Kapitel 9
Francis ging langsam über den gesprungenen Steinweg, der zu dem bescheidenen weißen Haus der Fiorellis führte. Das Unkraut und das Gras, die den Weg besetzten und sich hartnäckig zwischen die Herbstblumen geschlichen hatten, waren nicht zu übersehen.
Im vergangenen Sommer war dieser Garten elegant und gepflegt gewesen. Jetzt verwilderte er. Die Rosensträucher hielten ihre toten und sterbenden Blüten fest. Der Boden war mit vielfarbigen Blütenblättern übersät, deren Ränder eingerollt und braun und zerrissen waren.
Er erreichte die Eingangstür und blieb stehen. Ein kleines Vordach hielt die Strahlen der Mittagssonne davon ab, in seine Augen zu fallen, und tauchte ihn in die willkommene Kühle des Schattens. In einer Nische rechts von der Tür stand eine alte, verwitterte Christusstatue. Er hielt seine schimmelbefleckten Hände grüßend ausgestreckt.
Für eine Sekunde empfand Francis Widerwillen, einzutreten. Er spürte den Blick der gemalten Augen der Statue auf sich und verfluchte stumm seine Feigheit. Die Fiorellis waren Freunde gewesen, so lange er denken konnte. Damals, als er und Angel noch Kinder waren, hatten sie auf diesem Hof gespielt, hatten Tausende von Baseballbällen mit den Enkeln der Fiorellis hin und her geschlagen.
Aber diese Tage waren längst vorbei und er war aus einem anderen Grunde gekommen. Er nahm einen langen, letzten Atemzug von der nach Rosen duftenden Luft und klopfte schließlich.
Drinnen gab es ein schlurfendes Geräusch, dann schwang die schlichte weiße Tür weit auf und im Eingang stand ein dünner, alter Mann mit gebeugten Schultern. Sein gefurchtes Gesicht breitete sich zu einem Grinsen, bei dem er seine Zähne entblößte. »Hallo, Vater Francis. Kommen Sie herein, kommen Sie herein.« Der alte Mann trat beiseite.
Francis tauchte in das kühle, dunkle Innere. Das Erste, was er bemerkte, war der Geruch - der kaum merkliche, modrige Geruch eines baufälligen Hauses, eines Hauses, dessen Dach ebenso dringend einer Pflege bedurfte wie der Rosengarten. Der winzige Korridor ging unmittelbar in ein kleines, ovales Vorderzimmer über, das an drei Seiten von früher einmal eleganten Stuckbögen begrenzt war. Dutzende von Familienbildern hingen schief und staubig an absackenden Haken, Schulfotos von Kindern, die jetzt selber Kinder hatten. Ein alter RCA-Fernseher, der ein dumpfes und gedämpftes Rauschen in dem ansonsten stillen Raum von sich gab, stand in einer Ecke.
Im letzten Jahr noch hatten ein wunderschönes viktorianisches Sofa nebst Tisch diesen Raum geschmückt. Sie waren jetzt verschwunden. Ihren Platz nahm nun ein Krankenhausbett ein, wuchtig und bedrohlich in dem winzigen Zimmer. Ein Rollstuhl stand in der Ecke und wartete darauf, benutzt zu werden.
Ach, selbst die Zeit dafür war längst vorbei.
Francis spürte ihn wieder, diesen Widerwillen, in ihren Kummer einzudringen. »Hallo.« Das war alles, was er sagen konnte, weil er diesen Kloß in der Kehle hatte.
Der alte Mann blickte auf. Sein Gesicht wirkte bedrückt und war blass. Für einen Sekundenbruchteil erinnerte sich Francis an den Mann mit den dunklen Augen, den er einst gekannt hatte. Er pflegte immer zu lachen, hatte sogar Schwierigkeiten, nicht zu lächeln, wenn er das Abendmahl nahm. Und er hatte bei der Beichte immer einen Scherz für Francis bereit, eine »Sünde«, die einen jungen Priester garantiert dazu brachte, hinter der Sicherheit der hölzernen Trennwand zu grinsen. Vergeben Sie mir, Vater, denn ich habe Thunfisch in den Hühnchensalat getan.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Vater?«, fragte Mr Fiorelli mit respektvoller Stimme. Diesmal ohne ein Lächeln.
Francis schüttelte seinen Kopf, legte tröstend eine Hand auf die Schulter des Mannes und merkte dabei, wie spindeldürr er geworden war. »Nein, danke, Edward. Wie geht es ihr heute?«
Edward blickte wieder auf und in dem blassen Licht schien sein Gesicht einzufallen, in einem Morast von Falten zu versinken. »Nicht gut.«
Francis trat neben das Bett und setzte sich auf den wackeligen Holzhocker, rückte näher. Seine Knie stießen mit einem dumpfen Geräusch gegen das Metallgestell.
Die Frau in dem Bett, Ilya Fiorelli, blinzelte, als sie langsam erwachte. Bei seinem Anblick lächelte sie. »Vater Francis.«
Edward begab sich auf die andere Seite des Bettes und setzte sich, legte seine altersfleckige, großknöchelige Hand um die seiner Frau.
»Ich wusste, dass Sie heute kommen würden«, flüsterte sie. Sie wollte mehr sagen, aber dann erschütterte ein rasselnder, schleimiger Husten ihre Brust.
Francis starrte auf die blasse, verwelkte alte Frau. Ihr weißes Haar, mit der Perfektion eines Friseurs gebürstet und gekämmt, kräuselte sich auf dem angegrauten Kopfkissen wie Büschel von Gänsedaunen. Er nahm ihre andere Hand, die so schlank und zerbrechlich war, und drückte sie sanft.
Stumpfe, wässerig blaue Augen, deren Winkel in Falten von gerunzeltem Fleisch steckten, blinzelten ihn an. Selbst jetzt, in den letzten, von Schmerz erfüllten Tagen ihres Lebens, strahlte sie eine ruhige Sanftmütigkeit aus, die sein Herz anrührte.
»Segnen Sie mich, Vater, denn ich habe gesündigt.«
Sie sprach so leise, dass er sich vorbeugen musste, um die Worte zu hören.
»Ich habe zum letzten Mal vor zwei Wochen gebeichtet. Ich bekenne mich schuldig...«
Francis presste seine Augen zu und schluckte den Kloß, der seine Kehle wie alter Staub verschloss. Wann hast du das letzte Mal wirklich gesündigt, Ilyaf Wann?
Wie konnte ein gütiger Gott eine solche Frau mit so viel Elend beladen? Eine liebende, sorgende Frau, die nie einer Seele etwas zuleide getan hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Menschen geholfen und jetzt lag sie hier. Krebs fraß sich durch ihre Knochen, breitete sich hoffnungslos wie ein Virus durch ihr Blut aus.
Und was war mit Edward, ihrem Ehemann, mit dem sie siebenundfünfzig Jahre verheiratet gewesen war? Was würde er nach ihrem Tod tun, wie würde er in diesem Zuhause weiterleben, das sie für ihn geschaffen hatte?
»Edward«, sagte sie leise, »hol Vater Francis eine Tasse Tee.«
Edward ließ die Hand seiner Frau los und verließ das Bett, verschwand in der Küche.
Sie wartete darauf, dass die Küchentür leise ins Schloss fiel, bevor sie sprach. »Vater...« Sie hielt inne, holte tief und zitternd Atem, wobei sich ihre Hand in seinem Griff zu einer Faust ballte. »Ich habe Angst um ihn, Vater. Der Ausdruck seiner Augen in letzter Zeit... Er ist noch nicht auf meinen Tod vorbereitet.«
Francis berührte ihr Gesicht, streichelte sanft die samtweichen Falten. »Ich werde ihm helfen, Ilya. Ich werde für ihn da sein.«
»Ich kann nicht mehr lange bleiben. Der Schmerz ...« Tränen rannen über ihre Schläfen. Sie drückte seine Hand. »Passen Sie auf ihn auf, Vater. Bitte ...«
Francis wischte die feuchte Spur von ihrer Haut und versuchte zu lächeln. »Gott wird auf Edward aufpassen und Er ist unendlich fähiger als ich. Gott hat immer einen ...«
Plan.
Er konnte den Satz nicht beenden. Er hatte dies Millionen Mal gesagt, aber jetzt konnte er nicht sprechen. Er musste etwas sagen, das wirklich wichtig war, etwas, das den Schmerz dieser gütigen Frau lindern würde, aber da war nichts. Nichts.
»Natürlich hat Er einen Plan«, flüsterte sie und machte es ihm damit schmerzhaft leicht. »Es ist nur ... mein Edward ...«
Tränen verwischten alles vor Francis' Augen. Er überlegte angestrengt, was er an Bedeutungsvollem sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein, und so verfiel er ins Übliche, in die Routine, erteilte ihr Absolution für ihre Sünden - obwohl er wusste, dass es keine gab, jedenfalls keine wirklichen - und segnete zum tausendsten Mal ihre Seele.
»Danke, Vater.«
Er starrte in Ilyas blaue Augen, sah die Schärfe des Lebens in all ihrer wundersamen, schmerzerfüllten Schönheit widergespiegelt in ihrem Blick. Er sah all die Dinge, die er sich selbst verweigert hatte, all die Straßen, die er nicht genommen hatte. Und plötzlich dachte er Dinge, die er nicht denken sollte.
Fünfunddreißig Jahre lang hatte Francis allein geschlafen, war in sein schmales Holzbett auf Laken gekrochen, die nach seinem Aftershave rochen. Einmal nur wollte er auf Kissen schlafen, die nach Parfüm dufteten.
Es hatte ihm genügt, den Lauf der Welt zu verfolgen, die Kinder anderer Menschen zu lieben, mit den Frauen anderer Männer zu sprechen. Aber jetzt, als er hier neben Mrs Fiorelli saß, ihre welke Hand hielt, wusste er, wie viel er aufgegeben hatte. Er könnte eine Million Kinder taufen und keines von ihnen würde ihn jemals Daddy nennen.
Er war ein Zuschauer des Lebens gewesen. Er liebte Gott noch immer, aber manchmal, in der Tiefe einer kalten, dunklen Nacht, sehnte er sich nach menschlichem Kontakt. Nach Madelaine. In den letzten Jahren hatte er sich Hunderte Male aus dem Bett geschwungen, sich auf den harten Boden gekniet und um Wegweisung und Kraft gebetet.
Mut. Das war es, was er brauchte, gerade jetzt für Mrs Fiorelli und für sich selbst. Es war das, was er sein ganzes Leben lang gebraucht, aber niemals wirklich gehabt hatte. Angel hatte all den Mut ihrer Familie, und Francis hatte all den Glauben bekommen.
Wenn er Mut gehabt hätte, nur ein klein wenig Mut vor langer Zeit, vielleicht hätte er andere Entscheidungen getroffen, etwas anderes getan.
Aber er war den leichten Weg vor vielen Jahren gegangen. Damals, als Madelaine schwanger und allein war, hatte Francis ihr angeboten, sie zu heiraten. Nur, dass er sie nicht wirklich hatte heiraten wollen, und sie hatte das gewusst, so wie sie immer alles über ihn gewusst hatte. Sie wusste, dass seine Liebe zu Gott die große Leidenschaft seines Lebens war und immer sein würde.
Nein, Francis, hatte sie leise gesagt und geweint. Sei mein bester Freund, sei der beste Freund meines Babys. Bitte ...
Und sie hatten nie wieder darüber gesprochen. Es gab so viele Dinge, über die sie niemals gesprochen hatten ...
Er schloss seine Augen und betete laut, ebenso für sich wie für Ilya. »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn.« Die Worte ergossen sich in seinen Verstand wie Wasser aus einem Eimer, eines nach dem anderen, tröstend, reinigend, und er verlor sich in ihnen.
Ilyas Stimme fiel in seine ein. »Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.«
Vergebung der Sünden.
Die Scham kam wieder und bot Francis keinen Platz zum Verstecken. Er hätte Madelaine dazu ermutigen sollen, Lina die Wahrheit über ihren Vater zu sagen, oder er hätte Lina die Wahrheit sagen sollen.
Er wusste, dass es so lange keine wirkliche Vergebung geben konnte, bis er die Dinge in Ordnung gebracht hatte.
»Vater?« Die Stimme von Mrs Fiorelli brachte ihn schlagartig in die Gegenwart zurück.
Er schüttelte die Gedanken ab und lächelte die alte Frau an. »Verzeihen Sie, Mrs Fiorelli.«
»Sie haben für eine Sekunde traurig ausgesehen, Vater«, sagte Ilya. »Worüber kann ein gut aussehender junger Priester wie Sie traurig sein?«
Er sollte sie vielleicht anlügen, sollte den Mantel der Vollkommenheit um sich legen, die von ihm erwartet wurde, aber er hatte nicht den Mut dazu. »Bedauern vielleicht«, antwortete er ruhig.
Sie streckte eine welke, zitternde Hand aus und berührte sein Kinn mit einer flüchtigen Geste von Zuneigung. »Glauben Sie mir dies, Vater. Das Leben ist schnell vorbei und man bedauert nur, was man nicht getan hat.«
»Manchmal ist es zu spät.«
»Niemals«, keuchte sie. »Es ist niemals zu spät.«
Angel lag in seinem unbequemen Krankenhausbett und starrte an die geflieste Decke.
Gott, er fühlte sich schlecht. Schlimmer als schlecht. Er hatte fast überall Schmerzen und die wenigen Stellen, die nicht schmerzten, waren geschwächt. Das Atmen war nur noch schmerzhafte, unbefriedigende Routine. Seine Finger waren kalt geworden. Zuerst hatte er geglaubt, es habe nichts zu bedeuten, aber dann waren seine Zehen blau geworden.
Durchblutungsstörungen.
Das war das Wort, das die Krankenschwestern benutzten, aber Angel konnte die Bedeutung hören, die hinter den Worten steckte. Es war zu Ende. Sein Leben verrann. Gestern noch war er bereit gewesen, dafür zu kämpfen, aber heute war er zu müde dazu.
Er fragte sich, wofür er gelebt hatte, und noch während er diesen Gedanken hatte, kotzte es ihn an. Er hatte ein Leben gelebt, ohne einen Stempel zu hinterlassen, ein Leben, das keine wirkliche Bedeutung hatte. Das sah er jetzt, sah das mit einer Klarheit, die er die ganze Zeit hätte haben sollen.
Gestern hatte ihn der Mann aus dem Zimmer nebenan besucht. Tom Grant.
»Es ist verdammt erschreckend«, hatte Tom gesagt. Einfach so hatte er die Furcht und Unsicherheit auf das Bett zwischen ihnen geworfen, als ob es nichts gäbe, dessen man sich schämen müsste, als ob ein Mann nicht stark sein müsste.
Angel hatte sich zuerst von seiner unsympathischen Seite gezeigt. Er hatte sich nicht selbst in Tom Grant sehen wollen, hatte nicht zugeben wollen, dass er ebenso krank war wie Tom. »Ah«, hatte er auf gemeine Art gesagt, »Sie sind also der Herztransplantationspatient, der zweimal dran war.«
Tom hatte gelacht. Ein schwaches Lachen.
Es war das Lachen, das Angels Ärger entschärfte, und die Ehrlichkeit, die seine Rüstung durchdrang.
»Das Schlimmste«, sagte Tom, »ist das Warten auf einen Spender. Das bringt einen dazu, sich hässlich zu fühlen, krank und entstellt. Und verflucht.«
Angel hatte den Mann schließlich angesehen, sein verschwollenes, von Medikamenten aufgedunsenes Gesicht, sein dünnes Krankenhaushemd, das eine Vielzahl von blutigen, tropfenden, intubierten Scheußlichkeiten verdeckte, seine müden, ach so müden Augen, und er hatte das Gefühl, in die Zukunft zu schauen.
Angel stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er zu weinen begann. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so beschämt gewesen war. »Gott«, murmelte er und wischte sich sein Gesicht mit dem Ärmel ab.
»Ich habe mehr Tränen vergossen als ein Baby. Machen Sie sich darüber keine Sorgen.« Tom beugte sich näher zu ihm. »Sie müssen sich darauf konzentrieren, wie viel besser Sie sich fühlen werden, wenn es vorbei ist. Ich weiß, es macht einem Angst, daran zu denken, aber wenn es erst vorbei ist, dann ist es wie ... ein Geschenk.«
Angel seufzte, wünschte sich, auch einen so schlichten Glauben haben zu können. »Bei mir wird das nicht passieren, Mann. Gott wird mir keine zweite Chance geben.« Er zwang sich zu einem anmaßenden Lächeln. »Ich kann dem alten Mann nicht mal einen Vorwurf machen. Ich bin ein ziemliches Arschloch gewesen.«
»Tun Sie sich das nicht selbst an«, sagte Tom. »Kommen Sie nicht mit Moral oder Güte oder Erlösung. Es geht allein um Medizin. Schlicht und einfach. Gute Menschen werden ebenso oft ermordet wie schlechte Menschen. Und jeder verdient eine zweite Chance.«
Angel wollte das glauben, aber es war in seinem Leben zu spät, etwas radikal zu ändern. Er war egoistisch und ignorant. Er hatte das Temperament des Teufels persönlich. Er hatte es immer gehabt. Und seine Berühmtheit hatte das noch schlimmer gemacht.
Er hatte die Wahrheit über sich schon vor langer Zeit akzeptiert - es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er sich jetzt nicht ändern würde. Wozu auch?
Er starb. Das begriff er jetzt, und nachdem Tom gegangen war, hatte Angel dort gelegen, auf seinen nächsten Atemzug gewartet, und auf den nächsten und den nächsten, hatte auf jeden schwachen Schlag seines Herzens gewartet. Eine Welle von Einsamkeit hatte ihn darauf überkommen, sich tief und schwer in sein krankes Herz gesenkt. Er hatte sich gewünscht, jemand - irgendwer - säße neben ihm, hielte seine Hand und sagte ihm, alles würde gut werden.
Er ist nicht wie du, Angel. Er ist leicht verletzbar.
Ihre Worte waren ihm wieder eingefallen, drangen in sein Bewusstsein. Er hatte in seinem ganzen Leben nur zwei Menschen wirklich geliebt - Francis und Madelaine - und er hatte beide verletzt.
Das Verrückte daran war, dass er das eigentlich niemals beabsichtigt oder zumindest nicht wirklich gewollt hatte. Plötzlich dachte er an die Vergangenheit, an die Zeiten, in denen sein großer Bruder - selbst nicht einmal ganz acht Jahre alt -Angel vor ihrer betrunkenen Mutter versteckt hatte, die Zeiten, in denen Francis vergeblich versucht hatte, ihre Wut auf sich zu lenken anstatt auf... Zeiten, in denen sie auf diesem alten, von Unkraut überwucherten Gelände neben dem Wohnwagenstellplatz gesessen und gemeinsam ihren Träumen nachgehangen hatten.
Wie hatte er das alles vergessen können? Wie hatte er sich von all dem gelöst?
Er streckte langsam eine Hand aus und griff nach dem Telefon, wählte die Nummer, die Madelaine ihm hinterlassen hatte. Ein Anrufbeantworter schaltete sich beim dritten Läuten ein.
Angel hinterließ eine Nachricht und legte auf.
Angel lag im Halbschlaf, als er hörte, dass seine Tür sich öffnete. Leise Schritte bewegten sich in das Zimmer.
Ah, dachte er erleichtert, Attila, die Krankenschwester, mit seiner Injektion.
Er öffnete seine Augen und sah einen großen Mann an der Tür stehen. Er hatte weizenblondes Haar, blasse Haut und blaue Augen, und er trug ein graues UW-Sweatshirt und ausgebleichte Levi's. Für eine Sekunde wusste Angel nicht, wer das war, dann erkannte er ihn.
»Mein Gott«, flüsterte er. »Bist du es, Francis?«
»Hi, Angel.« Es war dieselbe Stimme nach all diesen Jahren.
Angels erste Emotion war reine freudige Erregung, ein schnelles Danke, Gott, dass sich jemand sorgte, dass jemand gekommen war. Dann dachte er an Madelaine, an Francis und Madelaine zusammen, und Eifersucht kam so plötzlich wie ein Pfeil, durchstieß die Freude und riss ein kleines Stück davon weg. Dann war da Schuldgefühl, beißend und bitter, die Erinnerungen an seinen Verrat und Francis' Schmerz. Er zwang sich zu einem anmaßenden Grinsen. »Ist gut, dich zu sehen, Bruder. Schön, dass du Zeit hattest, mal vorbeizuschauen.«
Francis zuckte zusammen. Angel fühlte sich augenblicklich wie ein Blödmann. Aber lief es nicht immer so? Warum konnte er nie das Richtige tun oder sagen, wenn Francis da war?
»Wie lange bist du schon hier?«
»Nicht lange«, sagte Angel schließlich. »Ich hatte wieder einen Herzanfall in Oregon und man hat mich hierher geflogen.«
»Wieder einen?«
Er zuckte die Schultern. »Technisch ist es >eine Folge eines Herzfehlers<, aber es fühlt sich, verdammt noch mal, wirklich wie ein Anfall an.«
»Wird es dir wieder gut gehen?«
»Mir geht's immer gut - das solltest du wissen.« Er heuchelte ein Lächeln. »Sie werden mich mit Medikamenten voll pumpen und dann nach Hause schicken. Nichts weiter dabei.«
Francis zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er sah älter aus als fünfunddreißig und in seinen blauen Augen war eine Traurigkeit, die bei Angel Unbehagen auslöste. Francis war immer Optimist gewesen.
»Wie ist es dir ergangen, Francis?«
Francis lächelte nicht. »Ist eine tolle Frage nach all diesen Jahren. Was soll ich darauf sagen, Angel? >Mir ging's gut. Wie geht's dir selbst so?<«
Wieder hatte Angel das Falsche gesagt. Er wollte diesen Augenblick retten, etwas daraus machen, aber er wusste nicht wie. Er und Francis hatten ihr Leben lang miteinander gekämpft - zumindest hatte Angel mit Francis gekämpft und Francis hatte das hingenommen. Er wusste nicht, wie er den Kreislauf anhalten könnte, wie er neue Wege gehen sollte, sagen konnte, lass uns neu anfangen.
»Hast du sie gesehen?«, fragte Francis.
Keine Schüchternheit, nicht von Francis. Kein um den heißen Brei herumreden, wer sie war. Angel spürte deutlich, dass eine plötzliche Spannung den Raum erfüllte. »Ja, ich habe sie gesehen.«
»Und?«
Angel musterte seinen Bruder, bemerkte, dass er noch immer blond war und noch immer die schlanke Gestalt eines Langstreckenläufers hatte. Ja, er war derselbe alte Francis, fast in jeder Hinsicht perfekt - gut aussehend und anständig und tugendhaft. Die Art von Mann, bei dem eine Frau sich sicher fühlen würde, von dem sie geliebt werden würde. Der ideale Typ, um zu kommen und das gebrochene Herz eines sechzehnjährigen Mädchens zu kitten.
Der Gedanke machte Angel verrückt.
»Nun?«, sagte Francis.
»Was willst du wissen, Francis? Ob ich sie gebumst habe? Nein, habe ich nicht. Ist ein bisschen schwer, wenn man an einem Herzmonitor hängt.«
Er sah die Abscheu in den Augen seines Bruders, die Enttäuschung. Francis seufzte, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich weiß, dass du nicht... mit ihr geschlafen hast. Das hatte ich nicht gefragt.«
Angel fühlte sich unter dem durchdringenden Blick seines Bruders wie ein Insekt. Aber das Schlimmste daran war, dass Angel wusste, dass dies alles nur in seiner Phantasie existierte, wusste, dass Francis nichts von dieser Spannung spürte, nichts von dieser kindischen Konkurrenz. Doch Francis förderte wie immer das Schlechteste an Angel zutage.
»Bumst du sie?«, fragte Angel, angewidert und beschämt von seiner eigenen Frage, aber unfähig, sie zurückzuhalten.
Francis betrachtete ihn und sagte eine lange Zeit nichts. Jede Sekunde des Schweigens schien eine Stunde zu währen. »Ich bin Priester«, sagte Francis schließlich.
Angel spürte eine Welle der Erleichterung, empfand dann einen überraschenden Stolz. Er erinnerte sich an die vielen Male, als er mit seinem großen Bruder auf der Vordertreppe gesessen und den Träumen des zehnjährigen Francis gelauscht hatte, Priester zu werden. »Du hast es gemacht, ja? Gut für dich.«
»Alles in allem ist es gut gewesen. Das brachte Ma dazu zu glauben, dass Gott immer über sie wacht.«
Angel merkte, dass er lächelte. Für eine Sekunde war es ein Gefühl, als seien sie wieder Kinder. »Wenn sie's in den Himmel geschafft hat, siehst du alt aus.«
Francis lachte. »Das ganz sicher.«
»Wie ist das so, Priester zu sein?«
»Gut. Ein wenig ... einsam manchmal.«
Angel sah die Bekümmerung in den blauen Augen seines Bruders und einen vagen Schatten von Unzufriedenheit. Er wusste plötzlich, so wie er einfach immer Dinge über Francis »gewusst« hatte, dass sein Bruder wieder über Madelaine sprach. »Du liebst sie.«
Francis zuckte zusammen, lachte dann lahm. »Du konntest immer meine Gedanken lesen. Ja, so ist es.«
Sie schmerzte, diese traurige, ruhige sachliche Feststellung. Es ärgerte ihn maßlos, dass es so sehr schmerzte nach all diesen Jahren. »Und sie liebt dich«, schoss Angel zurück. »Wahrscheinlich eine dieser schäbigen, herzergreifenden Dornenvögel-Geschichten. Was macht ihr, versenkt ihr eure Blicke über den Abendmahloblaten ineinander?«
»Sie ist keine Katholikin.«
Angel runzelte die Stirn. Das war keine Antwort. Er spürte wieder den Ärger zurückkommen, spürte, wie er von ihm angestachelt wurde. Ruhig, dachte er. Halt den Mund und alles mit dir ist okay. Aber mit der Welle des Ärgers kamen die Worte, unaufhaltsam, unveränderbar. »Was hast du gemacht, ihr über die schweren Zeiten hinweggeholfen, nachdem ich gegangen war?«
Francis' Gesicht wurde überraschend hart. »Nachdem du gegangen warst, war sie völlig allein. Alex sagte sich von ihr los und warf sie aus dem Haus. Sie brauchte irgendjemand.«
»Und du warst da«, sagte Angel mit bitterem, sarkastischem Tonfall.
»Und du warst nicht da.«
Angel zuckte zusammen. »Eins zu null für dich, großer Bruder.«
Francis rückte seinen Stuhl näher. »Was, in Gottes Namen, hast du denn von ihr erwartet? Was hätte sie denn tun sollen?«
Angel schloss seine Augen fest. Er weigerte sich, jetzt Scham zu empfinden, all diese Jahre später. Es war eine sinnlose Zeitvergeudung. Sie war offensichtlich gut alleine zurechtgekommen.
»Sie glaubte an dich, Angel«, sagte Francis ruhig. »Wir beide taten das.«
Sein Magen verkrampfte sich vor Scham. »Ja, gut. So ist das Leben nun mal. Leute lassen einen hängen.«
»Sie ändern sich auch und entschuldigen sich und suchen Erlösung.«
»Komm mir nicht mit diesem frommen Scheiß. Es ist für mich zu spät, mich zu entschuldigen oder mich zu ändern, und Erlösung ist für mich unerreichbar. Ich denke, ich werde einfach weiter so rumstolpern, wie ich's immer getan habe.«
»Dann wirst du Madelaine also nicht mehr sehen?«
»Sie ist meine Ärztin.«
»Das meine ich nicht und du weißt das genau.«
Angel schaute ihn an. »Hör auf, um den heißen Brei rumzureden, Franco. Du willst nicht, dass ich sie bumse - das ist es doch, was du auf deine selbstgerechte Art zu sagen versuchst, nicht wahr?«
»Ich will nicht, dass sie wieder verletzt wird. Madelaine ist... zart und zerbrechlich.«
Angel dachte an die Furie, die ihm den Vortrag über sein Herz gehalten hatte, und lachte laut auf. »Ja, eine richtige Magnolienblüte.«
»Ich mein's ernst, Angel. Sie hat Jahre gebraucht, um über dich hinwegzukommen. Brich ihr nicht wieder das Herz.«
Angel lachte bitter. »Keine Sorge, Junge. Wenn jemand ein gebrochenes Herz hat, dann ich.«
Francis stand mit einem müden Seufzen auf. »Ich habe für den Rest des Monats Exerzitien für Paare in Oregon. Ich könnte das absagen, falls ...«
»Falls ich morgen sterben sollte? Mach dir keine Gedanken. Mir wird's gut gehen.«
»Ich werde zurückkommen und dich besuchen, wenn ich wieder daheim bin. Es sei denn, du willst wieder verschwinden ...«
Angel seufzte. Der Ärger war bereits verschwunden, zur Bedeutungslosigkeit verblasst durch die Macht seiner Liebe zu seinem Bruder. Wieder wünschte er sich, er hätte sich zurückgehalten, hätte sich nur einmal in seinem Leben beherrscht. »Ich werde hier sein, Franco.«
»Gut.«
Angel zwang sich zu einem kläglichen Lächeln. »Tut mir Leid, dass ich dich angebrüllt habe, Mann. Danke fürs Kommen. «
Francis schaute lange, lange Zeit auf ihn herab. Dann lächelte er langsam. »Es tut dir immer Leid.«
»Ja«, sagte Angel leise, getroffen von der Wahrheit seiner Worte.