erfuhr, was für eine großartige Arbeit er geleistet hatte. »Nein«, sagte sie. »Das wird's nicht. Aber er gewinnt dadurch ein wenig Luft.« »Okay.« Chris erhob sich. Sarandon sprang ebenfalls auf. »Gehen wir ... alle drei.«

Sie verließen das Büro und bogen um die Ecke, liefen den Korridor der Intensivstation hinunter wie die Astronauten aus dem Film Der Stoff, aus dem die Helden sind. Chris war in der Mitte, Sarandon links von ihm und Madelaine rechts.

Sie traten im Gleichschritt aus der Eingangstür und marschierten zum Parkplatz hinunter.

»Ich möchte eine Erklärung zu Angel DeMarco abgeben«, sagte Chris.

»Augenblick«, schrie jemand.

Reporter und Kameramänner richteten ihre Aufmerksamkeit auf die drei Ärzte und bildeten einen engen Kreis um sie. Mikrofone wurden Chris vors Gesicht gehalten.

Er sah ruhig und völlig unbeeindruckt aus. »Mr Angelo DeMarco war unlängst Patient in diesem Krankenhaus. Nach seinem Zusammenbruch in Oregon, über den ausführlich berichtet worden ist, wurde er wegen einer Herzoperation hierher verlegt. Die Operation ist erfolgreich verlaufen und Mr DeMarco ist entlassen worden.«

»Hat er Aids?«, schrie jemand.

»Nein, hat er nicht.«

»Wann war die Operation?«, wollte ein anderer wissen.

»Bedaure, aber das Datum habe ich nicht dabei«, sagte Chris ruhig.

»Warum verheimlichen Sie das Datum?«

Chris nickte kurz. »Danke für Ihr Interesse.«

Blitzlichter zuckten, Kameras klickten, Fragen wurden laut.

Aber die Pressekonferenz war vorbei.

Es war still hier in diesen frühen Morgenstunden vor Schulbeginn. Dünne gelbe Wolken zogen sich über die Baumwipfel und die ersten schimmernden Sonnenstrahlen blitzten auf den Metalltribünen. Lina spürte, wie ihre Füße in dem matschigen, von Regen durchtränkten Gras versanken, und es vermittelte ihr ein seltsam erhebendes Gefühl, eine Reihe von Fußabdrücken auf dem Footballfeld zu hinterlassen. Es war, als sei sie endlich einmal tatsächlich hier.

Sie hörte die anderen Jugendlichen reden, lange bevor sie den Rand des Abhangs erreichte. Ihre plappernden Stimmen trieben von dem dunklen Wäldchen hoch, begleitet vom süßen Duft von Marihuana.

Sie konnte es nicht erwarten, bei ihnen zu sein. Sie steckte die Hände in die Taschen und rannte zum Rand des Hanges, starrte auf die Menge hinunter, zu der sie so verzweifelt versucht hatte, dazuzugehören.

Sie waren dort unten, standen beisammen, reichten eine Thermosflasche in einer Richtung herum, einen Joint in der anderen. Die wenigen, die keinen Stoff rauchten, pafften ihre Zigaretten.

Lina runzelte die Stirn, war plötzlich enttäuscht. Gestern Abend hatte Angel - ihr Dad\ - mit ihr über Drogen und Schnaps und Zigaretten gesprochen.

Sie hatte all das eine Million Mal vorher gehört, aber letzte Nacht war das anders gewesen. Zum einen war Angel ihr Dad und sie wollte, dass er sie liebte. Aber er schien sie auch auf eine Weise zu verstehen, wie es niemand zuvor getan hatte. Letzte Nacht, als sie zusammen auf der Verandaschaukel gesessen hatten, dem metallischen Klirren aus der Küche gelauscht hatten, das nach draußen drang, hatte Lina in die Augen ihres Vaters geblickt und das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu schauen. Er war der erste Erwachsene, den sie je kennen gelernt hatte, der sich daran erinnerte, wie es war, ein Kind zu sein.

Als sie ihm das gesagt hatte, hatte er gelacht und geantwortet, es läge daran, dass er nie erwachsen geworden sei. Aber dann, während sie herumalberten, war er plötzlich ernst geworden. Als sie eine Zigarette aus dem Päckchen zog und sie anzünden wollte, nahm er ihre Hand und starrte sie so lange an, dass sie sich fürchtete.

»Zuerst einmal«, sagte er, »darfst du wegen der Operation in meiner Anwesenheit nicht rauchen. Aber was noch wichtiger ist - nur Idioten rauchen und ich halte dich für ein kluges Mädchen.«

Bei seinen Worten fühlte sie sich klein und dumm und murmelte etwas. Sie legte die Zigarette weg. Danach schwiegen sie. Die Nacht senkte sich langsam, breitete sich über den ungepflegten Hof, verwischte die Konturen der Bäume. Ein Nachtfalter kam aus seinem Versteck und flatterte um das Verandalicht.

Schließlich sprach ihr Dad wieder und dieses Mal wusste sie, dass er vor jedem Wort, das er sagte, lange und intensiv nachgedacht hatte. »Ich bin Alkoholiker, Angelina, drogensüchtig und ... noch Schlimmeres. Ich weiß, was einen Menschen ins Dunkel bringt, dazu, nach ein bisschen Licht zu suchen - selbst, wenn dieses Licht einen verdammt hohen Preis hat und nur für die Dauer eines Abends brennt.« Darauf wandte er sich zu ihr und sie sah die Enttäuschung in seinen Augen. »Ich habe mein Leben ruiniert - und zwar mit Drogen und Alkohol. Bitte, sei du nicht wie ich. Es würde mir das Herz brechen.«

»He, Lina!« Jeffs Stimme verscheuchte ihre Gedanken.

Lina schaute beunruhigt in die Schlucht und sah Jett an seiner üblichen Stelle stehen. Er hielt die Thermosflasche in der einen Hand, einen Joint in der anderen. »Bringst du was zu trinken mit?«

Lina runzelte die Stirn. Zum ersten Mal störte es sie, dass Jett immer etwas von ihr wollte. »Nee«, schrie sie nach unten.

Er wandte den Blick von ihr ab, noch bevor sie das Wort ganz ausgesprochen hatte. »Blöde Nuss!«, schrie er und alle lachten. Dann reichte er den Joint weiter in der Runde.

Lina blieb eine weitere Minute stehen, wo sie war, wartete darauf, dass jemand ihr etwas zurief oder sie aufforderte, nach unten zu kommen. Aber die Jugendlichen schienen vergessen zu haben, dass sie überhaupt existierte. Die Hände tief in die Taschen versenkt, ging sie vorsichtig über den losen Uferhang nach unten, zertrat mit ihren schmutzigen Tennisschuhen den Efeu und die Pilze auf dem Wege.

Sie trat neben Jett und blieb dort stehen, sagte nichts. In der Ferne läutete die Schulglocke zum zweiten Male und alle lachten.

Jemand reichte Lina den Joint. Sie starrte ihn an, schaute blinzelnd in den Rauch, der in ihren Augen brannte. Dann reichte sie den Joint weiter.

Jeff schaute sie verwundert an. »Willst du nicht high werden?«

Sie zuckte die Schultern. »Mir ist nicht danach.«

»Warum nicht?«

Alle warteten atemlos auf ihre Antwort.

»Ich hab gestern Abend meinen Dad kennen gelernt.« Sie spürte einen Adrenalinstoß, während sie die Worte sagte.

Jett nahm einen tiefen Zug und hielt den Atem an. Dann blies er ihr den Rauch ins Gesicht. »Ach ja?«

»Ja«, sagte sie und grinste ihn an. »Es ist Angel DeMarco.«

Für einen Augenblick herrschte gelähmte Überraschung, dann brachen alle in Gelächter aus.

»Aber natürlich ist er das, Lina«, lachte Brittany. »Und mein Vater ist Jack Nicholson.«

Jett sah sie stirnrunzelnd an. »Also, wer ist er wirklich?«

Lina starrte sie an. Ganz plötzlich fühlte sie sich hier unwillkommen und fragte sich, ob sie jemals wirklich dazugehört hatte. »Das habe ich doch schon gesagt, es ist Angel DeMarco.«

Jett blickte sie erstaunt an, hob langsam eine schwarze Augenbraue. »Ich hab' gelesen, er hat Aids.«

»Nein«, erwiderte sie. »Er hat nur einen Bypass bekommen. Keine große Sache.«

»Aber sicher«, sagte Britany mit einem verächtlichen Lachen, »als ob du das wüsstest.«

Sie drehte sich zu der Menge. »Ich weiß es. Ich habe das ganze Wochenende mit ihm verbracht und er hat mir gesagt, dass er eine Bypass-Operation hatte.«

»Du bist eine Lügnerin«, sagte Jett leise und sie wusste in der Sekunde, als er sprach, dass die ganze Gruppe ihm folgen würde. Dann grinste er sie an. »He, gib mir 'ne Kippe, ja?«

»Kauf dir selbst welche«, schnappte sie.

Jett wandte sich ihr wieder zu. »Was hast du gesagt?«

Sie starrte zu ihm auf, sah seine von Drogen bleiche Haut und die blutunterlaufenen Augen und das viel zu schwarze Haar, das ihm in die Stirn fiel. Sie fragte sich, was sie in ihm eigentlich gesehen hatte. Angewidert schüttelte sie den Kopf. »Mein Onkel Francis hatte Recht. Ihr seid ein Haufen Verlierer, sonst nichts.«

Der Ausdruck in Jetts Augen wurde hässlich. »Ach, wirklich?«, flüsterte er.

Sie wich zurück. »Ja, wirklich.«

Jett folgte ihr. Sie stolperte über einen Stein, stürzte und landete auf dem Hinterteil. Er trat dicht vor sie, grinste auf sie hinab. »Und wohin willst du jetzt?«

Sie stützte ihre Hände auf den lehmigen Boden und sprang auf. »Ich werde sehen, dass ich von euch wegkomme, und das schnellstens.«

Er lachte, aber sein Lachen war ein kaltes, wütendes Geräusch, das ihr Angst machte - genau so, wie es gedacht war.

»Und was willst du tun, dich mit den Cheerleaders anfreunden? Die wollen mit einem hässlichen Mädchen wie dir nichts zu tun haben, Hillyard.« Er lachte wieder. »Und diese schlappe Geschichte, dass Angel DeMarco dein Vater ist, wird dir auch niemand glauben. Sieh doch mal klar. Wir sind die einzigen Freunde, die du hast. Und jetzt hör auf, hier einen auf Schau zu machen, und gib mir was zu rauchen.«

Lina schlug ihm ins Gesicht. Die Ohrfeige hallte in der dichten, feuchten Luft wider. Ihr wurde eine Sekunde zu spät bewusst, was sie getan hatte - sie sah den Ärger in seinen Augen dämmern und dann rannte sie davon, schleppte sich am Ufer hoch und lief über das Footballfeld. Er griff nach ihr, verfehlte sie und fluchte, aber jetzt hatte sie einen erheblichen Vorsprung gewonnen.

Lina sah sich nicht um. Sie rannte den ganzen Weg zur Schule und rutschte in den stillen Korridor. Schwer atmend eilte sie zu der Tür von Vicki Owens Büro und klopfte heftig. Als die Beratungslehrerin »Herein« sagte, stürmte Lina in das Zimmer und schlug die Tür laut hinter sich zu. Sie sank auf den Stuhl, atmete ein paar Mal tief und schwer ein und sah dann Miss Owen an. »Ich brauche Hilfe.«

 

Eine halbe Stunde später saß Lina allein in der Turnhalle der Schule und wartete auf einen Jungen, den sie nicht kannte. Miss Owens Neffe oder Cousin oder etwas in der Art.

Miss Owen hatte zugehört, als Lina ihre Geschichte über Jett und die Bande erzählte, und dann ganz einfach gesagt: »Du brauchst neue Freunde, Lina.«

Lina hatte gelacht. »Oh, ja. Ich werde mir morgen früh ein paar aus der Cornflakesschachtel nehmen. Dann brauche ich nur noch eine Kassenquittung.«

Miss Owen hatte lediglich gelächelt und Lina gesagt, sie solle in die Turnhalle gehen und warten. Und jetzt war sie hier, saß auf dem kalten Boden des Basketballspielfeldes und hatte die Arme verschränkt. Und wartete.

Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Tür quietschend. Ein Junge blieb im Türrahmen stehen und kam dann langsam auf sie zu. Seine Schritte hallten in dem riesigen Raum von den Wänden wider.

Lina starrte ihn an, sah seine Gesichtszüge mit jedem Schritt, den er näher kam, deutlicher. Er war groß - viel größer als sie - und hatte kurzes blondes Haar. Seine Haut war hell und auf seinen Wangen leuchteten zwei große rote Flecken. Er trug ein riesiges, weites Sweatshirt und übergroße Jeans.

Schließlich erkannte sie ihn. Er war der stellvertretende Sprecher der Schülervertretung - Zach Owen. »Hi«, sagte er und sah sie mit einer Direktheit an, bei der sie sich unbehaglich fühlte.

Sie nickte, sagte aber nichts.

Er hockte sich vor ihr auf den Boden. »Meine Tante sagte mir, dass du Probleme hast.«

»Nichts, womit ich nicht fertig werden könnte.« Sie musterte ihn. »Außerdem, was weißt du schon von Problemen?«

Er lachte und für eine Sekunde erinnerte er sie mit seinem Lachanfall an Francis. »Ist nur Schau«, sagte er, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Letztes Jahr sind meine Eltern gestorben und ich hatte einen ziemlichen Hänger, bin abgesackt - hab getrunken, Drogen genommen und all das.«

Sie musterte ihn misstrauisch. »Ja, sicher, und ich bin das uneheliche Kind von Michael Jackson.«

Er grinste sie an. »Du siehst ihm aber gar nicht ähnlich.«

»Sehr komisch. Hör zu, ich muss los ...« Sie wollte aufstehen und gehen, aber er griff nach ihr und hielt sie fest.

»Lauf nicht weg.« Das war alles, was er sagte. Nur diese drei schlichten Worte. Aber in seiner Stimme hörte sie Verstehen. Und plötzlich schienen diese drei Worte überhaupt nicht so schlicht zu sein. Sie setzte sich langsam wieder hin und sah ihn an, sah ihn wirklich an. »Wie bist du davon losgekommen?«

»Tante Vicki hat mich in den Entzug gebracht. Als ich trocken war, bin ich auf diese Schule gewechselt. Zuerst war es schwer ... Ich kannte niemand. Aber dann habe ich mich als stellvertretender Schülersprecher beworben, um Freunde zu bekommen, und wurde gewählt.« Er grinste verlegen. »Natürlich ist niemand gegen mich angetreten.«

»Ich hab an diesem Wochenende erfahren, dass Angel DeMarco mein Vater ist.« Sie hatte das eigentlich nicht sagen wollen, aber sie platzte einfach damit heraus. Sie wartete darauf, dass er reagierte, hatte ihre Schultern verspannt. Sie wartete darauf, dass er sich über sie lustig machte.

Er musterte sie. »Ja, du siehst ihm irgendwie ähnlich.«

»Wirklich?« Sie hörte die absolut sonderbare Ehrfurcht in ihrer Stimme und zuckte verlegen zusammen.

»Aber du bist erheblich hübscher.«

Das Kompliment schmeichelte ihr. Ein Lächeln spielte kurz um ihre Mundwinkel. »Danke.«

Sie schaute ihn wieder an und zum ersten Mal bemerkte sie, dass er wie ein junger Hugh Grant aussah. Überhaupt nicht wie ein Blödmann.