4. Kapitel Das Meer
Ort und Zeit: Algier 1936. Maison de la Culture 1937. Salle Padovani 1937. Das Haus über der Welt 1937.
Im Camus’schen Kosmos bedeutet das Mittelmeer ein Lebensklima, eine Art zu denken, miteinander umzugehen und in der Welt zu sein. «Mittelmeer» heißt auch das einzige erhaltene Gedicht. Er schrieb es mit 19 Jahren in einem ungelenken Pathos – und es enthält doch beinahe alles, was der Pariser Starphilosoph Camus in den fünfziger Jahren in seinem essayistischen Hauptwerk Der Mensch in der Revolte im entscheidenden Schlusskapitel «Das mittelmeerische Denken» gegen die Kultur Europas aufbieten wird. Es beginnt so:
«Im leeren Blick der Scheiben lacht der Morgen
mit all seinen glänzenden blauen, gelben und roten Zähnen,
auf den Balkonen wiegen sich die Vorhänge.
Junge Mädchen mit nackten Armen hängen Wäsche auf.
Ein Mann, am Fenster, hält die Brille in der Hand.
Klarer Morgen auf dem Glanz des Meeres,
lateinische Perle in deinem Lilienschimmer:
Mittelmeer.
Mittag auf dem heißen, unbewegten Meer:
nimmt mich ohne Schrei: eine Stille und ein Lächeln.
Lateinischer Geist, Altertum, ein Vorhang der Scham bedeckt den gequälten Schrei!
Lateinisches Leben, das seine Grenzen kannte,
vorbildliche Vergangenheit, oh! Mittelmeer!»[66]
In diesem Stil geht es einige Strophen lang weiter. Das Gedicht ist aus guten Gründen noch nie ins Deutsche übersetzt worden, interessant ist es dennoch. Es gibt einen Eindruck von der Begeisterung, mit welcher Camus die mediterrane Ideologie aufsog, die am Ende der zwanziger Jahre in Algier nicht allein die Studenten beschäftigte, die Aufsätze in Zeitschriften mit Namen wie «Sud», «Rivages» oder «Jeune Méditerranée» veröffentlichten und die ersten Bände von Fernand Braudels Hauptwerk Das Mittelmeer lasen. Auch auf der großen politischen Bühne spielte die Mittelmeereuphorie eine wichtige, zum Teil zwielichtige Rolle.
In dem selben Jahr, in dem Camus seine Schülerverse verfasst, setzt der französische Erziehungsminister Anatole de Monzie gerade die Gründung eines staatlichen «Centre Universitaire Méditerranéen» in Nizza durch, zu dessen Leiter der Dichter Paul Valéry ernannt wird.
Das Mittelmeerzentrum ist ein kulturdiplomatischer Baustein in einem umfassenden politischen Manöver. Die Hoffnung, die der Quai d’Orsay mit seiner seit 1933 forcierten Mittelmeerpolitik verbindet, ist die Neutralisierung Deutschlands durch ein mediterranes Bündnis zwischen dem faschistischen Italien und Frankreich. Paul Valéry wird 1933 zu diesem Zweck im Regierungsauftrag auf eine ausgedehnte Mittelmeertournee geschickt. In Rom empfängt ihn Benito Mussolini wie einen Nationalhelden. Valéry macht Konversation, erkundigt sich nach dem inhaftierten Antonio Gramsci und besucht in Begleitung des Diktators eine Ausstellung zum Ruhme des italienischen Faschismus.
In Zusammenarbeit mit dem französischen Erziehungsministerium und dem in Marseille ansässigen Herausgeber der einflussreichen Zeitschrift Cahiers du Sud, Jean Ballard, entwirft Valéry im Rahmen dieser heiklen politischen Mission Thesen über die Zivilisation des Mittelmeerraumes und deren Einfluss auf den europäischen Geist. Das Mittelmeerdenken soll die imperiale Nationalstaatsperspektive ablösen und ein transnationales Europa vorbereiten, für das sich auch Camus begeistern wird.
Am 1. Dezember 1933 tritt Valéry seinen Dienst als Leiter des Mittelmeerzentrums an, organisiert Vorlesungen und Kongresse. Im Frühjahr 1936 besucht er Algier und trägt einen schon 1934 publizierten Text mit dem Titel «Inspirations méditerranéennes» vor, in dem er die mediterranen Eindrücke seiner Kindheit sowie das Meer, den Himmel und die Sonne als deren Götter preist. Die Weisheit des Protagoras – «Der Mensch ist das Maß aller Dinge» – nennt Valéry eine «mittelmeerische Entdeckung» und das Mittelmeer die «Wiege der europäischen Kultur».[67] Der Vortrag dieses gefragten Kulturdiplomaten des französischen Staats hat seinen Eindruck auf Camus nicht verfehlt.
Den ansprechenden Titel Valérys, «Inspirations méditerranéennes», übernimmt Jean Grenier, als er 1937 in der Collection: Méditerranéennes bei Camus’ Freund und Verleger Charlot in Algier eine Textsammlung veröffentlicht. Auch Grenier stimmt in die mittelmeerische Rhetorik des historischen Augenblicks ein: «Es gibt für jeden Menschen Orte des besonderen Glücks, Landschaften, in denen er sich entfaltet und eine Art der Verzauberung erfährt, die über die bloße Lebensfreude weit hinaus geht. Es ist die Freude, die Flaubert meint, wenn er sagt, ‹ich habe manchmal Seelenzustände erlebt, die größer waren als das Leben und in denen mir weder Ehre noch Glück etwas bedeutet haben›. Das Mittelmeer kann einen solchen Seelenzustand herbeiführen».[68]
Durch Grenier wird Camus sehr früh in die Mittelmeerphilosophie der Pariser Kulturdiplomatie eingeführt. Wer Camus verstehen will, muss wissen, wer sein Lehrer Jean Grenier war und was er wollte.