Sonnenanbeter
Zum Strand sind es ein paar hundert Meter. Die Hitze verlangsamt die Bewegungen. Mittags steht hier die Zeit still. Sobald die Kinder aus Belcourt die Siesta neben den schnarchenden Verwandten hinter den geschlossenen Jalousien überstanden haben, rennen sie los, zum nächsten Strand, durch ein Gewirr aus Wagen, Eseln, Schafen, Hunden, schreienden Händlern und rasselnden Straßenbahnen.
Von der Rue de Lyon aus liegt die Plage des Sablettes am nächsten. Kein weißer Sand, keine unbetretene Wildnis erwartet sie hier. Nur ein grauer Streifen, begrenzt von einer Steinbalustrade, eingefasst von zweistöckigen Holzhäusern, Cafés und Tanzlokalen mit zum Meer offenen Tanzböden, beherrscht von alles überragenden Strommasten, bevölkert von Pommes-frites-Verkäufern, Damen mit Strohhüten und langen steifen Röcken, Kindern und Fischern, die, auf den Felsen hockend, geduldig auf ihren Fang warten. Am Horizont ziehen die großen Linienschiffe in Richtung Frankreich, das noch keiner von ihnen gesehen hat. Man hört aus der Ferne Sirenen.
Kaum haben die Jungen den Strand erreicht, sind sie nackt und stürzen ins Wasser, auf dem die Abfälle schaukeln. Das Schwimmen haben sie sich mit Hilfe von Korkgürteln selber beigebracht. Jetzt paddeln sie wie junge Hunde dem offenen Meer entgegen, johlen, prusten, wetteifern darin, wer am längsten unter Wasser bleiben kann. Bald wälzen sie sich im grauen Sand, lassen sich trocknen, rennen zurück ins Meer und vergessen über diesen Freuden die Zeit.
Die Dämmerung in Nordafrika dauert nicht lange. Kaum brennen die ersten Gaslaternen, wird es Nacht, und die Jungen hasten in der einbrechenden Dunkelheit nach Hause. Meistens kommen sie zu spät. In der Rue de Lyon enden solche Tage dann mit der Peitsche. Hiebe auf Beine und Hintern sind der Preis für die Stunden des Glücks. Camus muss der Großmutter den Ochsenziemer selbst bringen.
Die Sommertage am Meer in Algier hat Camus später – lungenkrank und den Tod vor Augen – als Urbilder des Glücks beschrieben und womöglich eine weit weniger vollkommene Wirklichkeit ein weiteres Mal überschrieben. Die Nachmittage an der grauen überfüllten Plage des Sablettes werden für ihn zum «Prachtvollsten, was die Welt zu geben hat». Camus schwärmt von dem «unersetzlichen Reichtum» und der «Herrlichkeit des Lichts», das sich über die Gassenjungen ergießt wie der Segen Gottes.[23] Je ferner und unerreichbarer ihm diese Tage werden, umso mehr wird er sie preisen.
In seinen Erinnerungen scheint in Algier immer die Sonne. Der Sommer ist heiß und endlos, die Luft riecht nach Meer, Salz und nackter Haut. Es gibt keinen Winter. Die langen, feuchten Regenmonate, in denen das Kind, gelähmt von Langeweile, wie ein gefangenes Tier den Esstisch umkreist, sind im Rückblick wie ausgelöscht. Noch in seiner Nobelpreisrede wird Camus von dem lichtdurchfluteten und glücklichen Leben schwärmen, das er als Kind führte und dessen emphatische Lesart er früh festlegte.
Die Schattenseiten Algiers konnten Camus allerdings kaum verborgen geblieben sein. Algier ist eine Stadt unter europäischer Herrschaft. Und Europa rüstet sich für das moderne Maschinenzeitalter – und für einen neuen Weltkrieg. Der Stadtteil Belcourt wandelt sich, neben den Arbeiterhäusern, in denen das einfache Leben gelebt wird, entstehen Fabriken und Lagerhäuser. Die Bewohner des «Quartier pauvre», wie Camus sein Viertel nennt, verschleißen schnell.
«Sie heiraten jung, sie beginnen sehr früh zu arbeiten und erschöpfen die Erfahrung eines ganzen Lebens innerhalb von zehn Jahren. Ein Arbeiter von dreißig Jahren hat bereits seine ganzen Trümpfe ausgespielt und wartet, umgeben von seiner Frau und seinen Kindern, auf sein Ende. Sein Glück war heftig und kennt kein Erbarmen. Genauso sein Leben.»[24]
Der Junge aus Belcourt, der dabei ist, dem harten Dasein, über das er schreibt, auf dem ersten Bildungsweg zu entkommen, schiebt die Verantwortung für den rasanten Verschleiß der Algerier auf die Sonne, das Klima und das im Übermaß genossene Glück. Über die Lebensbedingungen im sich atemlos industrialisierenden Europa verliert er kein Wort. Auf seinem Weg zum Meer dürfte der Schüler die Fabriken und die Stromtrassen am Strand von Algier gesehen haben. Doch einen Zusammenhang zwischen der Düsternis und Enge in der Rue de Lyon und der Industrialisierung am Beginn des 20. Jahrhunderts hat er nicht hergestellt. Die Abhängigkeit der kleinen von der großen Welt war in seiner Familie nicht augenfällig. Die Mutter putzte für die vermögenden Kolonisten, die beiden Onkel verkauften derselben Klientel den Sonntagsbraten oder stellten in ehrbarer Handarbeit die Fässer her, in die sie ihren Wein abfüllen konnte. Und der junge Mann dieser Familie sucht nach einer einfachen Formel des Glücks, mit der er festhalten kann, was er gerade verliert.
Mit dreizehn Jahren soll für Camus die Zeit der Strandsommer vorbei sein. Die Großmutter verlangt von ihm, in den Ferien zu arbeiten. Er ist empört: Für das bisschen Geld, das er mit diesen Aushilfsarbeiten verdiene, könne er sich nicht den millionsten Teil der Schätze kaufen, die der Sommer am Strand für ihn bereithalte. Wozu brauche man Geld, wenn man in den einfachen und unmittelbaren Freuden den ersten und letzten Lebenssinn finde? Camus revoltiert gegen das Prinzip Befriedigungsaufschub, das die westliche Welt in Gang hält.
Ein Sketch aus dem Tagebuch des Jahres 1937 veranschaulicht die Rangordnung der Dinge, die für ihn zählen:
«– Und was ist Ihr Beruf?
– Ich zähle.
– Wie bitte?
– Ich zähle. Ich sage: Eins, das Meer, zwei, der Himmel (oh, wie schön!), drei, die Frauen, vier, die Blumen (oh, wie ich mich freue!).
– Das wird ja mit der Zeit albern.
– Du liebe Zeit, Sie vertreten die Meinung Ihres Morgenblattes. Ich vertrete die Meinung der Welt. Wenn sie in Licht getaucht ist, wenn die Sonne brennt, habe ich Lust zu lieben und zu umarmen, in Körper wie in Lichter hineinzugleiten, in Sonne und lebendigem Fleisch zu baden. Wenn die Welt grau ist, erfüllen mich Wehmut und Zärtlichkeit. Ich habe das Gefühl, besser zu sein, fähig, zu lieben, ja sogar zu heiraten. Im einen wie im anderen Fall hat das keine Bedeutung.»[25]
Der Weltliebhaber verabscheut das Fortschrittsethos – verzichte auf das einfache Glück, das du jetzt genießen kannst, arbeite emsig und vertraue darauf, dass du morgen durch ein größeres entlohnt wirst. Das Meer, der Himmel, die Sonne, die Frauen, die Blumen – das reicht ihm, solange das Wetter gut ist (nur bei schlechtem Wetter wäre er bereit, langfristige Lebensinvestitionen zu tätigen und zum Beispiel zu heiraten). Der Abonnent des Morgenblattes wird sich damit nicht zufriedengeben, er verlangt bei jedem Wetter nach Sicherheit, Statussymbolen, Bequemlichkeit und Belohnung für seinen Verzicht. Camus hält dagegen: Warum sollte man für den Fortschritt einen so hohen Preis zahlen, wenn das Glück vom Himmel scheint und alle versorgt? Er möchte ihn nicht zahlen. 40 Stunden Arbeit, Heirat, Büro – das ist kein wirkliches Leben.
Der Mensch an den Küsten des Mittelmeers, der – jedenfalls nach Ansicht des Mittelmeerbewohners Camus – alle Freuden und alle Leiden mit ganzer Kraft und ganzem Herzen genießt, ist sein Vorbild. Niemals würde dieser Sommermensch den trüben Ideen des Aufschubs, des Sparens, der Sublimation und des Triebverzichts im Namen einer kalten Vernunft folgen.