Der glückliche Tod

Es wird ein grandios gescheitertes Buch werden, mit allen Reizen, Verrücktheiten und Gefährdungen eines Erstlings; glänzend geschrieben, direkt, brutal, lyrisch, überschwänglich und hoffnungslos überladen. Camus wird es niemals veröffentlichen. Nach einigen Monaten, in denen er die Abfolge der Kapitel immer wieder neu variiert, Episoden einfügt und tilgt, bricht er die Arbeit daran ab und wendet sich seinem neuen Projekt zu, dem Fremden. Als der Romantorso 1971 aus dem Nachlass publiziert wird, entdeckt man in Der glückliche Tod ein autobiographisch inspiriertes Buch, in dem Camus ohne die Diskretion literarischer Maskierung von sich selbst erzählt. Der Mersault dieses ersten Romans ist genauso unmittelbar Camus wie es ein Vierteljahrhundert später Jacques Cormery, der Held seines letzten Romanmanuskripts Der erste Mensch, sein wird.

Camus arbeitet ernsthaft und gründlich – in den Abend- und Nachtstunden – an seinem Roman. Tagsüber sitzt er im Büro des meteorologischen Instituts von Algier. Aus dem Dandy ist ein Angestellter mit einer 40-Stunden-Woche geworden. Seinem Helden ergeht es nicht besser. Im Roman beschreibt er das Büro, in dem Mersault sich durch die Tage quält, als eine «Urnenhalle, in der die toten Stunden verwesen».[50] Abends kommt er nach Hause, brät sich Eier und isst sie aus der Pfanne. Er schläft mit dieser oder jener Frau, ohne große Sentimentalitäten. Er teilt die Misogynie seines Autors und preist die «großartige Zwecklosigkeit eines Frauengesichts»[51] – auf die Zeichnung seiner Frauengestalten verwendet Camus von Anfang an keine besondere Sorgfalt. Sie sind irgendwie immer alle gleich, benehmen sich gleich und wollen das Gleiche: heiraten. Ob Mersault mit seinen Freundinnen in Algier oder in Wien mit einer Prostituierten «auf die korrekteste Weise» schläft, spielt keine Rolle. In der Liebe zwischen Mann und Frau verläuft alles nach einem unveränderlichen Muster: Der Mann ist «erfüllt von der zärtlichen Zuneigung, die man einem niedlichen Hund entgegenbringt»[52], das Hündchen wartet auf den Antrag. Camus macht sich keine Illusionen mehr über die Liebe. In keinem seiner Romane wird sie einen bedeutenden Auftritt haben.

Die Geschichte des Mörders Mersault liest sich wie ein Drehbuch zu Camus’ künftigem Leben. Beide entstammen ärmlichen Verhältnissen in Belcourt. Beide werden zu unersättlichen Frauenhelden. Beide kommen zu einigem Geld. Beide zieht es nach Mitteleuropa, und beide verzweifeln an dessen Lebensfeindlichkeit. Beide genießen die Gesellschaft von schönen Frauen und freundlichen Katzen im «Haus vor der Welt» auf den Hügeln von Algier. Beide kaufen sich an ihrem Lebensende ein Haus in der Sonne des Mittelmeeres, um das einfache Dasein ihrer Jugend wiederzufinden. Beide sterben kurz darauf – zu jung. Auch Mersault ist ein Aufsteiger, der den wortlos verbrachten Abenden unter dem Licht der Petroleumlampe in der kleinen Dreizimmerwohnung seiner Mutter entkommen ist. Sein sozialer Aufstieg verdankt sich dem Mord an einem lebensmüden Greis, mit dessen Vermögen er sich von seiner Herkunft loskauft. Er ist der erste der vielen Mörder, die das Werk Camus’ bevölkern.

Camus hat den Text verworfen, den ungezähmten Stil, den er hier zum ersten Mal erprobt hat, wird er jedoch weiterverfolgen: «Es gilt, einfach zu sein, wahr, keine Literatur – sich hinnehmen und sich hingeben».[53]

Niemals wird Camus sich leidenschaftlich für irgendeine Art der Programmkunst interessieren. Gleichwohl ist sein früher antiliterarischer Impuls eine ästhetische Spätfolge des Ersten Weltkrieges. Er gehört ähnlich wie der Surrealismus und der Dadaismus zu einer nackten Ästhetik von Kriegsversehrten, welche sich neben der kostbar gewandeten Vorkriegsliteratur wie ein Waisenkind ausnimmt. Die Kahlschlagliteratur, mit der die deutsche Literatur den Zweiten Weltkrieg beantworten wird, entwickelt sich in Frankreich bereits nach dem Ersten Weltkrieg und verschafft Europa einen einzigartigen literarischen Neubeginn. Paris wird nach dem Ersten Weltkrieg, in den Gedichten von Paul Éluard, zur «Hauptstadt der Schmerzen»[54].

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie
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