Sartre (II). Eine öffentliche Hinrichtung
Als Der Mensch in der Revolte am 18. Oktober 1951 bei Gallimard erscheint, fühlt sein Verfasser sich leer, verzweifelt. Er wohnt in einer neuen Wohnung in der Rue Madame. Dritter Stock, fünf Zimmer, ein Balkon zur Straße, Schattenseite. Zu keiner Tageszeit fällt ein Sonnenstrahl durch die Fenster der Hausnummer 29. Der mediterrane Lichtanbeter hat diese lichtloseste aller Wohnungen mit Hilfe der Gallimards gekauft. Francine spielt hier im dunklen Salon bis zu sechs Stunden täglich Johann Sebastian Bach auf dem Klavier. Die Kinder sind jetzt sechs Jahre alt, und Camus nennt sie, wenn er überhaupt von ihnen spricht, «meine Nebenwerke»[231].
Am 26. Oktober schreibt er an Bruder Char: «Ich bin, nachdem ich dieses Buch herausgebracht habe, in einem Zustand ‹luftiger› Depression.»[232] Er findet die Stadt wieder einmal frivol und ermüdend. Und dann fährt er fort, aus dem Stand, ohne Anlass: «Das allerschlimmste wäre, allein zu sterben und voller Verachtung.»
Man kennt die Klagen über die Stadt, das Exil, sein krankes Leben. Doch so schlecht wie jetzt ging es ihm noch nie. Zwei Jahre zuvor, 1949, hatte er sich zu einer Vortragstournee durch Südamerika hinreißen lassen. Rio de Janeiro, São Paulo, Iguape, Montevideo, Buenos Aires, Chile, wieder Buenos Aires, wieder Montevideo, wieder Rio. Alles in acht Wochen. Es ging ihm schlecht auf dieser Reise, er war traurig, lebensmüde und hatte nur eine einzige kurze Affäre. Danach war er todkrank, ein neuer Ausbruch der Tuberkulose, so heftig wie noch nie. Es folgten endlose Kuren, Landaufenthalte im Mittelgebirge und in der Provence, mal mit Francine, mal mit Maria oder allein mit dem Menschen in der Revolte – den er mehr oder weniger, nein, nicht auf dem Totenbett, aber doch im Krankenbett zu Ende schrieb. Camus ist verletzlich. Im Februar war André Gide gestorben, was ihn trotz allem tief berührte. Breton parierte Camus’ Angriff nach einem Vorabdruck des Kapitels über Lautréamont sogleich in den Cahiers du Sud und kanzelte ihn als moralisierenden und «vulgären» Kleinbürger ab, der Lautréamont weder gelesen noch verstanden habe. Der Angriff des Kollegen, den er selbst nicht geschont hat, bringt ihn völlig aus der Fassung. Er hält so etwas schlecht aus und hat, wie er in diesen Tagen an Grenier schreibt, so eine «kastilische Dimension»[233] in sich, die ihn wie einen verletzten Stier in der Wohnung auf und ab laufen lasse.
Die «kastilische Dimension» treibt ihn in den folgenden Monaten zu unzähligen Antwortbriefen an die verschiedensten Zeitungsredaktionen, die es gewagt hatten, missgünstige Artikel über seinen Essay zu veröffentlichen. 19. Oktober 1951: «Monsieur le rédacteur en chef». 18. November 1951: «Monsieur le rédacteur en chef». 28. Mai 1952: «Monsieur le directeur». Mai 1952: «Monsieur le rédacteur en chef». Juni 1952: «Monsieur». 30. Juni 1952: «Monsieur le directeur». Es folgen jeweils 3 bis 17 Druckseiten. Er lässt nichts auf sich sitzen. Punkt für Punkt werden die Gegner widerlegt. Er ist da furchtbar akkurat. Breton nennt er einen «Unwissenden», der Diskussionen auf einem «erbärmlichen» Niveau anzettele.[234] Dem Rezensenten der katholischen Zeitung Dieu vivant bescheinigt er, dass sein Beitrag «indiskutabel» und «vermessen» gewesen sei.[235] Als der Observateur sich herausnimmt, einen Kritiker Camus’ in einem Nebensatz lobend zu erwähnen, schickt der einen fünfseitigen Brief, in dem er richtigstellt, wie «abstoßend» und «verachtenswert» der Text dieses Kritikers gewesen sei.[236] Und so geht das weiter. Die Lehre aus der Résistance, dass Worte töten konnten, saß tief; Camus nahm die Angriffe auf sein Buch tatsächlich tödlich ernst.
In der Redaktion der Temps modernes weiß man nicht so genau, wie man mit diesem Rechthaber umgehen soll, der seine Widersacher leserbriefweise als «Lügner» und «Verleumder», sich selbst jedoch als jemand bezeichnete, der «sorgsam nach der Wahrheit unserer Zeit und der Freiheit für uns alle sucht»[237]. Sartre möchte am liebsten gar nicht erst eine Kritik des Revolte-Essays bringen. Niemandem in der Redaktion gefällt das Buch, aber es hat auch niemand Lust, einen Verriss zu schreiben. Am Ende hält Sartre es für noch unhöflicher, das Buch überhaupt nicht zu besprechen, und betraut den 29-jährigen Mitarbeiter Francis Jeanson mit der Sache – der mache das zumindest höflich, hieß es.
Im Mai 1952, ein dreiviertel Jahr nach der Publikation des Buches, erscheint Jeansons Kritik in den Temps modernes. Sie ist tendenziös, phrasenhaft und nicht wirklich scharf. Sie verübelt Camus seine guten Kritiken in der bürgerlichen und rechten Presse, bescheinigt ihm eine «gewisse Inkonsistenz des Denkens», erregt sich über seinen «vagen Humanismus», ohne seine Parteinahme für den französischen Anarcho-Syndikalismus und die russischen Sozialrevolutionäre überhaupt zu erwähnen, und belehrt ihn darüber, dass es unmöglich sei, aus der Geschichte auszusteigen («der ‹Lauf der Welt› ist zugleich unser eigenes Werk und unser Gefängnis»). Die Kritik lag ganz auf der prosowjetischen Linie der Temps modernes, deren Vordenker Sartre und Merleau-Ponty sich darin einig waren, den sowjetischen Terror zähneknirschend hinzunehmen, solange er den in der Rue Bonaparte für notwendig erachteten geschichtsphilosophischen Prinzipien entsprach. Der junge Kollege schloss mit der Kritikerphrase, Der Mensch in der Revolte sei ein «großes misslungenes Buch».[238]
Camus hätte diese kleine misslungene Kritik in einer Pariser Intellektuellenzeitschrift mit beschränkter Reichweite auf sich beruhen lassen können, und sie wäre längst vergessen. Doch das kann er nicht. Es herrscht Kalter Krieg. Man versucht, ihn ins bürgerliche Lager abzudrängen, man macht aus ihm einen mit dem Rückzug aus der Gegenwart kokettierenden Hampelmann, man unterschlägt seinen Kampf für die anarchistische Linke, man tut so, als gäbe es links von der Mitte nichts als orthodoxen Marxismus. Camus wehrt sich – «Monsieur le directeur» – auf 17 Druckseiten. Er stellt richtig, er ergänzt, er zitiert sich selbst, von seinem Angreifer spricht er ausschließlich als «der Rezensent», «der Mitarbeiter», «der Redakteur». Obwohl der Brief an Sartre adressiert ist, wendet er sich nie direkt an ihn. Camus hat zwar recht, doch er bekommt es nicht. Alles in allem bleibt es ein glückloser Schlagabtausch, ohne Fortüne auf beiden Seiten.
In dieser verfahrenen Lage greift Sartre ein und entscheidet die Partie für die nächsten fünfzig Jahre für sich. Seine Antwort ist beleidigend, glänzend formuliert und eine strategische Meisterleistung. Sartre wechselt sofort das Register und desavouiert Camus mit seinem steifen Monsieur-le-directeur-Gehabe: «Mein lieber Camus, unsere Freundschaft war nicht einfach, aber ich werde sie vermissen».[239] Sein Angriff ist raffiniert und überaus wirksam, denn er richtet sich nicht nur gegen ein seiner Ansicht nach verunglücktes, wirres Buch, sondern gegen die Voraussetzungen eines ganzen Werks, das sich zu Unrecht anmaße, im Namen der Armen und Aufrechten zu sprechen. Dieser angemaßten Bruderschaft der Aufrechten gehöre in Wahrheit nämlich niemand außer Camus selber an. Er, Sartre, könne nun leider so gar nichts anfangen mit Camus’ «mittelmeerischem oder sonstigem Maß» und noch weniger mit seinen «skandinavischen Republiken». Darüber hinaus missfalle ihm der pompöse Ton, der ihn ans Schwurgericht denken lasse, ohnehin könne Camus einer Republik der «schönen Seelen» sicher als Chefankläger dienen. Und überhaupt: Woher nehme Camus eigentlich das Recht, über Jeanson zu reden wie über ein Ding, dessen Namen man nicht kennt? Woher diese Überheblichkeit?
Und dann, nachdem er zwölf Seiten lang Anlauf genommen hat, holt Sartre zu dem finalen Schlag aus, von dem Camus sich in der öffentlichen Wahrnehmung zu Lebzeiten nicht mehr erholen wird: «Und was, wenn Ihr Buch einfach nur von Ihrer philosophischen Inkompetenz zeugen würde? Wenn es voller eilig und aus zweiter Hand zusammengesuchter Erkenntnisse wäre? […] Wenn Sie nicht besonders gut denken könnten? Wenn Ihre Gedanken vage und banal wären?»[240] Camus lasse nicht einmal die Diskussion über seine Werke zu, akzeptiere nur Häupter, die sich vor ihm verneigten, ziehe sich in ein Universum nicht zu hinterfragender Werte zurück und so weiter. Es folgen noch einige ausgesuchte Frechheiten, etwa die, dass er, Sartre, und Hegel immerhin gemeinsam hätten, von Camus nicht gelesen worden zu sein. Er zögere jedoch, Camus die Lektüre von Das Sein und das Nichts zu empfehlen, da sie ihm wahrscheinlich zu mühsam würde.
Im Großen und Ganzen wiederholte Sartre sehr viel eloquenter als sein Vorgänger den Vorwurf, Camus entziehe sich den Kämpfen der Gegenwart. Er erinnerte an den Autor des Sisyphos, an den Résistancekämpfer, an den Verfasser der Briefe an einen deutschen Freund und resümierte, dass Camus sich der Geschichte stets nur widerwillig gestellt habe. Doch die Geschichte habe ihm eine einmalige Chance eröffnet: Der gemeinsame Kampf gegen die Deutschen habe sich mit seinem Kampf gegen den Fatalismus überlagert. Sartre versäumte nicht, darauf hinzuweisen, dass es nur der Zufall («un concours de circonstances») war, der Camus in die Rolle des Schriftsteller-Helden seiner Zeit katapultiert habe. Doch auch wenn man ihm die fatalistische Ineinssetzung des Absurden, der Pest und der Deutschen noch habe durchgehen lassen, so sei der Kampf gegen das Absurde im Reichenvorort Passy nun nicht derselbe wie im Arbeiterbezirk Billancourt, und auch die «Wiederentdeckung des Körpers», die Camus predige, sei für den geschundenen Arbeiter ein Hohn. Camus’ entscheidendes Argument, wonach der Marxismus in den Lagern der Sowjetunion gescheitert war, wurde von Sartre im Vorbeigehen abgetan: «Ja, Camus, ich finde genau wie Sie die Lager unzulässig: Aber genauso unzulässig finde ich den Gebrauch, den die sogenannte ‹bürgerliche Presse› von ihnen macht».[241]
Am Ende verkündet Sartre sein Urteil, es wird die Höchststrafe: Der Angeklagte wird zum Tode verurteilt. «Ihre Persönlichkeit, die wirklich und lebendig war, solange sie sich von den Zeitläuften ernährte, ist nun nur noch eine Fata Morgana, 1944 war sie die Zukunft, 1952 ist sie die Vergangenheit.»[242] Camus sei Vergangenheit, weil nichts von dem, worauf er sich berufe, noch vorhanden sei, die Natur, die innere und die äußere, habe sich aufgelöst. Sartre sieht voraus, dass Camus mit seiner Moderne-Kritik darauf zustrebt, «uns zu verlassen» und sich in die «Einsamkeit zurückzuziehen» oder zumindest in eine «Zivilisation, die noch auf einem niedrigeren technischen Stand» verharrt. Richter Sartre erlaubt dem Verurteilten generös, noch einmal in Berufung zu gehen, die Seiten seiner Revue ständen ihm offen. Er, Sartre, werde sein Urteil jedoch nicht mehr revidieren.
Dieser Text war eine Ungeheuerlichkeit. Wer ihm recht gab, und die gesamte linksorthodoxe Intelligenz gab ihm recht, entzog Camus jede weitere öffentliche Existenzberechtigung. Sartre hatte seinen mächtigsten Gegner auf 20 Zeitungsseiten matt gesetzt und aus dem Feld geschlagen. Paris lag von nun an für viele Jahrzehnte ihm allein zu Füßen. Simone de Beauvoir behauptete später, der Camus, den sie einmal gern hatte, habe zu dieser Zeit ohnehin nicht mehr existiert.
Camus erholte sich von diesem Schlag nicht mehr. Er schrieb noch einen langen persönlichen Rechenschaftsbericht zum Revolte-Essay, der in der Schublade liegen blieb und erst posthum veröffentlicht wurde. Und eine indirekte Antwort auf Sartre fand sich 1955 in dem zitierten Brief an Roland Barthes, der die Pest viele Jahre nach ihrem Erscheinen verriss und dabei Sartres Argument wiederholte, Camus trete «aus der Geschichte aus» und verschließe sich in einer überzeitlichen Isolation. Der neuerlich Angegriffene wehrte sich scharf und meinte eigentlich Sartre, wenn er schrieb: «Man kann mich nicht beschuldigen, die Geschichte zu verleugnen, indem man gleichzeitig behauptet, die einzige Bedingung, unter der man in die Geschichte eintritt, bestehe darin, die Tyrannei zu rechtfertigen». An Barthes gerichtet, fügte er begütigend hinzu: «Sie haben das nicht gemacht, ich weiß.»[243]
Die Bugwellen dieses Zusammenstoßes der beiden Existenzialisten blieben noch für mindestens zwei Generationen von Intellektuellen spürbar, die zu wissen meinten, dass Camus zwar ein guter Schriftsteller, aber ein schlechter Denker gewesen sei. Am Ende hat die Geschichte Sartre unrecht gegeben. Und Camus in allem bestätigt.
Nach 1989 begann man in Paris zwar langsam, Camus’ Antitotalitarismus zu würdigen, man ergriff jedoch weiterhin für Sartre Partei, wenn es darum ging, Camus’ Natur- und Geschichtsauffassung zu demontieren und den Zusammenhang beider zu bestreiten. Alles in allem blieb man dabei: Mit Sartre zu irren war besser, als mit Camus recht zu behalten.[244]
Skandalös lange hat es gedauert, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass es nicht nur falsch war, Camus’ Antikommunismus, sondern dass es ebenso falsch war, sein Naturverständnis, seinen politischen Anarchismus und seine Wachstumskritik für rückständig und die Bewohner von Billancourt zum einzig zulässigen Maßstab der Welterkenntnis erklärt zu haben. Es ist aber nie zu spät, ein falsches Urteil zu revidieren.