Ein neues Zeitalter

Als Camus 1947 aus den Ferien nach Paris zurückkehrt, ist er Bestsellerautor. Die Pest findet reißenden Absatz. Zum ersten Mal in seinem Leben erobert er ein Massenpublikum; es ist ein zweischneidiger Erfolg. Vielen Lesern im Nach-Vichy-Frankreich kam die entlastende Lesart, die den Pestbazillus zum Nationalsozialismus und den heroischen Arzt zum Kämpfer der Résistance erklärte, sehr gelegen. Die Pest war der erste Roman nach der Erniedrigung der Kollaboration, der zumindest die Möglichkeit nicht ausschloss, ein nationales Wir ohne Schuld zu rekonstruieren: Wir konnten nichts dafür, es war eine Krankheit, wie sie Unschuldige jederzeit treffen kann.

Der Autor selbst nimmt in Paris sein mondänes Leben wieder auf. Diesmal heißt sie Mamaine, eine junge Engländerin, obendrein die Frau von Arthur Koestler. Sie begleitet ihren Mann ins Lipp oder in die Bar des Palais Royal, wo sie jetzt alle tanzen: Sartre mit Madame Camus, Simone de Beauvoir mit Arthur Koestler und Camus mit Mamaine. Die frisch Verliebten fahren gemeinsam nach Avignon. Es folgen wieder einmal leidenschaftliche Briefe: «Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der ich Dich vergesse».[206]

Seit Herbst 1946 litt der Combat unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die alte Auflage von 180000 Exemplaren war nicht mehr zu halten. Man suchte einen Käufer, und Pascal Pia zog sich angewidert von den marktwirtschaftlichen Manövern der Zeitung zurück – er hätte das Blatt lieber eingestellt, als Kompromisse mit irgendwelchen Eigentümern zu schließen.

Camus, der sich aus der täglichen Mitarbeit seit einiger Zeit heraushielt, übernahm für kurze Zeit die Redaktion, um zu retten, was zu retten war. Viel war es nicht, die neuen Geldgeber beschnitten die redaktionelle Freiheit der Zeitung, und auch Camus gab den Kampf um den Combat nach kurzer Zeit verloren. Als schließlich das Gerücht kursierte, Pia strebe einen gut bezahlten Posten in der Regierung de Gaulles an, und niemand diesem Gerede entgegentrat, fühlte er sich auch von seinem Freund im Stich gelassen. Der letzte Brief, den Camus am 24. April 1947 an Pascal Pia, Boulevard Magenta 137, Paris, schrieb, war die Bestätigung der Kündigung und das dünnlippige Ende einer großen Freundschaft:

COMBAT

Von der Résistance zur Revolution

100, Rue Réaumur, Paris – Gut. 8060

 

Mein lieber Freund,

Ich habe Deinen eingeschriebenen Brief vom 18. des laufenden Monats erhalten, in dem Du Deine Führungsaufgaben in der Gesellschaft mit beschränkter Haftung Combat niederlegst. Ich bin einverstanden, diese Kündigung ab sofort für gültig zu erklären und sie von der in den Statuten festgesetzten Kündigungsfrist von drei Monaten auszunehmen.

Freundschaftlich,

A. Camus

Im Nachhinein wird Pia über ihre gemeinsame Zeit voll Verbitterung sagen: «Ich habe immer gedacht, dass es etwas Besseres als den Journalismus gibt. Für Camus war er nie das Ergebnis einer Entscheidung, sondern bloß ein Unfall.»[207]

Die Freundschaft zu Pascal Pia und die Träume von einer Zeitung als moralischer Anstalt zerplatzten nicht zufällig beide just in dem Moment, als Frankreich in die temperiertere geschichtliche Zone der Vierten Republik eintrat. Aus dem Zentralorgan der Stunde null müsste nun eine Zeitung werden, die ihren Platz in der sich neu begründenden politischen Landschaft findet. Dem ehemaligen Résistance-Blatt fehlte es in der sich konstituierenden Vierten Republik jedoch an einer zeitgemäßen politischen Kontur. Der Moralismus der ersten Nachkriegswochen reichte nicht mehr aus, um der Vielstimmigkeit der neuen Gegenwart gerecht zu werden. Pia, der Held des kompromisslosen Widerstandes, packte Thermoskanne und Pantoffeln, die er stets in den Räumen des Combat vorrätig hielt, in dem historischen Augenblick, in dem die Zeitung ins unübersichtliche Gelände der modernen Zivilgesellschaft geführt werden musste. Camus tauchte unter in den Wogen des einsetzenden Starkults, den er mit seinem Roman im Geiste des puristischen Vorkriegs-Nihilismus noch einmal entfachen konnte. Beide weichen der Aufgabe aus.

Sowohl Pia als auch Camus, deren Väter im Ersten Weltkrieg gefallen waren, hatten sich in den dreißiger Jahren radikalisiert und waren auf ihre jeweilige Weise vom Kommunisten und Anarchisten zum Moralisten geworden. Der Übergang von den pathetischen Spannungen der Kriegs- und der ersten Nachkriegszeit in die Konsens- und Kompromissdemokratie der späten vierziger und der fünfziger Jahre stürzt beide in eine psychische und politische Krise, auf die sie nicht vorbereitet sind. Die Helden der Résistance müssen sich neu erfinden. An dieser Schwelle trennen sie sich voneinander und vom Combat – am 1. Juni 1947 verkaufen sie ihre Aktionärsanteile an die neuen Eigentümer Claude Bourdet und Henri Smadja. Pia verzichtet auf den ihm zustehenden Teil der Kaufsumme. Und das war’s. Die beiden sehen sich nie wieder.

Camus stellt im November 1948 im Combat (der bis ins Jahr 1972 fortbestehen wird) in einer letzten Artikelserie seine Vision von der Neuordnung Europas vor. Unter dem Titel «Weder Opfer noch Henker» tritt er dafür ein, die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen.

«In zehn Jahren, in fünfzig Jahren wird die Vorherrschaft der westlichen Zivilisation nicht mehr selbstverständlich sein. Umso mehr muss man jetzt schon daran denken, ein Weltparlament zu eröffnen, auf dass sein Gesetz zum universellen Gesetz werde».[208]

Der ehemalige Leitartikler schien zu wissen, wo Frankreichs Platz in der neuen globalen Weltgemeinschaft zu sein habe. Seinen eigenen Platz in der französischen Nachkriegsgesellschaft fand er nicht.

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie
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