Das Lob der Armut

Armut und Elend liegen in der Begriffslandschaft Camus’ ein Zeitalter voneinander entfernt. Das kolonialistisch erzeugte Elend der Berber hat ihn entsetzt. Die anspruchslose, aufs Nötigste beschränkte Armutskultur der ursprünglichen algerischen Gesellschaft bleibt für ihn jedoch das Urmodell des guten Lebens:

«Was kann ein Mensch sich Besseres wünschen als Armut? Ich habe nicht Elend gesagt und rede auch nicht von der hoffnungslosen Arbeit des modernen Proletariers. Aber ich sehe nicht, was man sich mehr wünschen kann als mit tätiger Muße verbundene Armut.»[99]

Das Vorbild solch glückhafter Armut sind die Lebensverhältnisse seiner Kindheit in der Rue de Lyon. Er hat sie nie als Mangel empfunden, sie lagen so weit abseits von der zivilisierten Welt, dass seine Familie, mit einem auf die algerischen Ureinwohner gemünzten Wort des Soziologen und Algerienforschers Pierre Bourdieu, «nur im Hinblick auf einen Reichtum arm war, den sie von außen nicht erkannte und auch von innen nicht entdeckte».[100] Der hartnäckige und manchmal auch verzweifelte Armutsstolz der im Windschatten der Geschichte lebenden Algerier ist die Lebensstimmung, in der sich Camus’ Existenzialismus entfaltet. Seine Carnets eröffneten das Jahr 1935 mit dem Satz: «Was ich sagen will: Dass man – ohne jede falsche Romantik – Sehnsucht nach einer verlorenen Armut haben kann.»[101]

Von der verlorenen Armut seiner Kindheit erzählen die ersten Texte, die er im Fleischerhaushalt seines Onkels schreibt. Die Mutter, die Großmutter und der stumme Onkel, der auf dem Fußboden schläft, werden, kaum hat er sie verlassen, zu den Helden seiner ersten algerischen Armutserzählung L’Envers et l’Endroit (Zwischen Licht und Schatten), in der er die Entbehrungen, denen er entkommen ist, bereits verklärt: Armut wird zu wahrem Reichtum, Schweigen zur idealen Form des Gesprächs, Gleichgültigkeit zu Einverständnis mit dem Schicksal. Sogar der Anblick des Himmels ist nur für den Armen – Camus bemüht den biblischen Begriff häufig – «eine köstliche Gnade».

Als stolzer Abkömmling einer archaischen Armutskultur unterscheidet Camus ursprüngliche Werte, die wie ein Stein oder eine Blume einfach da sind, und künstliche Werte, die sich nur ableiten lassen aus den wankelmütigen Kategorien, Kursen und Tabellen der Zivilisation. Bei seiner Mutter hatten die Dinge einfache Namen, Topf, Teller, Vase. Bei seinem Onkel Acault wurde plötzlich nicht mehr von Tellern gegessen, sondern das Service aus Quimper aufgelegt oder das geflammte Steingut aus den Vogesen. Seitdem Camus diesen Vorboten der europäischen Zivilisation zum ersten Mal begegnet war, wuchs in ihm die Überzeugung, einmal an dem einzig richtigen Ort gewesen zu sein, an dem das Leben sich wie schlichte Töpferware formt, und diese wahren Reichtümer des Lebens verloren zu haben, als er seine Mutter verließ.

Das Lob der Armut ist ein riskantes intellektuelles Manöver. Camus weiß das. Er hat das erbärmliche, bedrückende Elend in der Kabylei gesehen. Er kennt die christlichen Mythen von den armen, aber aufrechten Menschen, die durchs Nadelöhr ins Himmelreich schlüpfen. Er sieht die Fallen der Doppelmoral, in die ein rundum versorgter Intellektueller gerät, der sich nach einer verlorenen Einfachheit zurücksehnt. Und dennoch ist er sich sicher: «In diesem Leben der Armut, unter diesen schlichten oder eitlen Leuten bin ich dem am nächsten gekommen, was mir als der wahre Sinn des Lebens erscheint.»[102]

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie
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