Kapitel 7
Angel versuchte, nicht an Madelaine zu denken. Gott wusste, dass es viele andere Dinge gab, über die nachzudenken war, aber sie wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Er kniff seine Augen fest zu, kämpfte mit allem, was in ihm war, gegen Erinnerungen an. Das Problem war, dass so wenig in ihm war. Das war immer sein Problem gewesen. Tief, tief drinnen, an der Stelle, von der Poeten und Metaphysiker und Priester glaubten, dass dort eine Seele sein solle, hatte Angel nichts. Schon als Kind hatte er gewusst, dass etwas Lebenswichtiges in ihm fehlte, ein wahres Ehrgefühl, ein Gefühl für Recht und Unrecht und Güte. Er war auf eine kalte, rücksichtslose Art egoistisch. Jahrelang hatte er versucht, diese Einsicht umzudeuten, sich gesagt, er sei einfach ein Produkt beschissener Eltern oder des schäbigen kleinen Hauses, in dem er aufgewachsen war, oder des Essens, das nicht auf dem Tisch stand.
Aber Francis war auch in diesem Wohnwagen aufgewachsen, oder etwa nicht? War auf dieselben Schulen gegangen, hatte den gleichen betrunkenen Predigten von Eltern zugehört, denen er eigentlich egal war, und jeder wusste, dass Francis keine Löcher in seiner Seele hatte. Teufel auch, Francis besaß mehr Seele als der Heilige, dessen Namen er trug.
Es hatte nur einmal eine Zeit in Angels Leben gegeben, in der er glaubte, dass er sich vielleicht in sich irrte. Geglaubt hatte, dass er vielleicht eine Chance hätte.
Jener Sommer. Die Erinnerungen an diese kurze Zeit ruhten in einem anderen Teil seines Gedächtnisses, waren wie die strahlende Burg Camelot inmitten der heruntergekommenen Kneipen und dunklen Löcher, in denen er danach gelebt hatte. Und wie Camelot war dieser Sommer wahrscheinlich eher ein Gebilde der Fantasie denn aus Tatsachen.
Dennoch erinnerte er sich, was es für ein Gefühl gewesen war, Hoffnung zu haben, wenn auch nur flüchtig. Als er in Madelaines Augen geschaut, den warmen Trost ihrer kleinen Hand gespürt hatte, die er mit seiner hielt, sich unter den Piers im feuchten Sand an ihren Körper schmiegte, hatte er sich gesagt, er habe endlich ein bisschen Glück gefunden, etwas, wofür es wert war, zu kämpfen, wert war, zu leben.
Aber dann war er in dieses stille, glitzernde Haus auf dem Hügel gegangen und mit der Finsternis seiner eigenen Seele konfrontiert worden. Er hatte in Alexander Hillyards unergründliche Augen geschaut und die ernüchternde Wahrheit gesehen. Sie waren gleich, er und Alex. Rücksichtslos, egoistisch, gemein bis ins Mark.
Francis hatte es natürlich gewusst. Tu's nicht, Mann. Lauf nicht einfach davon. Was es auch sei, wir können darüber reden. Überlegen, was zu tun ist.
Ah, dachte Angel, rieb sich seine Schläfen und atmete ermattet aus. Francis hatte Recht. Francis hatte immer Recht. Das eben war eines der Dinge, die ihm, Angel, gegen den Strich gingen, eines der Dinge, die ihn dazu brachten, immer zu rennen, immer angestrengter, schneller, was ihn nirgendwohin führte, einer Wüstenmaus im Laufrad gleich. Er versuchte ständig, mit dem Geist des guten alten Francis um die Wette zu laufen und ihn zu besiegen.
Er hatte geglaubt, dass er es mit Erfolg schaffen würde, dass er am Ende als Sieger hervorgehen würde, aber nein. Nicht einmal das konnte er richtig machen. Er war ein weltberühmter Schauspieler und reicher als Gott. Er war aber auch ein saufendes, drogensüchtiges, lügendes menschliches Stück Dreck. Und es gefiel ihm, so zu sein. Er war als Mensch nicht einmal gut genug, um Bedauern darüber zu empfinden, wie er sein Leben vergeudete, und er wusste, dass er es wieder versauen würde, wenn ihm die Gelegenheit dazu gegeben werden würde.
Aber Francis liebte ihn - hatte ihn jedenfalls geliebt. Wahrscheinlich tat er das nicht mehr - nach all dem. Nach all diesen trunkenen Tiraden, dem aggressiven Spott, den grausamen Scherzen, die Angel auf Kosten seines Bruders gemacht hatte. Francis hatte immer gewusst, dass er das Lieblingskind in der Familie war, die einzige Eintrittskarte ihrer Mutter in den Himmel, und er hatte sich immer wegen ihrer einseitigen Zuneigung geschämt, sich so oft entschuldigt. Aber Angel hatte ihm nie zuhören wollen. Es schmerzte zu sehr, der Ausgeflippte zu sein, derjenige, der von der Polizei nach Hause gebracht wurde, der Verlierer. Er hatte sich bewusst trotzig und abscheulich verhalten, gehofft, dass niemand seine innere Qual und seinen Schmerz bemerkte, sein Gefühl, wertlos zu sein. Aber Francis hatte das natürlich bemerkt und es verstanden und ihm verziehen. Angel hatte dieses Verzeihen immer wieder erlebt, seine tröstende Wärme gespürt. Dennoch konnte er die Brücke zurück zur Bruderschaft nicht überqueren, konnte niemals seine Hand ausstrecken und lächeln und sagen mein Bruder, so, wie er es wollte. Konnte sein Temperament nie lange genug zügeln, um sich zu entschuldigen.
Und so war er allein.
Jemand klopfte an seine Tür und sie wurde geöffnet, bevor er antworten konnte.
Madelaine trat in das Zimmer, ein angespanntes, falsches Lächeln auf dem Gesicht, das in ihren Augenwinkeln Fältchen entstehen ließ. Er bemerkte zum ersten Mal, dass sie keine Lachfältchen hatte, weder um den Mund noch um die Augen, und er überlegte, woran das liegen mochte.
Sie starrte ihn an. »Ich habe gelogen und berichtet, dass du kein psychologisches Risiko für die Transplantation bist.«
»Toll. Ich werde einfach hier liegen bleiben und hoffen, dass jemand von einem Bus überfahren wird. He, versuch, mir die Pumpe eines Athleten zu besorgen, ja? Ich steh auf wilden hemmungslosen Sex.«
Er sagte das, um zu sehen, ob sich wenigstens für eine Sekunde eine menschliche Regung in diesen Augen zeigte, die ihn einmal angeschaut hatten, als hätte er die Sterne an den Himmel gehängt.
Sie sah ihn voller Enttäuschung an. Gott, er hatte diesen Blick tausendmal in seinem Leben gesehen. Es war nicht die Emotion, die er gewollt hatte, und sie machte ihn sauer. »Schau mich nicht so an.«
»Du wirst eine Weile hier sein, Angel. Francis wird dich besuchen wollen.« Sie reichte ihm ein Stück Papier. »Hier ist die Telefonnummer.«
»Nein.« Das Wort kam einfach heraus und ihn überraschte die Heftigkeit, mit der er es gesagt hatte. Er wusste im gleichen Augenblick, dass er sich geirrt hatte. Er hatte seine Verwundbarkeit auf den Boden zwischen ihnen geworfen. »Ich meine, ich Vvill keine Besucher. Ich bin eine Berühmtheit«, sagte er und bemerkte zu spät, dass er schrie. »Ich will nicht, dass jemand weiß, dass ich hier bin.«
»Er ist dein Bruder, Angel. Kein Reporter.« Sie trat näher zu ihm. »Tu ihm das nicht an, Angel. Er ist nicht wie du. Er ist schnell verletzt.«
Nicht wie du, Angel. Gott, sie kannte ihn überhaupt nicht. Andernfalls würde sie Angel DeMarcos dreckiges kleines Geheimnis kennen, nämlich das, dass er der am leichtesten verwundbare lebende Mensch auf Erden war. »Ganz ehrlich. Was ist? Bist du mit ihm verheiratet oder was?«
Sie seufzte. »Schlaf ein wenig, Angel.«
Dieses unerwartete Ausweichen brachte ihn durcheinander. Sie hatte seine Frage nicht beantwortet und ihr Schweigen erfüllte ihn mit Zweifeln. Was, wenn sie Francis wirklich geheiratet hatte? Oder mit ihm zusammenlebte oder seine große und einzige, wahre Liebe war?
Angel hatte dies nie in Erwägung gezogen. In all diesen Jahren hatte er sich Francis als den perfekten Gemeindepfarrer vorgestellt und dass Madelaine wegen des Verlustes ihrer ersten Liebe dahinkümmerte. Aber Madelaine verzehrte sich nicht vor Kummer - sah nicht aus, als ob sie sich je deshalb verzehrt hätte. Vielleicht hatte er sich in Francis ebenso geirrt wie in ihr. Vielleicht hatte sein Bruder das Priesterseminar sausen lassen und war an den Stadtrand gezogen. Vielleicht verkaufte er Cadillacs bei dem Gebrauchtwagenhändler an der Ecke...
Nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren war Angel der Gedanke gekommen, dass er eine weit offene Tür hinter sich zurückgelassen haben könnte und dass Francis - Francis, der Gute und Perfekte - direkt durch diese Tür gegangen sein könnte.
Es sollte ihm egal sein.
Aber es war ihm nicht egal. Plötzlich interessierte ihn das irrationalerweise. Er wollte nicht, dass Madelaine die Frau seines Bruders war, die große Liebe seines Bruders. Er wollte sie so, wie sie immer gewesen war. Ein brillant koloriertes Foto in den sepiafarbenen Erinnerungen seines Lebens. Sein und sein allein.
Sie starrte ihn einen langen Augenblick an, wirkte enttäuscht und sagte dann sehr traurig: »Du kannst so berühmt wie Gott werden, aber das ändert nichts an den Tatsachen.« Sie beugte sich zu ihm, so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte. »Du wirst immer Francis DeMarcos kleiner Bruder sein.«
»Ich verbiete dir, ihm zu sagen, dass ich hier bin.«
»Oh, Angel.«
In diesem Moment, in dem Tonfall, in dem sie sprach, klang sein Name wie ein Fluch.
Madelaine bewegte sich hölzern auf ihren Schreibtisch zu. Sie setzte sich hin, zunächst mit stocksteifem Rücken, beugte sich dann sehr langsam vor, ließ beide Ellenbogen auf die Schreibtischplatte sinken und schloss die Augen.
Es hatte sie beträchtliche Selbstbeherrschung gekostet, kalt und uninteressiert zu wirken. Natürlich war Disziplin das Einzige, was sie perfekt beherrschte. Darin hatte sie sich geübt, seit sie Zöpfe trug - hatte gelogen, geheuchelt. In diesem großen Haus auf dem Hügel war das äußerliche Erscheinungsbild alles gewesen.
Ja, Vater, natürlich, Vater. Das werde ich selbstverständlich tun.
Sie war eine Meisterin dieser Art Täuschung, aber sie war nie dazu fähig gewesen, mit den unerfreulichen Nebenwirkungen fertig zu werden - dem trockenen Mund, dem klopfenden Herz, den feuchten Handflächen. Jedes Mal, wenn sie sich stark geben musste, war sie anschließend ein Wrack.
Sie hatte erwartet, dass Angel sich mehr geändert hätte. Jetzt, wo er weltberühmt war, reich und gut aussehend und erfolgreich, sollte er von Freunden umgeben sein. Aber weder Blumen noch Karten noch Anrufe waren für ihn gekommen. Auf dem Korridor wartete keine Frau auf ihn. Es gab keine Freunde, die an seinem Bett saßen. Jetzt, wo es um alles ging, war er völlig allein.
Was hatte er jetzt?, überlegte sie. Was bereitet ihm Freude? Drogen, Gratissex, ein oder zwei Schlägereien in einer schäbigen Kneipe, eine Oscar-Nominierung? Sie fragte sich, ob all die Fotos, die sie im Lauf der Jahre von ihm gesehen hatte, Lügen waren - ein unaufrichtiges Lächeln für eine blitzende Kamera.
Früher, in den alten Zeiten, hatte sie gewusst, was in ihm vorging - oder es zumindest geglaubt. Rein äußerlich war er immer aufbrausend und wütend gewesen, innerlich aber ebenso verletzt wie sie selbst. Sie hatte immer gewusst, dass in ihm ein Loch war, eine tiefe, verborgene Stelle, die blutete. Sie wusste es, weil sie das gleiche Loch in ihrer Seele hatte. Das in ihr war aus Einsamkeit geboren und vertieft aus der Erkenntnis, dass ihr Vater sie verachtete. Im Lauf der Jahre hatte sie es mit einer blanken, dünnen Mauer von Glas überdeckt, durch die sie sich zerbrechlich und leicht angreifbar fühlte. Aber immerhin bot die ein wenig Schutz.
Doch wer wusste schon, wie es bei Angel war?
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch läutete, unterbrach ihre Gedanken. Sie nahm den Hörer ab und hörte Hildas Stimme. »Es ist Tom, Madelaine. Herzstillstand.«
»Scheiße!« Madelaine warf die Papiere auf ihren Schreibtisch und eilte zur Tür. Während sie über den Korridor rannte, hörte sie das Plärren des Alarms aus den Lautsprechern. Notfall, Intensivstation... Notfall, Intensivstation.
Sie schlitterte förmlich in den Raum. Weiß und blau gekleidete Leute drängten sich um das Bett, schrien einander an, riefen nach Instrumenten. Hilda war bereits da, stand über Tom gebeugt, hatte die Hände aufeinander gelegt und drückte auf seine Brust. Sie sah Madelaine und warf ihr einen panischen Blick zu. »Wir verlieren ihn.«
»Gebt mir den Wagen«, bellte Madelaine, die sich durch die Menge zum Bett drängte. Der Wagen wurde zu ihr geschoben. »Intubieren«, sagte sie.
»Lidocainum läuft«, antwortete die Zweitschwester.
Madelaines Blick flog zum Monitor. »Scheiße«, zischte sie wieder. Es wirkte nicht. »Scheiße. Defibrillator.«
Jemand reichte ihr die Elektroden des Defibrillators. Hilda riss Toms Kittel auf und Madelaine presste die Elektroden auf die hässliche rote Narbe, die seine Brust teilte. »Los!«
Strom schoss durch Toms geschundenen Körper. Sein Rücken hob sich vom Tisch, fiel dann wieder zurück. Alle Blicke wanderten zum Monitor. Flache Linie.
»Noch mal«, sagte Madelaine.
Wieder zuckte Tom in einem unmenschlichen Krampf auf dem Tisch. Madelaine hielt den Atem an. Sie starrte auf den schwarzen Kasten. Ein kaum hörbares Blip-blip-blip drang aus dem Monitor. Eine pinkfarbene Linie bildete einen Höcker darauf, dann eine Wellenform und rutschte weiter.
»Wir haben einen Puls ... Blutdruck achtzig zu fünfzig und steigend...«
Madelaine seufzte erleichtert auf. Ein Geräusch, in das die anderen im Raum nach und nach einfielen.
»Fast ein Fall für den Leichenbestatter«, sagte Hilda mit einem müden Lächeln, während sie Tom extubierte.
Madelaine antwortete nicht darauf. Die Mitglieder des Teams verließen einer nach dem anderen den Raum, sprachen miteinander. Der Noteinsatz war bereits vorbei und die übliche Routine ging weiter.
Hilda blieb. Sie legte eine Hand auf Madelaines Schulter. »Bis zu diesem Zeitpunkt war bei ihm alles gut verlaufen. Die Medikamente wirkten gut. Die Biopsie war negativ.«
Madelaine nickte. Sie versuchte ein Lächeln, aber es kostete sie zu viel Anstrengung. »Danke, Hilda. Ich werde noch eine Minute bei ihm bleiben.«
Hilda eilte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Madelaine beugte sich über Tom und flüsterte ihm ins Ohr.
»Kämpf weiter, Tom. Kämpf mit aller Kraft. Du wirst es schaffen.« Sie wusste, dass die meisten Mitglieder der medizinischen Gemeinde ihre Auffassung nicht teilten, aber Madelaine glaubte daran, dass die Kraft des Verstandes und des Geistes den Körper heilten. Zumindest wollte sie, dass das wahr war.
Toms Augen öffneten sich mit einem Lidflattern. »He, Doktor«, sagte er mit kratziger Stimme. »Ist ein Gefühl, als ob jemand mit einem monströsen LKW über meine Brust gefahren wäre.«
Sie lächelte ihn an. »Ich bekenne mich schuldig. Ich hab auf einen Mann geschossen, als er schon am Boden lag.«
»Ihr Emanzen ... ihr seid doch alle gleich.«
Sie lachte leise. »Emanzen. Also die Formulierung habe ich wirklich lange nicht gehört. Sie machen sich unnötig älter, als Sie sind, Tom.«
»Glauben Sie mir ...« Er hustete und rieb sich seine Kehle. »In meiner Lage ist man stolz darauf, älter zu werden.« Dann berührte er ihre Hand für eine Sekunde, so sanft, dass sie nicht einmal bemerkte, was er getan hatte. »Bleiben Sie noch ein bisschen.«
Sie sah die Furcht in Toms Augen, die Regung, die er so angestrengt hinter einem Schild von Scherzen und lockeren Sprüchen zu verbergen versuchte. »Wann wird Susan hier sein?«
»Nach der Arbeit. Dauert nicht mehr lange.«
Madelaine griff zum Telefon und wählte die Nummer des Pfarrhauses. Die Haushälterin holte Francis ans Telefon.
»Hi, Francis«, sagte sie mit weicher Stimme. »Könntest du Lina von der Schule abholen?«
»Ist doch keine Frage. Möchtest du, dass ich mit ihr essen gehe?«
»Das wäre großartig«, antwortete sie. »Ich werde in ein paar Stunden zu Hause sein.«
Sie legte den Hörer auf, griff dann hinter sich und zog einen Stuhl heran. Sie setzte sich und beugte sich über das Bett. »Gestern Abend haben Sie mir von den Reitstunden Ihrer Tochter erzählt...«
Francis stand unter der alten Eiche an der Pacific Street. Gedämpftes Sonnenlicht fiel durch die welkenden Blätter und malte ein Gewirr von Gold auf das Gras.
Die Glocke schlug. Binnen weniger Augenblicke kamen Kinder aus dem Ziegelgebäude gerannt, hüpften über die breiten Zementstufen. Auf dem Vorplatz teilten sie sich in Reihen und schwärmten aus, gingen auf die Busse zu, die auf der Zufahrt geparkt waren.
Wie er erwartet hatte, war Lina unter den Letzten, die herauskamen. Sie ging mit ihrer Clique - sie sahen aus wie ein Haufen von Flüchtlingen aus der Notaufnahme einer Station des Roten Kreuzes.
Er löste sich von dem Baum und winkte ihr zu. »Lina! Komm her.«
Er wusste, in welchem Augenblick sie ihn sah - sie lächelte instinktiv, änderte dann ihr Verhalten. Sie murmelte den anderen ein »Tschüs« zu, zog ihre übergroßen Jeans hoch und schlenderte auf ihn zu. Ihr gestutztes Haar wippte bei jedem Schritt. Ihr Rucksack baumelte schlaff an ihrer linken Hand. Der Leinenstoff schleifte über den Zementbürgersteig, während sie in seine Richtung ging.
Er lächelte sie an. »Ich sehe, du treibst dich noch immer mit der Bande herum.«
»Ts, ts - das ist keine sehr christliche Bemerkung.« Sie warf ihm einen koketten Blick zu. »Außerdem sind einige von ihnen total als Katholiken geeignet... Sie finden die Missionarsstellung stark.«
Francis spürte die Hitze, die in seine Wangen stieg. Er sah Linas verschmitztes Grinsen und wusste, dass sie sein Erröten sah. »Ich vermisse die Tage, an denen ich dir deinen Mund mit Seife auswaschen konnte.«
»Das hast du niemals getan.«
»Nein, ich habe die Gelegenheit verpasst und jetzt ist es zu spät.«
»Ich werde mit Tequila spülen. Wie ist das?«
Er blieb plötzlich stehen und wandte sich zu ihr. »Das ist nicht komisch.« Er wusste, dass er mehr sagen sollte, aber die Dinge liefen gut - sie schien nicht böse auf ihn zu sein, weil er an ihrem Geburtstag Madelaines Meinung vertreten hatte. Er wollte keinen Ärger machen. Feigling, dachte er, während er innerlich zusammenzuckte, aber dennoch sagte er nichts mehr. »Was hältst du davon, wenn wir was essen gehen und uns einen Film ansehen?«
Lina seufzte. »Ist Mom mal wieder mit Arbeiten beschäftigt, die sie irgendwann heilig machen?«
Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie dicht an sich. »Du benimmst dich wie ein rotznäsiger Teenager.«
»Ich bin ein Teenager.«
»Ich weiß, ich weiß, aber gestehe mir meine kleinen Phantasien zu. Ich erinnere mich gerne daran, wie du einmal warst... als du noch keine Kampfstiefel trugst und dein Lieblingskraftausdruck Mama war.« Er lachte und sie lachte auch, während sie gemeinsam über den Bürgersteig gingen.
Neben seinem Wagen blieb Lina stehen und blickte zu ihm auf. »Wie war ich... du weißt schon, als ich noch ein Kind war? War ich damals so anders als sie?«
Francis hörte den Schmerz in ihrer Stimme, die Ungewissheit. Er führte sie zu einer Holzbank an der Ecke und sie setzten sich darauf. Sie schmiegte sich an ihn und plötzlich sah sie nicht einmal annähernd so anmaßend aus. Sie sah aus wie ein hageres, junges Mädchen in zu großer, hässlicher Kleidung -wie ein Kind, das sich sehnlichst wünschte, einen Weg zu finden, um zur Frau zu werden.
Er zog sie an sich. Sie lehnten sich zusammen zurück und starrten in den frischen Herbsthimmel hinauf. »Ich erinnere mich an deinen ersten Schultag, als ob es gestern gewesen wäre. Du wohntest mit deiner Mom in diesem großen Apartmenthaus im Universitätsbezirk. Das waren die Tage, an denen sie als Assistenzärztin im UW-Hospital arbeitete, und sie arbeitete rund um die Uhr. Du hast diese Tage auf der Kinderstation verbracht - warst mit den operierten Kindern im Aufenthaltsraum zusammen. Deine Mom schlief nie. Sie arbeitete und studierte, aber in jeder freien Sekunde war sie bei dir, las dir vor, spielte mit dir, liebte dich, wie ich noch nie zuvor jemand habe lieben sehen.«
»Märchen«, murmelte Lina. »Sie hat mir Märchen vorgelesen.«
»Schon damals warst du ein ungestümes, selbständiges kleines Ding. An dem Tag, als du in den Kindergarten kamst, nahm deine Mutter sich von der Arbeit frei. Sie zog dich an und wieder aus und wieder an, bis du mit deinen glänzenden schwarzen Schuhen und rosa Haarbändern und deiner Sesamstraßen-Brotdose wie eine Puppe aussahst. Alles war so arrangiert, dass die Eltern an diesem ersten Tag mit ihren Kindern im Bus fahren konnten - und Maddy war so aufgeregt. Sie war noch nie zuvor mit einem Schulbus gefahren und konnte es kaum erwarten. Aber als du an der Haltestelle warst, drehtest du dich zu ihr um und sagtest, du wollest alleine fahren.«
Lina runzelte die Stirn. »Daran erinnere ich mich nicht.«
»Tja, aber ich. Deine Mom brach fast in Tränen aus, aber sie wollte dir nicht zeigen, wie verletzt sie war. Stattdessen ließ sie deine kleine Hand los und ließ dich ganz allein in diesen großen Bus steigen. Du hast ihr nicht einmal zum Abschied zugewinkt, sondern bist direkt zu einem leeren Sitz marschiert und hast dich hingesetzt. Als sich die Türen geschlossen hatten, rannte Maddy nach Hause, sprang in ihren alten rostigen Wagen und folgte dem Bus zur Schule. Den ganzen Weg dorthin und zurück weinte sie.« Er wandte sich ihr zu und berührte ihre Wange. »Sie war so stolz auf dich ... und so ängstlich.«
»Ich weiß, dass sie mich liebt«, sagte Lina und starrte irgendwohin in die Ferne. »Und ich liebe sie. Es ist nur... manchmal schwer. Ich fühle mich, als gehörte ich nicht wirklich zu ihr. Es ist, als ob mich ein Außerirdischer zufällig zurückgelassen hätte.«
Er hielt sie fester. »Das gehört zum Erwachsenwerden. Keiner von uns weiß, wo er hingehört. Wir verbringen ein ganzes Leben damit, das herauszufinden.«
»Du hast gut reden. Du liebst Mom und mich, aber du gehörst Gott.«
Es war ihm unmöglich, ihr darauf zu antworten. Doch er wünschte sich - Gott, wie sehr er das wünschte -, dass es so einfach für ihn wäre. »Ja«, sagte er langsam. »Das ist eine recht gute Zusammenfassung meines Lebens.«
»Wusstest du, dass Mom versprochen hat, mit meinem Dad Kontakt aufzunehmen?«
Für eine Sekunde konnte Francis nicht atmen. Schließlich antwortete er. »Nein, das wusste ich nicht.«
Lina grinste ihn an. »Ja. Ich bin irgendwie nervös, aber vor allem bin ich aufgeregt. Ich werde ihn schon bald kennen lernen.«
Francis spürte, dass die Furcht wiederkehrte, und auf sie folgte Scham. Gott mochte ihm verzeihen, aber er wollte nicht, dass Lina ihren Vater kennen lernte. »Tja«, sagte er schließlich. »Was hältst du davon, wenn wir eine Pizza essen gehen?«
»Du willst dem Kind einer Kardiologin eine Pizza anbieten?«
Er lachte und es war ein gutes Gefühl, so, als ob für eine Sekunde in seiner Welt alles normal wäre. »Ich werd's nicht verraten, wenn du's auch nicht verrätst.«
Lange nachdem sie ihn allein in seinem Zimmer gelassen hatte, lange nachdem die Krankenschwestern mit ihm fertig waren, lange nachdem Hilda ihre Litanei über die Abfolge des bald erfolgenden Ausnehmens abgefeuert hatte, konnte Angel noch immer nicht schlafen. Er hatte um mehr Medikamente gebeten, um schlafen zu können, doch die waren ihm verweigert worden, und so lag er da und war hellwach.
Denken war das Letzte, was er an diesem gottverlassenen Ort tun wollte. Aber er konnte die Bilder nicht aus seinem Verstand verdrängen. Francis und Madelaine bumsten heftig in einem Himmelbett und zwölf Kinder schliefen im Schlafzimmer nebenan. Ein weißer Zaun um eine blitzsaubere Turnhalle.
Er schloss seine Augen und wusste sofort, dass es ein Fehler war. Die Erinnerung überkam ihn, scharf und klar und mit herzzerreißender Deutlichkeit ...
Es war heller Tag gewesen, ein sonniger Sommertag, und Angel war an ein Krankenhausbett gefesselt. Francis saß neben ihm und sprach. Aber Angel war siebzehn und zu wütend, um zuzuhören - wütend darüber, dass er krank war, wütend auf den dämlichen Arzt, der ihm gesagt hatte, er müsse sein Leben ändern, dass er sterben würde, wenn er nicht besser auf sich Acht gab. Himmel noch mal - er wusste nicht, was Myokarditis war, und es war ihm auch scheißegal. Er wusste nur, dass er sich zu gut fühlte, um in einem Krankenhaus zu liegen. Er wollte nicht an ein Bett gefesselt sein, das sie sich nicht leisten konnten, wie seine Mutter nicht müde wurde, ihm zu erzählen.
Der Sommer lag vor ihm, lang und langweilig, und die Diagnose - Viralinfektion, die das Herz angriff-machte ihn völlig fertig. Die blöden Ärzte erzählten ihm dauernd, dass er sterben könne, wenn er nicht vorsichtig sei, dass er das Rauchen und Trinken sein lassen müsse, aber er fühlte sich völlig gesund. Mit seinem Herzen war alles in Ordnung.
Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich, aber Angel machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu bemitleiden. Francis beugte sich zu ihm und flüsterte ein ehrfürchtiges »Jesus«.
Für eine Sekunde hatte Angel nicht gewusst, was sein Bruder meinte. Dann wandte er seinen Kopf und sah sie. Ein klapperdürres Mädchen - eine freiwillige Helferin in bunt gestreiftem Kleid - stand in der Tür mit großen Augen, die nicht blinzelten, nagte mit ihren Zähnen an ihrer vollen weichen Unterlippe. Sie hatte blasse, elfenbeinweiße Haut und dunkle Augenbrauen, die aussahen, als ob sie mit einem Filzstift gezogen seien. Sie presste einen Stoß von Heartbeat- und Tiger Betf £-Musikmagazinen an ihre Brust.
Angel hatte ihr freundliches Privatschülerinnengehabe ganz nett gefunden, aber dann gesehen, wie sie sich in den klaren blauen Augen seines Bruders widerspiegelte, und plötzlich war sie mehr geworden, so viel mehr. Das erste Mädchen, das Francis jemals zweimal angeschaut hatte.
»Jesus Maria«, flüsterte Francis wieder.
Angel hatte gehandelt, ohne weiter darüber nachzudenken. Er warf der schweigenden Helferin sein typisches Grinsen zu, jenes, das er gnadenlos bei den Mädchen in seiner schäbigen Umgebung einsetzte. Er wusste, dass er gut aussah - ein braun gebrannter, dunkelhaariger italienisch-irischer Junge mit einem rebellischen Ausdruck in seinen grünen Augen.
Sie erwiderte das Lächeln, zaghaft erst und dann breiter. Das Lächeln veränderte ihre Gesichtszüge, neigte die Winkel ihrer Augen und ließ sie exotisch und zigeunerhaft wirken.
Wellen von hellbraunem Haar, an einigen Stellen sandfarben gebleicht, schimmerten in dem künstlichen Licht.
»Gegen etwas Gesellschaft hätte ich nichts«, sagte Angel.
Ihre Augen weiteten sich und er sah zum ersten Mal, dass sie von einem weichen Silbergrün waren. »Wirklich nicht?«
Francis seufzte - es war ein tiefes, müdes Geräusch der Niederlage. Dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. Ein großer, unbeholfener blonder Junge, der sie ansah wie ein kleiner Hund und sie stumm anbettelte, ihn zu beachten.
Angel empfand einen Stich des Bedauerns, aber es war zu spät, rückgängig zu machen, was er getan hatte, und er wollte das auch gar nicht. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er etwas bekommen hatte, was Francis wollte, und es war ein gutes Gefühl.
Das Mädchen - er hatte später erfahren, dass ihr Name Madelaine Hillyard war - blickte zu Francis auf, als der das Zimmer verließ, schenkte ihm ein freundliches, strahlendes Lächeln und flüsterte »Auf Wiedersehen«. Sie hatte Francis nicht wieder angeschaut, damals nicht und nicht in den zauberhaften Monaten, die darauf folgten. Monate, die ihrer aller Leben veränderten.
Zuerst hatte Angel Madelaine gewollt, weil Francis sie wollte. Aus purem Egoismus, der wegen dem, was folgen sollte, umso niederträchtiger und schmerzlicher war.
Angel verliebte sich ganz einfach in sie. Zum ersten - und vielleicht einzigen - Mal in seinem Leben verliebte er sich mit Kopf und Herz und Körper und Seele. Der ruhige, bescheidene Teenager mit den riesigen, zauberhaften Augen war für einen kurzen, wundervollen Sommer seine Welt geworden. Sie sah etwas in ihm, das niemand je zuvor gesehen hatte - sie glaubte an ihn -, und als er sie in seinen Armen hielt, lernte er beinahe, an sich selbst zu glauben. Aber nicht ganz. Er hatte nicht ganz an sich selbst geglaubt...
Und obwohl er sie verlassen hatte, hatte er sie nie aus seiner Seele vertreiben können. Das war die eigentliche Tragödie bei all dem. Er hatte sie im Stich gelassen, ihrer aller Herzen gebrochen. Und wofür? Für ein Leben, das er damit verbracht hatte, ziellos von einer schäbigen Bar zu einem schäbigeren Hotelzimmer zu ziehen, immer und immer wieder die gleichen müden Geschichten Dutzenden von viel zu grell geschminkten Augen zu erzählen, die gleichen oberflächlichen Sätze an Hunderte von Lippenpaaren zu flüstern. Aber niemals die richtigen Lippen, niemals die richtigen Worte.
Und jetzt war er wieder hier, im Krankenhaus.
Nur dass diesmal vielleicht Francis als Sieger hervorgegangen war. Vielleicht war es Francis, der jetzt mit Madelaine schlief, Francis, der an ihren blassrosa Brustwarzen saugte und ihre vollen Lippen küsste.
Er zuckte zusammen.
Eifersucht durchschoss ihn, drehte ihm den Magen um, machte ihn plötzlich wütend.
Er wollte nicht, dass Francis Madelaine hatte.
»Gott«, flüsterte er, wünschte sich, es wäre ein Gebet, und wusste, dass es dafür zu spät war. Es war immer zu spät gewesen.