Auf der Terrasse von Lourmarin

Seit einem halben Jahrhundert liegt Albert Camus auf dem Friedhof von Lourmarin, Lavendel und ein großer Oleander überwuchern das Grab. Neben ihm liegt «Madame Albert Camus», geborene Francine Faure. Links und rechts die Gräber der kleinen Leute der Provence, gemauerte Familiengräber im Gartenhausformat, Plastikblumen, Grabschmuck aus Hongkong, die misstrauischen Blicke der Toten auf den kleinen emaillierten Grabbildern verfolgen den Besucher – keine passende Umgebung für einen der größten französischen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts. Das mag sich jedenfalls Nicolas Sarkozy gedacht haben, als er Camus im Jahr 2009 unbedingt hier wieder ausgraben und ins Panthéon nach Paris verbringen wollte.

Camus’ Kinder leben mit dem übergroßen Schatten, den ihr Vater bis in jeden Winkel ihres Lebens wirft – als moderner Klassiker und säkularer Heiliger in den Köpfen von Millionen Lesern, die Camus verehren als Ikone des vorbildhaft moralischen und aufrecht desillusionierten Intellektuellen. Jedes der Kinder hat für sich allein eines der beiden unvereinbaren Leben des Vaters zu Ende gelebt. Catherine das sonnenbeschienene, einfache Mittelmeerleben in Lourmarin. Jean das lichtlose, melancholische Intellektuellenleben in der Rue Madame in Paris.

Klopft man in der Rue Albert Camus in Lourmarin an das große Holztor, öffnet eine zierliche blonde Frau, die sich mutig einem belastenden Erbe stellt: Catherine Camus, umsprungen von ihren vier Hunden, begleitet von einem jungen Sekretär. Sie verwaltet das Werk ihres Vaters, sie pflegt das Grab der Eltern, sie hat den dritten Band der Tagebücher ediert und in mühsamer Entzifferungsarbeit das beinahe unleserliche nachgelassene Manuskript des Ersten Menschen transkribiert, zum zweiten Mal, denn auch ihre Mutter hatte in den neunzehn Jahren, die sie Camus überlebte, das Manuskript bereits übertragen.

Die Tochter hat lange überlegt, ob sie die Offerte des französischen Präsidenten annehmen sollte. Viele Unbekannte hätten ihr geschrieben in jenen Wochen des Abwägens und Zögerns, erzählt sie mir im Arbeitszimmer ihres Vaters mit dem atemberaubenden weiten Blick in den Lubéron. Besonders die kleinen Leute hätten sie bedrängt, der Umbettung zuzustimmen, für sie, sagt Catherine, sei es ein Zeichen und eine Auszeichnung gewesen dafür, dass einer der ihren es so weit gebracht habe – bis ins Panthéon. Camus wäre dann nicht länger der Grabnachbar der Familien Baptiste und Juriens mitsamt deren Plastikrosen und Porzellanvergissmeinnicht auf dem Dorffriedhof, hinter dem sich die duftende provenzalische Landschaft öffnet: Mohnblumen, Zypressen, Iris, Pinien und Blumenwiesen, auf denen Eselherden weiden. Er ruhte unter schweren Marmordeckeln mit güldenen Inschriften Seite an Seite mit Voltaire und Rousseau und Malraux in Paris, wo Jean in der Rue Madame Klavier spielt, wo Gallimard seine Bücher weiter verlegt, wo noch immer seine gealterten Geliebten Catherine Sellers und die Dänin Mi leben. Sie habe geschwankt und schließlich zugestimmt. Zum allerletzten Mal musste es im Leben des Vaters eine Entscheidung zwischen Norden und Süden, Ehre und Einfachheit, zwischen den kleinen Leuten und der großen Politik geben. Zum Glück sei Jean dagegen gewesen.

Seit Jahren haben die Camus-Zwillinge keinen Kontakt mehr zueinander. Catherine möchte das nicht kommentieren, und als ich meinerseits von Jean erzähle, den ich in der düsteren Wohnung in der Rue Madame besuchen durfte und mit dem ich stundenlang habe sprechen können, rollt sie auf ihrem Schreibtischstuhl bis in die letzte Ecke des Arbeitszimmers ihres Vaters und zieht sich, mitten im Frühling, plötzlich eine warme Jacke an.

Warum haben die Kinder damals, im Januar 1960, nicht an der Beerdigung ihres Vaters in Lourmarin teilgenommen, immerhin waren sie schon 14 Jahre alt? Catherine wundert sich über diese Frage: Es habe ihnen ganz einfach niemand gesagt, dass ihr Vater tot sei. Man habe in der Familie ja nicht viel gesprochen. Es habe lange gedauert, bis man den Zwillingen zu verstehen gab, dass ihr Vater in Lourmarin unter der Erde liege. Auch später als erwachsene Frau habe sie mit ihrer Mutter nie besonders viel über die Vergangenheit und über das Verhältnis der Eheleute zueinander gesprochen. Derartige Gespräche, sagt Catherine Camus, seien doch nur Psychoanalyse, für sie offenbar ein anderes Wort für Unsinn. Und dann sagt sie einen wunderbaren Camus-Satz: «Nous sommes des sauvages d’Afrique» – die Familie Camus versteht sich noch in der nächsten Generation als ein Stamm afrikanischer Wilder, den das Schicksal nach Frankreich und in die seichten Seelengebiete der Zivilisation verschlagen hat, ohne dass man hierhergehörte.

Den kompletten Briefwechsel ihrer Eltern habe sie nie gelesen. Eine Freundin habe ihn vor Jahren einmal abgeschrieben, sie sei die einzige lebende Person, die diesen Briefwechsel überhaupt kenne. Dem Biographen Olivier Todd habe man nur eine schmale Auswahl der Briefe zur Verfügung gestellt (aus denen auch in diesem Buch zitiert wird). Wo die Briefe an Maria Casarès seien, will sie mir nicht verraten. Niemand durfte sie bisher einsehen.

Catherine Camus trägt nicht schwer an ihrem Namen. Im Laufe unseres Gesprächs glaube ich hinter ihrem offenen und aufmerksamen Wesen auch die Verschwiegenheit und Unbedingtheit des Vaters zu entdecken. «Das Leben ist kompliziert», sagt sie. «Jeder sucht sich seinen eigenen Weg durch den Dschungel.» Vier Kinder hat sie großgezogen, darunter zwei eigene. Seit 1992 lebt sie in dem großen Haus, das sich ihr Vater von seinem Nobelpreisgeld gekauft hat – «ein Geschenk, das uns Papa hinterlassen hat». Dass ihr Vater den Satz geschrieben haben soll: «Außer in der Liebe ist die Frau langweilig», will sie nicht glauben. Wir sehen zusammen im Tagebuch nach, da steht er in seiner schmerzlichen Unmissverständlichkeit. Nichts zu machen, Papa sei eben ein Mann des Mittelmeeres gewesen. Auch die große Verehrung für seine Mutter – eine «intelligente, zarte Frau mit wunderbaren Augen! Ohne jeden Argwohn! Wir haben sie alle Hélène genannt» – hänge mit seinem mittelmeerischen Erbe zusammen. Der Vater habe sie gelehrt, dass man im Leben nichts ausschließen dürfe und es so nehmen müsse, wie es ist. Er sei immer sehr offen und zugänglich gewesen. Anders als die Mutter, die nicht mit beiden Beinen im Leben verankert gewesen sei. Das rastlose Liebesleben des Vaters will die Tochter nicht verurteilen, erwachsene Menschen könnten leben, wie sie wollten, ein Leben sei nicht richtig oder falsch, sondern immer bloß das Leben mit all seinen Widersprüchen. Glaubt man seiner Tochter, müssen wir uns Camus als einen wunderbaren Vater vorstellen: «Un père excellent».

Da stehen wir schon auf der großen Steinterrasse und sehen hinüber zum Friedhof. Ob sie dort eines Tages bei ihrem Vater begraben sein wird? Darüber denke sie nicht nach, «wenn man stirbt, stirbt man». Wieder so ein Camus-Satz, kantig und erratisch wie ein Feldstein der Provence. Ihr Vater hat es ganz ähnlich gesagt: «Meine große Überlegenheit besteht darin, dass ich keine Angst habe, zu sterben.» Wichtig, sagt die Tochter, sei ihr jedoch eine Erdbestattung: «Man muss die Erde ernähren.»

Ich erinnere sie daran, dass die Erde eines der zehn Lieblingsworte ihres Vaters war, im Tagebuch hat er sie 1951 notiert. Wir versuchen, auf der Terrasse stehend, gemeinsam auf sie zu kommen: Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer. Ich erzähle Catherine, dass mein Buch über ihren Vater in seinen zehn Kapiteln diesen zehn Worten folgt. Warum ausgerechnet seinen Lieblingsworten?

Weil ihr Vater diesen Worten vertraut habe, es seien Magnetworte, die alles, auch alles Widersprüchliche anzögen, magische Worte seines Werks und seines Lebens. Camus, sage ich zu seiner Tochter, wollte der «Mann sein, über den es keine persönlichen Geschichten zu erzählen gibt», ein verschwiegener Künstler, ohne Bekenntnisse, Briefe und Intimitäten. Er habe in meinen Augen sein Leben lang Ballast abgeworfen, am Anfang die Psychologie, dann die Ideologie, am Lebensende sogar die Poesie – bis beinahe nichts mehr da war. Aber er wollte auch leben, was er schreibt, und schreiben, was er lebt. «Mein Werk wird von meinem Leben gemacht werden und nicht umkehrt» – das habe er ja schon als ganz junger Mann geschrieben und sich immer daran gehalten. Mann und Werk gehörten zusammen – wenn nicht bei ihm, bei wem dann? Wer ihn ausschließlich als Dichter oder Denker betrachte und nicht auch als Vater, als Liebenden, als Schauspieler, als Journalisten, als Muttersohn, als Ehemann, als Casanova, als Freund, als Lektor, als Algerier, als Exilanten, als Verzweifelten, als Moralisten und so weiter, der entleibe ihn. Er wollte doch immer mehr als «nur Künstler» sein. Seine Lebenskünstlerschaft sei es gewesen, erkläre ich Catherine Camus ausgerechnet auf der Terrasse in Lourmarin, die mich dazu verführt habe, die zehn Lieblingsworte ihres Vaters zur Grundlage für mein Buch zu machen.

Letzte Frage: Was in ihren Augen das wichtigste Vermächtnis ihres Vaters sei? Sehr schnelle Antwort: Die große Energie, die er ihr hinterlassen habe. Und die «pensée de midi». Das Sonnendenken sei der Schlüssel zu allem. Das menschliche Maß in der Geschichte, in der Kunst, in unserer Ausbeutung der Natur, das sei kein weicher, kompromisslerischer Begriff, sondern ein Kampf – der Lebenskampf ihres Vaters. Aber nun müsse sie wirklich die Hunde füttern.

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie
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