Ein Algerier in Paris
Paris ist kalt und sonnig. Die Männer sind an der Front. Die Frauen flanieren auf den Boulevards. Simone de Beauvoir sitzt im Café Aux deux Magots, im Dôme, in der Rotonde oder in der Brasserie des Hotels Lutétia und schreibt täglich an Sartre, wobei sie ihre neu erworbenen Haarbänder mit derselben Akkuratesse vermerkt wie ihre Liebhaber und Liebhaberinnen. Sie geht ins Theater, zum Friseur, trinkt Cocktails in der Bar des Dôme. Im Hintergrund, immer näher kommend, der Krieg.
Man kann sich dieses Paris heute beinahe nur in Schwarzweiß vorstellen. Lange Mäntel, ernste Gesichter, Intellektuelle, die an den Caféhaustischen zusammenklumpen wie Rugbyspieler kurz vor dem Anpfiff. Die Busse fahren, die Geschäfte haben geöffnet, Vorlesungen werden gehalten, Bücher und Zeitungen erscheinen, in der Pariser Oper gibt man die «Zauberflöte». Aber es liegt etwas Unwirkliches in der Luft – vielleicht ist dies alles nur eine Kulisse, die jederzeit zusammenklappen kann.
Am 16. März 1940, einem Samstag, kommt Albert Camus in Paris an. Er weiß noch nicht, dass es endgültig ist. Er weiß noch nicht, dass Paris ihn erobern und nicht mehr loslassen wird. Noch glaubt er an einen vorübergehenden Aufenthalt. Er hält sich für einen Mann des Mittelmeers und der Sonne. Er will zurück. Er ist verliebt in Francine, die in Oran geblieben ist, Klavier spielt und Mathematik unterrichtet. Er ist verliebt in Yvonne, die in Algier lebt und mit der er gerne nach Portugal reisen würde. Er ist verliebt in seine Jugend, die gerade zu Ende gegangen ist.
Am Sonntag regnet es in Strömen. Im Radio spielt man «Sérénade sans espoir». Camus nimmt sich ein Zimmer im Hôtel du Poirier in der Rue Ravignan. Pascal Pia hat eine Arbeit für ihn gefunden, die die geistige Lähmung, die Paris in Kürze befallen wird, schon vorwegnimmt: Er wird Redaktionssekretär bei der auflagenstarken, regierungstreuen Boulevardzeitung Paris-Soir. Redaktionssekretär heißt Umbruch erstellen, Bilder aussuchen, Schriftgrößen bestimmen und: keine Zeile schreiben, sich nicht einmischen, sich stumm und taub stellen. Camus verdient 3000 Franc monatlich und darf um 11.30 Uhr nach Hause gehen. Er vergräbt sich in dem Zimmer seines heruntergekommenen Hotels auf dem Montmartre, lässt sich von Francine Manuskripte nachschicken, lebt wie der Fremde, an dem er in diesem Frühjahr weiterschreibt. Er fühlt sich verlassen, auch gedemütigt. Was soll er in Paris? Im Tagebuch vermerkt er:
«Was soll dieses plötzliche Erwachen – in diesem dunklen Zimmer – begleitet von den Geräuschen einer unvermittelt fremd gewordenen Stadt? Und alles ist mir fremd, alles, und kein Mensch, der zu mir gehört, keine Stätte, wo diese Wunde sich schließen könnte. Was tue ich hier, welchen Zusammenhang haben diese Gebärden, dieses Lächeln? Ich bin nicht von hier – auch nicht von anderswo. Und die Welt ist nur noch eine unbekannte Landschaft, in der mein Herz keinen Halt mehr findet. Fremd, wer könnte wissen, was dieses Wort bedeutet?»[117]
Dabei wird es im Großen und Ganzen bleiben. Er ist nicht von hier. Er wird sich in Paris vom ersten bis zum letzten Tag unwohl fühlen. Egal, wie viele Frauenherzen er in dieser Stadt brechen wird, egal, wie viel Erfolg, wie viele Weggenossen und Freunde er hier finden wird in den zwanzig Jahren, die ihm bleiben, die er in Paris bleiben wird. Er ist in «der Welt» angekommen, und die Welt ist ein Exil, fremd, unbekannt und kalt.
Sartre und Beauvoir lieben Paris. Es ist das warme Wasser, in das sie täglich eintauchen, die einzige Luft, in der sie atmen können. Soldat Sartre sitzt im Frühjahr 1940 an der Front auf seiner Wetterbeobachtungsstation im Truppenabschnitt 108 und schnappt begierig nach jeder kleinsten Nachricht aus dem vertrauten Habitat: «Erzählen Sie mir immer alles ganz genau, es ist ungeheuerlich, wie mich das interessieren kann», bittet er Simone de Beauvoir. Und sie schreibt ihm, oft dreimal täglich. Das spätere Vorzeigepaar, das bald gemeinsam mit Camus die weltbekannte Marke des Pariser Intellektuellen prägen wird, bewegt sich in Paris wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre fühlen sich in der Urbanität der französischen Metropole so wohl, dass sie ihr Leben auf den Pariser Straßen, in den Pariser Cafés, in der Pariser Öffentlichkeit verbringen und im Übrigen im Hotel oder in bescheidenen Appartements nächtigen.
Auch in den Romanen von Simone de Beauvoir spielt Paris – seine Theater, seine Boulevards, sein Regen, seine nervöse, menschendichte Stimmung – die Hauptrolle, ohne sie liefen alle amourösen Verwicklungen, die endlosen Debatten und Konflikte der eigentlichen Handlung ins Leere. In seinen Reportagen über die besetzte Hauptstadt spricht Sartre von Paris wie von seinem besten Freund: Wenn Paris sich erhebt, wenn Paris sich schlafen legt, wenn Paris um seine Freiheit kämpft. Paris ist für seine Schriftsteller seit jeher mehr als eine Stadt. Es ist eine Lebensform und das Nationaltheater, in dem die französische Kultur gespielt wird.
Doch was ist Paris für Camus, der im Alter von 26 Jahren gerade erst beginnt, ein Pariser Schriftsteller zu werden? Im Tagebuch findet er ein hartes, magisch schönes Wort für die graue Stadt an der Seine: Sie sei «für alle Zeit die einzig benutzbare Wüste».
Es ist ein neuer Versuch. Nach den Ausschweifungen unter der brennenden Sonne des Mittelmeers (in Noces), nach den Ausflügen ins Land einer wilden, dunklen Grausamkeit (in Caligula) nimmt Camus Fühlung auf mit dem verregneten 20. Jahrhundert der vereinsamten Angestellten, ihren hastigen Mahlzeiten, ihren leeren Sonntagen, der Hässlichkeit ihres Lebens. Paris ist die Hauptstadt einer der führenden Industrienationen der Welt. Und Camus ist empfänglich für den Preis, mit dem dieser Aufstieg bezahlt wird. Die Geschichte des «Fremden» ist nicht nur eine philosophische Erzählung über das Absurde, es ist auch das Porträt einer modernen Angestelltenseele, die allein ist, arbeitet, schläft und isst, um wieder zu arbeiten.
Es gibt allerdings noch etwas, das Camus in Paris zum Fremden werden lässt. Zum ersten Mal begegnet er einer der großen alten Hauptstädte des Christentums und gerät – im Geist eines rein alltagspragmatischen Katholizismus erzogen, aber im Herzen mehr heidnisch-griechisch als römisch-katholisch – auf unbekanntes Hoheitsgebiet. Paris tritt dem algerischen Einwanderer entgegen als eine Stadt der «gekreuzigten und ausgepeitschten Leiber», die den Körper und seine Begierden unter steifen Kleidern begräbt. Für das nervöse Reizklima der katholischen Kultur, die zwischen Reinheitsideal und Libertinage, Orthodoxie und Entgrenzung, Frömmigkeit und Blasphemie zerrissen ist, wird Camus immer unempfänglich bleiben. In den Tagen, in denen das Paris-Kapitel seines Lebens beginnt, notiert er im Tagebuch:
«Reißen wir die letzten Seiten des Evangeliums heraus, so wird uns eine menschliche Religion geboten, ein Kult der Einsamkeit und der Größe. Ihre Bitterkeit macht sie natürlich unerträglich. Aber hier liegt ihre Wahrheit und die Lüge alles Übrigen beschlossen»[118].
Das ist die vorsichtige Umschreibung einer Ungeheuerlichkeit: Camus entwirft sich gleich in den ersten Tagen nach seiner Ankunft ein Christentum ohne Auferstehung, ohne Himmelfahrt und ohne Heiligen Geist. Ein Christentum, in dessen Zentrum die Verzweiflung des Gottessohnes steht, der sich am Kreuz für Augenblicke von Gott verlassen glaubt. In dieser Einsamkeit des von Gott verlassenen Christus erkennt Camus die Grund-Einsamkeit des Menschen wieder – vor allem die eines völlig verarmten nordafrikanischen Ankömmlings in einer der schillerndsten katholischen Kulturmetropolen des Westens, die von einer Bildungselite dominiert wird, deren Sprache er nicht spricht, deren Code er nicht beherrscht und deren Herkunft er nicht teilt.
Vollkommen allein ist er dennoch nicht und wird es nie sein. Pascal Pia macht ihn bald mit seinem Freund André Malraux bekannt, man verabredet sich zum Mittagessen. Camus befreundet sich mit den Setzern und Sekretärinnen beim Paris-Soir, unter anderem mit der jungen Janine Thomasset, die am 4. Januar 1960 hinter ihm in dem Auto sitzen wird, das ihr Mann, Michel Gallimard, auf der Landstraße bei Villeblevin gegen einen Baum fährt. Als habe er eine Ahnung, wie wenig Zeit ihm noch bleibt, schreibt er in diesen Wochen an Yvonne Ducailar, die zurückgelassene Geliebte in Algier: «Ich werde Journalist sein und jung sterben» – «warum sollte man den Leben nachtrauern, die man nicht gehabt hat?»[119]
Seit zwei Jahren trägt er den Fremden mit sich herum. Manchmal meint er, in seinem Kopf sei alles schon fertig. Manchmal glaubt er, nichts als Unsinn zu Papier gebracht zu haben. Manchmal treffen ihn seine eigenen Sätze wie ein Blitz, und er ist von ihrer Wahrheit restlos überzeugt. Camus arbeitet jetzt Tag und Nacht an den beiden Werken, die ihn unsterblich machen werden, und in gewisser Weise ist es ein Wettlauf mit der deutschen Wehrmacht.
Er weiß, Paris hat ihm diese Konzentration ermöglicht. An seine Oraner Geliebte Francine schreibt er: «und ich glaube, dass ich Paris alles verzeihen kann, weil es mir erlaubt hat, so ganz und gar in meine Arbeit abgekapselt zu leben»[120]. Die Pariser Wüste und das einsame Hotelzimmer kann man zwischen den Sätzen des Fremden noch immer herauslesen. Im Tagebuch pflegt er den Mythos des Dachstubeneremiten, der den Ratschlag von Blaise Pascal beherzigt und sein Leben allein in seinem Zimmer verbringt, unerreichbar und unbeeindruckt von seiner Zeit; die ersten sechs Wochen verlängert Camus in die Zukunft:
«Wie kommt es, dass die Fähigkeit, ein Jahr allein in einem ärmlichen Zimmer in Paris zu wohnen, den Menschen mehr lehrt als hundert literarische Salons und vierzig Jahre Erfahrung im ‹Pariser Leben›. Es ist etwas Hartes, Entsetzliches, zuweilen Peinigendes, und stets dem Wahnsinn so nahe. Aber in dieser Nachbarschaft muss das Wesen eines Menschen sich stählen – oder zugrunde gehen.»
In Wahrheit passt die heroische Einsamkeitspose – der Einzelgänger, der in einer ärmlichen Pariser Klause seine Socken in einer kleinen Plastikschüssel wäscht und ziellos durch die Stadt streunt, ist seit Emmanuel Bove ein Klassiker der französischen Junggesellenliteratur – überhaupt nicht zu Camus. Der war bisher kein der Weltverachtung zugeneigter Außenseiter, sondern ein zur Freundschaft begabter, gegenwartshungriger Mensch. Am wohlsten fühlt er sich in der Fußballmannschaft, im Redaktionsteam oder unter seinen Schauspielern. Doch Paris hat ihn verändert. Die sonnendurchglühte emphatische Tonlage seiner frühen algerischen Texte wird er nie wieder finden. Und den anspielungsreichen, perlend-urbanen Stil der Pariser Intelligenz wird er nie beherrschen. Aus dieser Not entsteht der einzigartige Ton des Fremden.
Es gibt eine Tonaufnahme, in der man ihn hören kann, diesen anderen, so ganz unpariserischen Tonfall Camus’. Sie stammt aus dem April 1954, als Camus an drei Tagen in einem Pariser Studio von Radio France den gesamten Roman eingesprochen hat. Es ist eine schnelle, eine moderne Stimme, die ohne große Ausschläge und Kunstfertigkeiten, in einem wie wegwerfenden, an sich selbst und der Welt überdrüssigen Ton die Tragödie eines Mannes aus Algier erzählt, der zum Mörder wird, weil die Sonne ihn geblendet hat. Es ist vor allem diese in Camus’ Vortrag nachzuempfindende Tonlosigkeit, in der sich Generationen von jungen Nachkriegseuropäern dann wiedererkennen werden. Manchem jüngeren Autor wie beispielsweise dem hinter dem Eisernen Vorhang in dürftigen Verhältnissen lebenden ungarischen Holocaustüberlebenden und späteren Nobelpreisträger Imre Kertész wird diese Tonlosigkeit einmal eine Sprache für das Unsagbare geben, nachdem das Pathos und die Rhetorik des alten Europa davor völlig versagt hatten.[121]