Nemesis oder Gegen ein deutsches Europa
Camus hat einen Albtraum: Er träumt von einer Gesellschaft, in der «zweitausend Bankiers und Techniker über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohnern herrschen, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens» alles gleich und alles gleichermaßen produktiv macht.[224] Auch mit dieser Kritik an der ökonomischen Fortschrittsidolatrie – dem Herzstück seines Essays über die Revolte – greift er seiner Zeit voraus. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre ahnt er die drohende Verwandlung Europas in eine «Weltfabrik», in der das Leben uniformiert und «immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird». Er prognostiziert, dass die «wahren Leidenschaften» ökonomisiert und «die Verstümmelung des Menschen vervielfacht» werde. Während seine Kritik des Staatskommunismus nach dessen Untergang nachgerade prophetisch geworden ist, bleibt seine nicht minder visionäre Wachstumskritik noch zu entdecken.
Doch welche Alternative zur Wachstumsideologie, der einzigen Universalideologie, die das 20. Jahrhundert unbeschadet überlebt hat, soll es geben? Das würde die Frage des Jahrhunderts werden, das nach Camus kam – unseres. Ihn politisch festzulegen fällt, seitdem sich das politische Schachfeld nach 1989 erheblich verändert hat, nicht leichter. 1951, bei einer Konferenz in England, sagt Camus: «Vor allem sollte ich Ihnen meine Vorlieben nicht verheimlichen. Obwohl ich nicht wirklich Sozialist bin, gehören meine Sympathien der libertären Form der Gewerkschaftsbewegung».[225]
In der Regel preist Camus, wo er nur kann – im Combat, in seinen Vorträgen, in Der Mensch in der Revolte –, die skandinavischen Sozialdemokraten, die französischen Libertären und die englische Arbeiterpartei dafür, dass sie dem «dogmatischen Wahnsinn» des europäischen Kommunismus widerstanden hätten. Dennoch ist Camus nicht der Philosoph der europäischen Sozialdemokratie. In seinen Augen hat auch sie der «industriellen Maßlosigkeit» – für ihn neben dem Totalitarismus das Grundübel der Epoche – zu wenig entgegenzusetzen. Der Teufelskreis des Wachstums – «die industrielle Zivilisation schafft und provoziert die künstlichen Bedürfnisse, indem sie die natürliche Schönheit abschafft und sie auf weiten Strecken mit dem Industrieabfall bedeckt»[226] – kann durch sozialdemokratisches Samaritertum nicht durchbrochen werden.
Camus träumt von einem Europa, das nicht von Tag zu Tag reicher, trauriger und hässlicher wird, in dem niemand mehr «die Freude aus der Welt wegwischt und auf später verschiebt».[227] Eine zustellbare politische Adresse hat dieser Traum nicht.
Politisch am nächsten steht Camus letztlich den französischen Libertären, zu denen er über die Freundin Rirette Maîtrejean seit seiner Zeit beim Paris-Soir gute Kontakte unterhält. Camus’ politische Texte (Actuelles II) werden in der neuen, in Zürich ansässigen anarchistischen Zeitschrift Témoins von deren Begründer Jean-Paul Samson in einer ihrer ersten Ausgaben stürmisch begrüßt, und Camus wird dieses Blatt in den nächsten Jahren mit Kommentaren (etwa zum Ungarnaufstand oder zum Arbeiteraufstand in Ostberlin) und mit Rezensionen (etwa über Simone Weil) versorgen.
Auch der Pariser Anarchistenzeitung Le Monde libertaire ist Camus freundschaftlich verbunden. Doch gehen seine gesellschaftspolitischen Träume weit über die des libertären Syndikalismus seiner Zeit hinaus.
Camus, der nie Angst vor großen Worten hatte, bezeichnet seine Utopie als «die Bewegung des Lebens selbst». Etwas nüchterner, jedoch nicht unbedingt klarer nennt er sie auch: «das mittelmeerische Denken», es bleibt die zentrale Denkfigur – des Menschen, des Werks, der epochalen Auseinandersetzung, die er führt. Camus beendet den Essay Der Mensch in der Revolte mit einem Kapitel über das mittelmeerische Denken, die «Pensée de midi». Er tastet sich vor, macht Vorschläge, die wir schon kennen. Das Denken, das er sucht, mag in der «heutigen Welt seinen politischen Ausdruck» im «revolutionären Syndikalismus» finden oder in den «skandinavischen Demokratien». Das kann er sich vorstellen. Doch umfasst die «Pensée de midi» viel mehr als menschenwürdige Politik, Anarcho-Syndikalismus, Solidarität und ein freiheitliches, übernationales Weltparlament. Das alles gehört gewissermaßen nur zu ihrer vernünftigen Außenseite.
Ihre Innenseite bleibt eher still, weltabgewandt und einsam. Sie holt sich ihre Inspirationen bei einer griechischen Göttin namens Nemesis, der Göttin der Rache, die darüber wacht, dass der Mensch sich nicht überhebt. Für Camus ist sie eine Allegorie der Versöhnung, des Maßes, der Liebe und des Ausgleichs. Er holt sehr weit aus, um sich dieser Göttin zu nähern:
«Dieses Gegengewicht, dieser Geist, der dem Leben Maß gibt, ist derjenige, der die lange Überlieferung dessen erfüllt, was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem, seit den Griechen, die Natur stets mit dem Werden im Gleichgewicht stand. Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist. Gemeinde gegen Staat, konkrete Gesellschaft gegen absolutistische Gesellschaft, überlegte Freiheit gegen rationale Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen Kolonisierung der Massen lauten damals die Antinomien, die einmal mehr die Gegenüberstellung von Maß und Maßlosigkeit sichtbar machen, welche die Geschichte des Abendlandes seit der Antike erfüllt. Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht […] zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition».[228]
Ja, die deutschen Träume sollen sich in Europa nicht mehr so breitmachen. Das Europa der Zukunft, das hatte Camus schon in den Briefen an einen deutschen Freund geäußert, soll kein deutsches Europa sein. Davon hatten schließlich schon die Nationalsozialisten ständig gesprochen. Anstelle der Deutschen sollen in Europa herrschen: Bescheidenheit, Brüderlichkeit, Einfachheit, Sonne, hartes Licht, rauer Meereswind, natürliche Schönheit, Gleichgewicht, Altruismus und Augenmaß. Solcherart undeutschen Kräften traute Camus zu, die europäische Zukunft zu gestalten; deren überwiegend lateineuropäischer Zuschnitt erinnerte an die alte Mittelmeerutopie seiner Jugend. Ihr hing übrigens auch Alexandre Kojève in einem heute wieder vielbeachteten Aufsatz über das «Lateinische Imperium» an, in welchem er im Jahr 1945 seine Überlegungen zu einer europäischen Nachkriegsordnung für de Gaulle zusammenfasste.[229] Doch anders als Kojèves machtstrategische Kulturkreistheorie, die einen mediterranen Staatenbund gegen eine neuerliche deutsche Vormachtstellung in Europa favorisierte, blieb Camus’ Sonnendenken mit Bedacht ungreifbar und geheimnisvoll. In den letzten Zeilen seiner großen Welterklärungsschrift paraphrasierte er einige der erdenschweren, dunkel leuchtenden Gedichtzeilen seines Freundes René Char:
«In dieser Stunde, da jeder von uns seinen Bogen spannen muss, um seine Probe wieder abzulegen, mit und gegen die Geschichte zu erwerben, was er schon besitzt, die karge Ernte seiner Felder, die kurze Liebe dieser Erde, in dieser Stunde, da endlich ein Mensch ins Leben tritt, muss man die Epoche und ihre unreifen Rasereien sich selbst überlassen. Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung erreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste Geschoß.»[230]
Nachdem er sein kräftezehrendes, politisch-literarisches Glaubensbekenntnis abgeschlossen und in Lyrik überführt hat, möchte er die Epoche und ihre unreifen Rasereien sich selbst überlassen. Camus möchte aussteigen. Er sucht nun ernsthaft einen Notausgang aus dieser entsetzlichen Anwesenheitspflicht in seinem entsetzlichen Zeitalter. Ihm bleiben noch acht Jahre. Und Char hat noch immer kein Haus gefunden.