Kapitel 22
Das Ärztezimmer war in den letzten wenigen Minuten vor Ende der Tagesschicht ungewöhnlich ruhig. Die Tische waren leer, ihre billigen, braunen Oberflächen übersät mit Pappbechern und Plastikgabeln. Eine Reihe von Getränke- und Süßwarenautomaten wartete darauf, dass die nächste Schicht, bewaffnet mit Münzen, heranstürmte.
Madelaine saß an dem wackeligen Tisch, der dem Fenster am nächsten stand. Ihre Finger umschlangen die wärmende Hitze eines dicken Porzellanbechers, aus dem der Geruch von zu lange warm gehaltenem Kaffee aufstieg.
Um exakt 17.01 Uhr schlenderten Allenford und Sarandon durch die Türen und streiften gleichzeitig ihre Chirurgenmasken ab. Beide Männer nickten ihr zu und begaben sich zum Kaffeeautomaten, warfen nacheinander ihr Geld ein und warteten schweigend darauf, dass die Pappbecher sich mit Kaffee füllten. Dann trugen sie ihre Getränke zum Tisch.
Chris hatte einen Stoß Boulevardzeitungen unter den Arm geklemmt, die er auf den Tisch warf. Madelaine las die Schlagzeilen. Angel DeMarco im St. Joseph's Hospital... Aids ... Krebs ... Herzoperation ... Herztransplantation.
Die beiden Männer nahmen ihr gegenüber Platz. Chris griff instinktiv nach den Zigaretten in seiner Brusttasche. Er zog eine aus der Schachtel, starrte darauf und strich sie geistesabwesend glatt.
Madelaine war an sein kleines Ritual gewöhnt. Er hatte das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben - Folge des ungeheuren Drucks, den das Team und die Patienten auf ihn ausübten -, aber er griff noch immer nach einer Zigarette und hielt sie fest, wenn er einen schweren Tag gehabt hatte und nachdenken musste.
Schließlich blickte er auf und sah sie an. »Die DeMarco-Situation wird langsam problematisch.«
Madelaine nickte. »Ich hörte, dass ihn gestern ein Fotograf eines Magazins bei der Physiotherapie überrascht hat.«
Sarandon lächelte müde. »Er war nicht gerade glücklich -und er hat dafür gesorgt, dass jeder auf der Etage das mitbekam.«
Madelaine lachte leise. »Daran zweifle ich nicht.«
»Der Punkt ist«, sagte Allenford, »dass wir das nicht viel länger durchstehen können. Unser Sicherheitsdienst wird täglich durchlässiger. Offensichtlich haben wir die Presse täuschen können, als wir erklärten, er habe sich einer einfachen Herzoperation unterzogen, aber das wird nicht viel länger anhalten.«
Allenford nahm einen großen Schluck Kaffee und musterte dabei Madelaine. »Sie wissen, dass die Sicherheit nicht das einzige Problem ist.«
Madelaine wusste genau, was er sagen würde, bevor er die Worte aussprach. Sie hatte versucht, die Auswirkungen seiner Berühmtheit zu verdrängen, aber die Gedanken kamen ständig wieder, zehrten an ihrer Freude über Angels fortschreitende Genesung. »Sie meinen Francis«, sagte sie dumpf.
Allenford starrte sie mitfühlend an. »Irgendein Reporter wird den Zusammenhang herausbekommen. Der einzige Grund, warum das bisher nicht der Fall war, ist, dass es keine offizielle Bestätigung für die Transplantation gegeben hat - sie sind zu sehr damit beschäftigt, die Frau ausfindig zu machen, die ihn angeblich mit Aids infiziert hat. Das Durcheinander in seinem Sexualleben hat sie mehr interessiert als sein Herzschlag, aber das wird nicht so bleiben. Wenn sie erst einmal von der Transplantation erfahren, wird irgendein cleverer Reporter der Abfolge der Ereignisse nachgehen ... und herausfinden, dass es einen Patienten in Oregon gab, der seine Organe in derselben Nacht spendete, als Angel sein Herz bekam. Wenn sie auf den Namen des Patienten stoßen, wird das wie eine Rakete durch die Schlagzeilen gehen. Wenn er darauf nicht vorbereitet ist...« Er sagte nichts weiter, sondern ließ die Andeutung im Raum stehen.
Madelaines Blick fiel auf den Tisch. Sie musterte die winzigen schwarzen Linien in dem Wurzelholzimitat. Sie wusste, dass Chris Recht hatte - sie hatte es seit Tagen gewusst, aber dem Ganzen einfach nicht ins Auge sehen wollen. »Ich werde es ihm sagen«, erklärte sie ruhig.
Sarandon erhob sich und ließ seinen halb vollen Kaffeebecher auf dem Tisch stehen. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie's tun.« Er grinste. »Ich werde dem Team dann empfehlen, sich kugelsichere Westen anzuziehen.« Dann schob er seinen Stuhl beiseite und verließ den Raum.
Madelaine blickte ihm nach, sagte aber nichts. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, Angel die Wahrheit zu sagen, aber die Bilder in ihrem Kopf lösten bei ihr ein Gefühl von Übelkeit aus. Sie wollte das nicht tun, wollte nicht zu ihm gehen und erzählen, was sie getan hatte - was sie alle getan hatten. Sie fürchtete sich vor seiner Reaktion, und das nicht nur aus dem nahe liegenden Grund.
Die Träume quälten sie.
Ihr wurde bewusst, dass sie lange Zeit geschwiegen hatte.
Sie spürte Chris' Blick auf sich gerichtet und schaute ihn an. »Was?«
Er lächelte. »Sie waren noch nie eine gute Heuchlerin, Madelaine. Sagen Sie, was Ihnen durch den Kopf geht.«
Sie wusste, dass es klug wäre, nichts zu sagen, aber in den vergangenen Wochen hatte sie gelernt, dass man sich zuweilen sehr einsam und verwirrt fühlte, wenn man klug war. »Es ist Angel«, sagte sie bedächtig. »Er ... er verändert sich.«
»Das tun die Guten.«
»Ich denke, es ist... überraschender als das. Er wird ...« Sie konnte es nicht sagen. Die Worte blieben ihr im Halse stecken.
Allenford starrte sie eine Sekunde an. Sie merkte genau, in welchem Augenblick er begriff, was sie ausgelassen hatte. Seine Augen wurden schmal und er runzelte die Stirn.
»Er hört Francis' Musik, isst, was Francis gegessen hat. Vor der Operation war er allergisch gegen Milch, wie er sagt -jetzt liebt er sie. Er ist... fürsorglich auf eine Art, wie er es vorher wirklich noch nie gewesen ist.«
»Sie sagten, Sie hätten ihn seit Ihrer Jugendzeit nicht mehr gesehen. Menschen verändern sich, Madelaine. Außerdem sind sie Brüder.«
»Mag sein.« Sie beugte sich vor, verschränkte die Arme auf dem Tisch und richtete den Blick fest auf ihren alten Freund. »Könnte das Herz ein Gedächtnis auf zellularer Basis haben? So wie eine Zelle die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu regenerieren oder sich zu reproduzieren oder ...«
»Hören Sie auf«, sagte Allenford sanft und berührte ihre Hand. »Sie trauern, Madelaine. Lassen Sie los. Akzeptieren Sie Angel so, wie er ist, und seien Sie dankbar dafür, dass er noch da ist. Alles andere ... lösen Sie sich davon.«
»Ich hab's versucht, aber manchmal, wenn er mich ansieht ...«
»Glauben Sie nicht, dass Sie Francis in Angels Augen sehen wollen?«
Sie konnte nicht leugnen, dass er damit Recht hatte. Sie vermisste Francis so sehr, dass sie ihn überall sah - er saß auf ihrer Couch, auf der Verandaschaukel oder fuhr mit seinem alten, verbeulten Auto vor. Manchmal drehte sie sich sogar um, um mit ihm zu sprechen, und augenblicklich wurde ihr bewusst, dass er nicht da war, dass sie sich nur vorgestellt hatte, seine Schritte auf dem Zufahrtsweg zu hören. »Ja«, flüsterte sie.
»Was, wenn Sie nichts von der Transplantation wüssten -würden Sie nicht glauben, dass all diese Veränderungen Zeichen einer ganz normalen Genesung sind? Denken Sie darüber nach. Wenn ein Patient unsere Behandlung durchläuft, neigt er dazu, sein Leben zu ändern. Sie sind fast immer fürsorglicher und bescheidener. Sie haben gelernt, dass jeder Tag, jeder Augenblick eines jeden Tages, ein Wunder ist. Das muss das Verhalten eines Menschen einfach verändern.«
Die Sachlichkeit in Chris' Worten tröstete sie. Es war möglich, dass sie Francis in Angel sah, weil sie so verzweifelt glauben wollte, dass ein Teil ihres besten Freundes noch lebte. »Wahrscheinlich haben Sie Recht.«
Er sah sie sehr lange an. »Ich glaube nicht an diesen Kram, aber wir alle haben bereits Beweise für das gesehen, wovon Sie sprechen. Empfänger, die Dinge über ihre Spender zu wissen scheinen, die sie unmöglich wissen können. Ich bin nicht egoistisch genug, um zu glauben, dass etwas auf dieser Welt unmöglich ist.« Er berührte ihre Hand. »Ich bin Francis einmal begegnet - wenn auch nur kurz - und eines weiß ich.«
»Und das ist?«
»Wenn es ein Gedächtnis auf zellularer Ebene gibt, könnte Ihr Angel kein freundlicheres Herz bekommen haben.«
Müde seufzend ging Angel in das Wohnzimmer, das Madelaine und Lina für ihn eingerichtet hatten. Er schaltete den Fernseher ein - und hörte einen Reporter sagen: »Personen aus der unmittelbaren Umgebung des Superstars bestätigen, dass er bei einer erfolgreichen Transplantation ein Pavianherz erhalten hat. Die Herzspezialisten des St.-Joseph's-Krankenhauses hingegen erklärten nur ...«
Er stöhnte, stellte den Fernseher ab und knipste das Licht an.
Es war behaglich und bequem, dieses Wohnzimmer, das das seine war und es doch nicht war. Große, schwer gepolsterte Sofas und Sessel, bezogen mit Stoffen in Navajomustern, standen um den riesigen, aus Flusssteinen errichteten Kamin, der den Raum beherrschte. Sie hatten sogar einige gerahmte Bilder auf den Kaminsims gestellt - Linas Schulfoto, eine Aufnahme von Francis und Lina beim Skilaufen und ein altes, verknicktes Foto von Angel und Francis vor dem Impala ihrer Mutter.
Bilder von allen, nur nicht von Madelaine.
Sie hatte ihm ein familiäres Ambiente geschaffen - komfortable Möbel, Fotos, Milch (natürlich fettarme) im Kühlschrank -, aber es war einfach zu perfekt, um real zu sein. Es gab keine Fingerabdrücke auf dem Glas der Bilder, keinen Staub, der sich unter den Möbeln ansammelte.
Das Einzige, was in diesem tadellosen, kleinen Holzhaus fehl am Platze war, war er. Diese Erkenntnis deprimierte ihn. Wieder einmal ging er einfach durch das Leben, betrachtete es, als würde er durch ein Fenster schauen. Für den größten Teil seines Lebens war das völlig okay gewesen. Teufel auch, es war besser als okay gewesen, war das, was er gewollt hatte. Er hatte nie real sein wollen, nicht wie die meisten Menschen. Er hatte Peter Pan sein wollen, mit den Traumkindern spielen wollen, spielen und trinken und die Regeln der Erwachsenen ignorieren. Darum war er berühmt geworden. Er lebte auf einer Insel der Glückseligen.
Und wenn er sich nicht änderte, sich nicht wirklich änderte, dann würde er bald wieder abrutschen. Das wusste er. Er würde wieder das Leben führen, das er geliebt hatte. Er würde die falschen Freunde anrufen oder finden, dass ein anständiger Tequila - nur einer - nicht schaden könnte. Aber aus dem einen würden zwei werden, dann drei, und aus seinem Leben eine Achterbahn.
Er gehörte dort nicht hin, gehörte nicht in sein altes Leben. Aber er passte auch nicht in diese neue Welt. Er war wie ein Geist, bewegte sich schattengleich durch eine Ebene, in der er niemals etwas wirklich berühren konnte, nie wirklich berührt werden konnte. Er konnte nicht zurück und wusste einfach nicht, wie zum Teufel er vorwärts gehen sollte.
Es klopfte an der Tür und er spürte eine Welle von Erleichterung. Er durchquerte das winzige Wohnzimmer und riss die Tür auf.
Val stand dort, rauchte eine Zigarette und hielt eine Flasche Tequila in der Hand. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du am Stadtrand wohnst.« Er erschauerte. »Was wirst du als Nächstes tun? Den Rasen mähen oder grillen?«
Angel starrte auf die Flasche, auf die schwappenden goldenen Perlen an den Innenseiten des Glases. Der süße, vertraute Geruch des Rauchs wehte zu ihm, löste ein starkes Verlangen tief in ihm aus.
Sein altes Leben. Hier war es, stand vor ihm, trug Designerjeans und langes Haar und ein Lächeln, in dem nichts außer blankem Zynismus war. Und plötzlich wollte er es wieder, wollte wieder dieser alte störrische Rebell sein, der, der er einmal gewesen war. Er wollte dieses Leben, das nach Zigarettenrauch und billigem Parfüm roch.
Er trat grinsend beiseite. »Valentine. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«
»Hab versucht, Schnaps in einer Stadt zu finden, die bei Anbruch der Dämmerung die Bürgersteige hochklappt - und Alkohol nur in Spirituosenhandlungen verkauft.« Er erschauerte dramatisch. »Gott, was für ein archaischer Brauch.«
Angel führte ihn in das dunkle Holzhaus, schaltete auf dem Wege ein paar Lichter ein. Val folgte ihm, seine Stiefelabsätze klapperten auf dem Holzboden.
Val setzte die Flasche mit einem Bumm's auf dem Tisch ab. »Cuervo Gold. Deine Lieblingsmarke.«
Angel sah die Flasche verlangend an. Konnte ein Drink wirklich schaden?
Der Rauch lockte ihn, wirbelte unsichtbar unter seiner Nase, hinterließ seinen Stempel in der Luft.
Val ließ sich auf das dick gepolsterte Sofa sinken, legte einen Arm auf die Rückenlehne. Er strich eine lange Haarsträhne hinter sein Ohr. »Schöne Einrichtung - was hast du gemacht? Bist du in den Familienclub von Ikea eingetreten?«
Angel dachte an sein Hochhaus in Las Vegas - an die strahlend weißen Wände und die schwarzen Ledermöbel, an die Tische aus Glas und Chrom, an die Bar, die in Dutzenden goldender Farbtöne glitzerte, wenn die Lichter eingeschaltet waren. »Madelaine hat das Zeug ausgewählt.«
Eine Augenbraue hob sich ruckartig. »Ah ...«
Angel sah den Zynismus in den Augen seines Freundes, die Unfähigkeit, ein Heim wie dieses zu verstehen oder zu schätzen, oder eine Frau wie Madelaine, und wieder fühlte er sich preisgegeben und verloren. Ein Mann, der nirgendwo hingehörte. Er dachte plötzlich an Lina, daran, wie sie ihn angesehen hatte - als ob er den Mond aufgehängt hätte -, und an die Dinge, die sie ihn gefragt hatte, ohne auch nur ihren Mund aufzumachen.
Sei mein Daddy... ich liebe dich ... sei da ... sei da ... sei da...
Er würde sie nur enttäuschen, wenn er versuchte, ein richtiger Vater zu sein. Was, zum Teufel, wusste er überhaupt darüber, wie es war, ein Vater zu sein? Und doch würde er ihr das Herz brechen, wenn er versagte.
»Nimm einen Drink«, sagte Val leise und hielt ihm die Flasche hin.
Angel machte einen Schritt auf den Tisch zu, die Augen auf den Tequila gerichtet. Vals leise, gemessene Stimme hallte in seinem Hirn und er wusste, dass sie so war, wie die Stimme des Teufels sein würde, leise und tröstend und vernünftig klingend. Und sie würde sagen, was man hören wollte ...
Er ging so weit, dass er die Hand ausstreckte und die Finger um das warme Glas schlang. Er hob die Dreiviertelliterflasche hoch, drehte den Verschluss auf und roch den kräftigen, süßen Duft des Alkohols. Er wollte alles mit einem großen Schluck trinken, den Tequila seine Kehle hinunterrinnen lassen und ihn einem Feuer gleich in den Eingeweiden spüren, wollte diese Flüssigkeit alles fortspülen lassen - und wenn auch nur für einen einzigen Abend.
Aber er wusste, dass er, wenn er auch nur einen Drink nahm - nur einen einzigen -, in diese Flasche kriechen und wieder da sein würde, wo er angefangen hatte.
Er schloss die Augen. Zitternd, weil er den Drink so nötig brauchte, dass er sich mulmig fühlte, setzte er die Flasche wieder auf dem Tisch ab. »Ich kann's nicht, Val.«
Val runzelte die Stirn. Irgendetwas blitzte in den Augen seines Freundes auf - war es Eifersucht oder Furcht? Angel war sich nicht sicher. »Das machst du doch immer. Die anderen Herzanfälle...«
»Es ist nicht mehr so wie früher. Es darf nicht sein. Ich ... ich habe ein Kind.« Er lächelte. Es war das erste Mal, dass er die Worte laut gesagt hatte, und er hatte ein überraschend gutes Gefühl dabei. »Madelaine ... du erinnerst dich an das Mädchen, von dem ich früher erzählt habe?« Als Val darauf rasch nickte, fuhr er fort. »Scheint, als hätte sie - hätten wir - vor all diesen Jahren ein Baby gehabt. Ihr Name ist Lina und sie ist inzwischen sechzehn Jahre alt. Ich hab ihr gesagt, dass ich mit der Feierei aufhören würde, wenn sie es auch tut.«
»Klingt, als sei sie deine Tochter. Okay.«
Angel lachte unbehaglich auf. »Ist sie.«
Val stieß einen Seufzer aus. Stille breitete sich zwischen ihnen aus und es dauerte eine Zeit, bis er endlich sprach. »Ich bin stolz auf dich, Angel. Ich hab dir immer gesagt, dass du stärker bist, als du glaubst. Gott weiß, dass du stärker bist als ich.«
»Ich bin nicht stark.« Er sagte die Worte leise, überlegte, ob Val sie überhaupt gehört hatte.
»Eigentlich wollte ich nach New York fliegen - jemand suchen, jemand, der die Grüne Hornisse spielt. Ich dachte, du könntest daran interessiert sein, aber ... ich glaube nicht.«
Angel starrte seinen Freund an und wusste, dass dies Vals Art war, für lange Zeit Lebewohl zu sagen, sich aus einer Freundschaft zurückzuziehen, die nie wieder sein könnte, was sie einmal war. Es schmerzte zu wissen, was geschah, aber Angel verstand.
»Ist schon okay, Val.« Er sagte die Worte leichthin, diese erwarteten Worte, obwohl er wusste, dass Val die Wahrheit in seinen Augen sah, die Enttäuschung und das Bedauern. »Wir bleiben in Verbindung.«
Val erhob sich langsam. »Du wirst es schon schaffen, Angel.«
Angel nickte, obwohl er sich nicht so sicher war. »Ja. Sicher werde ich das.«
Angel erwachte dadurch, dass er den Namen seines Bruders schrie. Er lag in der Dunkelheit, versuchte, seinen stoßartigen Atem unter Kontrolle zu bringen. Das Herz schlug weiter in seiner Brust, völlig unbeeinflusst von dem Adrenalin, das durch seinen Körper gepumpt wurde. Er hatte das Gefühl, als sei Francis ihm so nahe, dass er ihn berühren könnte.
Er warf die Decke beiseite und wankte in die Küche. Er riss den Kühlschrank auf, stand in dem hellgelben Lichtkegel und schaute blicklos auf die Anhäufung von Gefäßen, die Madelaine und Lina für ihn hineingestellt hatten. Ohne nachzudenken, griff er nach dem Behälter mit der entrahmten Milch. Als seine Finger sich um den kalten Kunststoff schlössen, zuckte er zusammen. Er wollte Milch trinken, um Gottes willen. Was kam als Nächstes - dass er Musicalmelodien summte?
Er warf den Kopf zurück und starrte auf das Holzgebälk der Decke. »Verschwinde aus meinem Kopf, Franco.« Die Worte lösten ein heftiges Schuldgefühl in ihm aus. Er schlug die Kühlschranktür zu und schloss fest die Augen. »Ich muss mein Leben weiterleben. Mein Leben ...«
Aber was war sein Leben - und wie sollte er es finden?
Er ging in das Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel mit dem Navajomuster fallen. »Was soll ich tun, Franco? Wie ändere ich mich?«
Er wartete und wartete, bekam aber keine Antwort. Nach ein paar Minuten begann er, sich wie ein Idiot zu fühlen. Ich bin einfach überfordert, Bruder. Jetzt bitte ich schon jüngst Verstorbene um Hilfe.
Sein Lächeln verflog. Das war nicht komisch.
Unruhig und nervös erhob er sich aus dem Sessel, ging zur Hintertür und riss sie auf. Draußen begann sich gerade die Morgendämmerung über das Wasser zu heben, warf rosa Speere über den sich kräuselnden, silbernen See. Wind fuhr flüsternd durch die Bäume und für einen unheimlichen Augenblick klang es wie Francis' Lachen. »Wie ändere ich mich, Franco? Wie?«
Du hast es bereits.
Die Worte kamen von sehr fern zu Angel, drängten sich durch den Wind. Zuerst verstand er nicht, erinnerte sich nicht an seine Frage. Dann begriff er.
Er lächelte. »Sicher, Franco, das ist leicht gesagt.«
Er lachte unbehaglich, ging ins Haus zurück und schloss die Tür. Jetzt sprach er schon mit Geistern. Ob darauf bald das Channeling folgen würde?
Angel wusste, dass er sich veränderte, aber er hatte nicht das Gefühl, als bedeutete das sonderlich viel. Kleine Veränderungen - Musikgeschmack, andere Essgewohnheiten, ein neues Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein. Es war nicht gerade umwerfend. Er hatte nichts anderes getan, aber er war ein Mann, der sich immer nach seinem Handeln beurteilte, nicht nach seinen Worten oder seinen Gefühlen. Sich einen Drink oder eine Zigarette zu verweigern, war nicht genug. Er musste etwas tun.
Er war seit fast einer Woche in diesem Blockhaus und hatte es nicht einmal verlassen. Madelaine brachte ihm Lebensmittel und deponierte sie auf der Veranda, als ob er auf Schlankheitskur sei. In der Auffahrt stand ein nagelneuer Mercedes -es war das erste Mal, dass er einen Wagen besaß, der mehr als zwei Sicherheitsgurte und ein Metalldach hatte - und daneben eine nagelneue Harley-Davidson Sportster. Er musste mit beiden erst einmal fahren.
Er versteckte sich hier draußen, schützte sich vor dem, was geschehen würde, wenn die Öffentlichkeit von seiner Transplantation erfuhr. Im Augenblick herrschte Verwirrung über die Diagnose, aber das würde nicht ewig währen.
Die Öffentlichkeit würde es erfahren, das wusste er. Jeden Tag boten die Gazetten mehr Geld für die wahre Geschichte. Bald würde jemand reden.
Du solltest derjenige sein, Angel.
Er konnte die Stimme seines Bruders fast hören. Es war genau das, was Francis gesagt haben würde.
Francis würde Angel raten, aus seinem Versteck herauszukommen und die Wahrheit über das zu erzählen, was er durchgemacht hatte. Würde ihn daran erinnern, dass er ein Vorbild für andere sein könnte, irgendeinen armen Burschen, der in einem einsamen Krankenhausbett lag und auf ein Herz wartete.
Er lachte fast laut auf bei dem Gedanken, dass er - ausgerechnet er! - für jemand ein Vorbild sein könnte. Er stand eindeutig unter dem Einfluss von zu vielen Medikamenten.
Und doch kannte er die Wahrheit, wusste, was er zu tun hatte.
Bevor er Zeit hatte, darüber nachzudenken, handelte er. Er griff nach dem Telefon und rief die Auskunft an. Er ließ sich die Nummer des St.-Joe's-Krankenhauses geben und wählte. Eine versierte, höfliche Stimme meldete sich und verband ihn mit Allenfords Anrufbeantworter. Angel hinterließ eine einfache und klare Nachricht - setzen Sie bitte am Donnerstagmorgen für zehn Uhr eine Pressekonferenz an.
Nachdem er das getan hatte, fühlte er sich besser, aber er wusste, dass dies nicht alles war, was er zu tun hatte. Da gab es noch mehr...
Er hatte keine Ahnung, was das war.
Etwas, das mit dem Herz zu tun hatte.
Zum ersten Mal dachte er über die Familie seines Spenders nach, daran, was sie durchgemacht haben musste. Statt sich Gedanken um seinen Spender zu machen oder darüber, wie er gestorben war, dachte Angel über die Familie des Mannes nach (er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Spender eine Frau war), über die Menschen, die entschieden hatten, Angel eine zweite Chance zum Leben zu geben.
Alles, was ihn vorher interessiert hatte, war der Name des Spenders gewesen. Er hatte immer wieder versucht, Madelaine dazu zu bringen, ihre verdammte Verschwiegenheit aufzugeben. Er hatte über den mysteriösen Mann phantasiert, überlegt, von wo er gekommen sei und wie er gestorben war und woran er geglaubt hatte. Aber war das wirklich wichtig? Zählte es wirklich, wessen Herz er hatte, oder zählte nur, dass er das Beste aus dem Geschenk machte, das ihm gegeben worden war? Das Wunder.
Er schuldete ihnen etwas.
Ein Dankeschön.
Es überkam ihn plötzlich von allein, ohne Glocken oder Posaunen oder göttliche Erscheinungen. Nur die einfache Erkenntnis, dass er jemandem sein Leben verdankte. Er beugte sich vor und nahm einen Stift und einen gelben Schreibblock von dem schweren eisernen Kaffeetisch. Er starrte auf die dünnen blauen Linien und kritzelte ein kleines Herz in die Ecke.
Bevor ihm auch nur bewusst wurde, was er zu tun beabsichtigte, begann er zu schreiben.
Liebe Spenderfamilie:
Dies ist vielleicht das Schwerste, was ich je getan habe, nämlich diesen Brief an Fremde zu schreiben, die für mich wie eine Familie sind. Es gibt keine Worte, um meine Dankbarkeit auszudrücken, oder wenn es sie gibt, muss es klügeren Köpfen als mir überlassen bleiben, sie zu finden.
Ich lag im Koma und schwebte in Lebensgefahr, als Ihr geliebtes Familienmitglied auf tragische Weise umkam. Bis vor kurzem konnte ich mir nicht vorstellen, wie dieser Augenblick für Sie gewesen sein muss. Dann verlor ich meinen Bruder bei einem Autounfall. Der Schmerz war mit nichts vergleichbar, was ich vorher erlebt habe - es ist eine Wunde, die immer wieder von selbst aufreißt.
Wie ist es möglich, dass Ihre Familie in einer solchen Zeit den Blick nach außen richten konnte? Selbst in Ihrem unvergleichlichen Kummer haben Sie an mich und andere wie mich im ganzen Land gedacht. Sie taten dies, ohne meinen Namen oder mein Leben zu kennen oder überhaupt irgendetwas über mich zu wissen. Der Mut und das Mitgefühl Ihrer Handlungsweise lässt mich, zum ersten Mal seit Jahren wieder, an die Welt und an meine Mitmenschen glauben. Und, was noch überraschender ist, ich beginne, an mich selbst zu glauben.
Sie haben mir das kostbarste aller Geschenke gegeben - das Wunder des Lebens -, und obwohl ich Ihnen wahrscheinlich nie begegnen werde, möchte ich, dass Sie wissen, dass ich ein Stück von Ihnen und Ihrer ganzen Familie in meinem Herzen trage. Ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, um die zweite Chance, die Sie mir gegeben haben, zu verdienen.
Möge Gott Sie und Ihre Familie segnen.
Als Angel den letzten Satz schrieb, spürte er, wie er sich veränderte. Es war, als ob reines, glühendes Sonnenlicht seinen Körper durchflutete, Stellen in ihm erhellte, die seit Jahren kalt und dunkel gewesen waren. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er - unwiderruflich und absolut -, dass er das Richtige getan hatte.
Madelaine griff in ihren Kleiderschrank, um etwas zum Umziehen herauszuholen. Ihre Fingerspitzen streiften weichen, abgetragenen Flanell. Sehr langsam schob sie die Kleidungsstücke aus Seide und Baumwolle beiseite und entdeckte ein blaugraues Flanellhemd, das Francis gehört hatte.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem er das Hemd hier gelassen hatte - einen Frühlingstag, der kalt und regnerisch begonnen hatte, am Mittag aber fast sommerlich heiß gewesen war. Er hatte das alte Flanellhemd ausgezogen und eines dieser übergroßen T-Shirts übergestreift, die sie immer von den Arzneimittelvertretern bekam.
Für einen Augenblick war der Schmerz fast unerträglich. Von brennenden Tränen geblendet, griff sie nach dem Hemd und nahm es vom Bügel. Sie führte es an die Nase und atmete tief ein.
Sie konnte ihn riechen. Ein Hauch von Rasierwasser erfüllte ihre Sinne und rief ihr ein Dutzend kostbarer Erinnerungen ins Gedächtnis. Francis, wie er die kleine, rotgrün karierte Schachtel auspackte und lachte, wie er immer lachte, wenn er das Rasierwasser sah. Oh, Gott sei Dank, ich hatte fast keins mehr.
Ihr wurde jäh bewusst, dass er dieses Jahr zu Weihnachten nicht hier sein würde, auch nicht zum Erntedankfest. Sie und Lina würden diese Tage allein verleben müssen. Wie würden sie das tun? All ihre Traditionen waren mit ihnen dreien verbunden. Wer würde den Truthahn tranchieren, wer die Kerzen an den Weihnachtsbaum stecken, wer würde die Plätzchen essen, die sie auf dem guten Porzellan von Spode für den Weihnachtsmann hinlegten?
Sie presste das Hemd an ihr Gesicht und atmete tief ein, als ob sie ihn damit irgendwie durch ihre reine Willenskraft wieder zum Leben erwecken könnte.
Gott, wie sehr sie sich danach sehnte, sich umzudrehen und ihn hinter sich zu finden, ihren Priester mit den blauen Augen und dem ansteckenden Lachen. Sie wollte in seine ausgestreckten Arme fliegen und ihn sagen hören, dass er sein Maddy-Mädchen liebe. Sie schloss fest die Augen. Nur noch einmal, Gott... nur noch ein einziges Mal.
Verlassenheit umfing sie. Sie hörte das leise Ticken der Schlafzimmeruhr, das sanfte Pochen des Windes an der Fensterscheibe.
Sie stand in ihrem eigenen Schlafzimmer, in ihrem eigenen Haus, aber sie hatte sich noch nie so allein gefühlt.
Plötzlich konnte sie es keine Sekunde mehr länger ertragen. Sie steckte die Arme in Francis’ Hemd und knöpfte es zu, stürmte dann durch das Haus. Sie riss die Tür auf und spürte, wie ihr die kalte Luft ins Gesicht schlug.
Als sie die Augen öffnete, sah sie Angel. Er lehnte am Kühler seines grauen Mercedes - dem Wagen, den sie für ihn mit einer American-Express-Platin-Kreditkarte gekauft hatte. Er stand dort und sah mit seinen eng anliegenden blauen Levi’s-Jeans und dem verblichenen Aerosmith-T-Shirt aus, als sei ihm alles auf der Welt völlig egal.
Er löste sich von dem Wagen und schritt langsam auf das Haus zu. Wind peitschte eine lange Strähne braunen Haares über sein Gesicht.
Kaum einen Meter von ihr entfernt blieb Angel stehen. Diesmal lächelte er nicht. »Ich möchte Francis’ Grab sehen.«
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte nicht erwartet, dass er das sagen würde. »Es ist in Forest Lawn ... in Magnolia Heights.«
»Ich dachte, dass du mich vielleicht begleiten würdest.« Er zeigte kurz dieses strahlende Lächeln, das in Hunderten von Filmzeitschriften abgebildet worden war, aber sie bemerkte zum ersten Mal, dass es irgendwie ein wenig traurig war und seine Augen nicht erreichte.
»Was ist los, Angel?«
Sein falsches Lächeln schwand und er sah sie mit einer solchen Eindringlichkeit an, dass sie den Atem anhielt. »Er verfolgt mich, Mad. Das liegt daran, weil ich so viele Dinge nicht gesagt habe. Ich dachte... wenn ich sie vielleicht jetzt sage, dass er mich dann mein Leben leben lässt.« Er kam einen Schritt näher auf sie zu. »Ich fange an, einige Dinge zu planen, Mad. Zum ersten Mal seit Jahren kann ich ein künftiges Leben sehen, aber...«
Sie wurde von den Worten, die er nicht sagte, angezogen. Es war, als fiele sie in die Vergangenheit zurück, aber das war ihr gleich. Sie wusste nur, dass sie einsam war, sehr lange Zeit einsam gewesen war, und dass er die Hand nach ihr ausstreckte. Sie ergriff sie, spürte, wie die starken Finger sich um ihre schlössen, und ihr Herzschlag wurde schneller. »Ich bringe dich hin«, sagte sie leise. Sie wusste, dass sie, wenn sie mit ihm zu Francis' Grab ging, ihm die Wahrheit über sein Herz erzählen und dass er ihr seine Hand vielleicht nie wieder reichen würde. Sie drückte sie fest, klammerte sich an ihn.
Er führte sie über den Weg zwischen ihren welken Blumenbeeten zu dem Bürgersteig, der ihr Haus flankierte. Der Himmel verfärbte sich mit einem ersten Hinweis auf die kommende Dämmerung zu einem tiefen, intensiven Lavendelblau. Wortlos nahm sie auf dem weichen, wohlriechenden Ledersitz Platz und dirigierte ihn zur Autobahn.
Als sie den Friedhof erreichten, war es fast vier Uhr. Sanfte rosarote Strahlen durchzogen den Himmel in der Dämmerung.
Sie gingen über den Granitweg zu der grasbewachsenen Anhöhe, die sie für Francis ausgewählt hatte. Die Kirche hatte einen exquisiten Grabstein aus weißem Marmor aufstellen lassen. Daneben stand die gusseiserne Bank, die Madelaine ausgesucht hatte.
Sie führte Angel zu der Bank und setzte sich neben ihn. Sie starrten lange Zeit auf den Grabstein und hingen beide ihren Erinnerungen nach. Schließlich zog sie das Flanellhemd ein wenig fester um sich und stand auf. »Ich werde dich ein bisschen allein lassen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
Er griff nach ihrer Hand. »Geh nicht.«
Sie blickte auf ihn hinab, sah den Schmerz in seinen Augen, die Furcht und die Enttäuschung und die Einsamkeit, und das warf sie zurück in eine andere Zeit, die lange zurücklag, als er sie ebenso angesehen und genau dieselben Worte gesagt hatte. Langsam, noch immer seine Hand haltend, setzte sie sich.
Leise sagte er: »Ich würde alles ändern, wenn ich es könnte.«
Sie wusste nicht, ob er zu ihr oder zu Francis sprach, aber das war auch unwichtig. Das Geständnis umfing sie, verband sie miteinander. »Ich weiß, was du meinst.«
Er lachte, aber es war ein hohles Geräusch. »Wie könntest du das? Du bist niemals in deinem Leben vor etwas davongelaufen.«
Sie seufzte. »Das zeigt nur, wie wenig du mich kennst, Angel. Ich habe bei unserer Tochter eine Menge Fehler gemacht und ich glaube, ich habe Francis als selbstverständlich hingenommen. Ich dachte, er würde immer für mich da sein.« Sie neigte das Kinn und starrte auf die endlose Grasfläche, beobachtete, wie die winzigen Messerklingen der Nacht sich über die Grabsteine schoben. »Ich hatte solche Angst um Francis und Lina. Sie taten sich beide so leicht damit, Liebe zu geben. Anders als ich. Ich schien das nie richtig machen zu können, vor allem bei Lina. Ich befürchtete immer, ich würde das Falsche tun oder das Falsche sagen und sie würde mich verlassen ... einfach eines Tages verschwinden und niemals wiederkommen.«
Er schwieg eine Minute lang, berührte dann ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Wie ich es tat.«
Sie konnte nicht so tun, als habe sein Verrat ihr nichts bedeutet. »Ich habe darauf gewartet, dass du zurückkommst.«
»Es lag nicht an dir, Mad.«
Sie versuchte zu lachen. »Ich habe sonst niemand vor meinem Schlafzimmerfenster stehen sehen.«
Sein Lächeln war traurig. »Das war ich. Ich hatte Angst vor dir und vor mir und dem Baby. Hatte Angst vor dem, was ich für dich fühlte. Wie hätte ich wissen sollen ...?« Sein Blick war unverwandt auf sie gerichtet. Sie wartete, atemlos und ein wenig ängstlich vor dem, was er als Nächstes sagen würde. Er schaute weg, starrte in den Abendhimmel, und als er schließlich sprach, war seine Stimme belegt. »Wie hätte ich wissen sollen, dass ich nie wieder so fühlen würde?«
Die Worte waren magisch. Sie spürte, wie sie sie umfingen, ihr Herz drückten. Antworten kamen zu ihr, umkreisten sie nacheinander, verwoben sich zu einem Ganzen, das sie erschreckte. Er sprach über die Vergangenheit, das wusste sie, und doch fühlte es sich an, als meine er die Zukunft.
Am Ende sagte sie nichts und Stille senkte sich zwischen sie.
»Sag etwas, Mad.«
Sie wandte sich zu ihm, wusste, dass ihre Augen von den Gefühlen erfüllt waren, die zu offenbaren sie sich fürchtete. »Was kann ich sagen, Angel? Du willst wissen, ob ich je wieder so gefühlt habe? Die Antwort ist nein.«
»Glaubst du, du könntest es?«
Sie wusste, dass die Antwort, war sie einmal gegeben, nie zurückgenommen werden konnte. Sie würde sich ihm wieder mit ihrer Verwundbarkeit aussetzen, würde ihm wieder die Macht geben, ihr Herz zu brechen. Sie dachte daran, nichts zu sagen oder zu lügen, wusste aber, dass es sinnlos war. Irgendwie hatte sie ihm diese Macht schon gegeben. »Ja«, flüsterte sie.
Ein kurzes Lächeln spielte um einen seiner Mundwinkel. Dann wandte er sich rasch ab und starrte wieder auf den Grabstein. »Ich muss einen langen Weg gehen, Mad. Ich bin nicht der Mann, der ich vorher war ... aber ich bin noch kein anderer. Ich kann keine Versprechungen machen.«
Überraschenderweise gaben die Worte, die sie hätten verletzen sollen, ihr Hoffnung. Der alte Angel wäre nie so ehrlich gewesen. »Wir sind keine Kinder mehr, Angel.«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine damit, dass nicht alles über Nacht geschehen muss. Es bedeutet, dass man Vertrauen nicht so ganz nebenher schenkt oder ebenso einfach nimmt. Es ist schon viel Wasser den Rhein hinuntergelaufen.«
»Ja.« Angel schwieg wieder. Schließlich zog er ein Blatt Papier aus der Brusttasche. »Ich möchte, dass du dies liest«, sagte er, während er es ihr reichte.
Sie runzelte, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel, die Stirn. »Was ist das?«
»Lies es einfach«, sagte er.
Sie nahm das Papier und entfaltete es, glättete es auf ihren Oberschenkeln. Die ersten beiden Worte trafen sie hart. Liebe Spenderfamilie.
Sie blickte zu ihm auf.
»Es ist ein Brief an meine Spenderfamilie. Ich habe sechs Stunden daran gesessen, aber er ist noch immer nicht richtig formuliert. Ich dachte, du könntest mir vielleicht dabei helfen ...«
Madelaine sah die Unsicherheit in seinen Augen, das dringende Bedürfnis, und es berührte sie stark. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, und las den Brief. Als sie fertig war, weinte sie. Sie faltete ihn ganz sorgfältig zusammen und sah Angel an. Sie wollte sagen, dass der Brief perfekt sei, aber sie konnte nicht sprechen.
Sie wusste, dass die Zeit gekommen war.
»Man sagt, dass die Wahrheit einen befreit«, sagte sie leise.
»Der Brief... ist meine Art, zu versuchen, etwas zu ändern, mein Leben in Ordnung zu bringen. Ich möchte für Lina ein guter Vater sein, weiß aber nicht, wie. Manchmal sehe ich sie an und frage mich, wo all diese Jahre geblieben sind und wie mein Leben gewesen wäre, wenn ich sie zum Kindergarten gebracht und sie beim Krippenspiel in der Schule gesehen hätte. Ich weiß, dass ich einen langen Weg vor mir habe, aber ich muss irgendwo anfangen - und das Herz ist wie ein Anfang.«
Madelaine legte den Brief vorsichtig auf die Bank und drehte sich zu ihm, um ihm voll ins Gesicht zu sehen. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie nie aufgehört hatte, ihn zu lieben, und diese Erkenntnis machte ihr das Atmen schwer. »Als ich von der Wahrheit sprach, die einen frei macht, meinte ich nicht dich. Ich habe von mir gesprochen.«
Er schenkte ihr ein blendendes Grinsen. »Ein weiteres dunkles Geheimnis, das du mir vorenthältst?« Er sah ihre Ernsthaftigkeit und sein Lächeln verflog. »Lina ist doch meine Tochter?«
»Natürlich ist sie das.« Madelaine beugte sich näher zu ihm. Fast gegen ihren Willen berührte sie seine Brust, spürte das Herz schlagen, in perfektem Rhythmus pochen. Sie suchte nach Worten, nur nach den richtigen Worten.
»Du machst mir Angst, Mad.«
»Ich fürchte, du wirst mir nicht verzeihen«, flüsterte sie. Sie wollte ihn mit Erklärungen und Entschuldigungen überschütten, damit er das Wunder verstand, das sie ihm gegeben hatte, aber er schaute sie so aufmerksam an, dass sie nicht klar denken konnte. »Es machte ein Wunder aus einer Tragödie, denke daran. Es gab keine Zeit für Entscheidungen, keine Zeit, um mit jemand zu sprechen. Du warst im Koma. Du lagst im Sterben und ich musste dich retten.«
»Madelaine.« Er berührte ihr Kinn, hob ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen. »Das weiß ich. Warum ...«
»Es war Francis' Herz«, sagte sie, spürte Tränen aufsteigen und dann in brennenden Bächen über ihr Gesicht rinnen. »Wir haben dir Francis' Herz gegeben.«
Er erstarrte, zog seine Hand zurück. Er wurde so still, dass es erschreckend war.
»Sag etwas«, bat sie.
Er starrte sie an. Sein Gesicht war blass. »Du hast zugelassen, dass sie Franco das Herz herausschneiden?«
Sie zuckte zusammen. »Er war hirntot, Angel. Er konnte nicht mehr leben. Du musst verstehen ...«
»Himmel noch mal. Du hast zugelassen, dass sie ihm das Herz herausschneiden?«
»Angel...«
»Du hast mich belogen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Lüge ... Ich habe dich nur in dem Glauben gelassen ...« Sie wandte beschämt den Blick von ihm ab. »Ich habe gelogen«, gab sie leise zu. »Ich habe gelogen.«
Er sprang auf und lief von ihr fort, rannte wankend über den dunklen Friedhof.
Sie lief ihm hinterher. »Angel, bitte ...«
Er wirbelte zu ihr herum, ohrfeigte sie mit der Kälte seines Blickes. »Bitte, was? Bitte, versteh, dass es richtig war, Francis' Herz in meinen Körper zu setzen?«
Sie weinte so heftig, dass sie ihn kaum sehen konnte. »Es ist das, was er gewollt hätte ...«
»Und du glaubst, das hilft}«
Er rannte von ihr fort, verschwand in den Schatten.
Sie stand eine Ewigkeit dort, atmete schwer. Dann drehte sie sich hölzern um und kehrte zu der Bank zurück, ließ sich auf das Metall fallen. Sie beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie weinte um sie alle.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, doch als sie aufblickte, war es dunkel. Ein paar Lichter waren um den Friedhof aufgetaucht, schufen Flecken von schimmerndem Licht.
Schritte bewegten sich langsam auf sie zu.
Sie richtete sich auf, versuchte, seine Gestalt in den Schatten auszumachen. »Angel?«
Er trat, nur etwa drei Meter von ihr entfernt, in einen Lichtstrahl. Er stand groß und aufrecht da, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. »Darum träume ich ständig von ihm«, sagte er mit dumpfer, leiser Stimme.
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Die Ärztin in ihr wollte es leugnen, wollte ihm sagen, dass das Herz nichts weiter als ein Organ war, so wie die Nieren oder die Leber. Aber die Frau in ihr, die Frau, die Francis und seinen Bruder geliebt hatte, war sich dessen nicht so sicher. »Vielleicht«, sagte sie. Dann wurde ihr bewusst, dass es nur eine halbe Antwort war, diese Art von Sicherheit, die ihr Leben zerstört hatte, und sie sagte: »Ja. Ich glaube, dass du deshalb von ihm träumst.«
Er bewegte sich auf sie zu. Seine Stiefel knirschten auf dem kalten Gras. Als er näher kam, konnte sie die Tränenspuren auf seinen Wangen sehen, und es schmerzte, zu wissen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hatte das nie tun wollen, nicht einmal vor so vielen Jahren. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr Leid täte, aber die Worte waren so unbedeutend und sinnlos. So blieb sie einfach sitzen, starrte ihn an und wartete.
Er trat zu der Bank und setzte sich neben sie. »Ich möchte dich dafür hassen«, sagte er schließlich.
»Ich weiß.«
»Aber du bist die Person, an die ich diesen Brief geschrieben habe.«
»Ja.«
Er sah sie nicht an. »Es muss dich fast umgebracht haben.«
Sie wollte sein Gesicht in ihre Hände nehmen und ihn zwingen, sie anzusehen, aber sie hatte nicht den Mut, ihn zu berühren. »Weißt du, was mir dabei geholfen hat?«
»Erzähl es mir.«
Sie konnte die Heiserkeit in seiner Stimme hören, das Verlangen, zu verstehen. »Es war Francis. Er war eine sanfte, liebende Seele, der sein Leben gegeben hätte, um einen Fremden zu retten, von seinem Bruder ganz abgesehen. Er liebte dich, Angel, und es gibt überhaupt keine Frage darüber, was er gewollt hätte.«
»Er war so verdammt gut«, flüsterte er. »Schon als wir Kinder waren und ich ein solches Arschloch war - hat er immer an das Beste in mir geglaubt.«
»Er hat sein Leben nicht für dich gegeben. Es ist wichtig, dass du das begreifst. Er starb. Punkt. Und was danach kam, war ein Geschenk des Gottes, den er liebte. Aus seinem Tod hat sich etwas Gutes ergeben, aber es hat seinen Tod nicht verursacht. Du hast keine Schuld an seinem Tod.«
»Du verstehst nicht, Mad ...«
Dieses Mal musste sie ihn einfach berühren. Der Schmerz in seiner Stimme war wie ein Messer. Sie beugte sich vor, berührte seine Wange mit sanfter, flüchtiger Zärtlichkeit. »Dann hilf mir, dich zu verstehen.«
Er erstarrte und sie merkte, dass er um Selbstbeherrschung rang. »Ich verdiene sein Herz nicht. Ich kann nicht... wie er sein.«
»Oh, Angel«, keuchte sie. »Es würde ihn schmerzen, könnte er hören, dass du das sagst. Das weißt du auch.«
Er wich zurück. »Ich kann nicht für ihn leben. So viel Edelmut habe ich nicht in mir.«
Sie berührte seine Brust, spürte seinen Herzschlag, und mit diesem pochenden Rhythmus kam bei ihr ein Gefühl von Hoffnung auf. »Du hast Francis' Herz, aber deine Seele, Angel. Du hast es in dir, alles zu sein.«
Tränen füllten seine Augen, als er sie ansah. Sie schlang die Arme um ihn und zog ihn an sich. Er vergrub das Gesicht in ihrer Nackenbeuge. Sie streichelte sein Haar und wiegte ihn sanft, sagte ihm wieder und wieder, dass alles gut sei.
Schließlich löste er sich von ihr. »Ich habe Angst, Maddy...« »Ich weiß.«
»Ich weiß nicht, wohin ich von hier aus gehen soll, wohin Francis mich gern gehen sehen würde.« »Geh das ganz langsam an. Schritt für Schritt.« Er lachte. »Du klingst wie mein Berater in der Entzugsklinik.«
Sie lächelte. »Wohin willst du von hier aus gehen, Angel? Warum fängst du nicht damit an?«
Er blickte auf sie herab und sie hätte schwören können, dass Liebe in seinen Augen war. »Nach Hause«, sagte er einfach. »Ich will nach Hause gehen.«