Die Mittelmeerphilosophen Plotin und Augustinus
Augustinus wurde nicht weit von Camus’ Geburtsort in der algerischen Hafenstadt Bônes geboren. Plotin vertrat den griechischen Geist an den afrikanischen Küsten des Mittelmeers. Als der Journalist Carl A. Viggiani Camus im Jahr 1958 fragt, welche Gründe ihn bewogen hatten, seine Examensarbeit ausgerechnet über Plotin und Augustinus zu schreiben, sagt der: «Ich fühlte mich als Grieche in einer christlichen Welt.»[77] Camus ist fasziniert von den beiden afrikanischen Philosophen, in deren Zerrissenheit zwischen Hellenismus und Christentum er sich selbst wiederfindet.[78]
Heutigen akademischen Maßstäben würde die Arbeit kaum standhalten. Neben zahlreichen nicht ausgewiesenen Zitaten aus der Forschungsliteratur seiner Zeit übernimmt Camus vor allem aus der Studie «La philosophie de Plotin» von Émile Bréhier die Grundthese und Werkgliederung. Davon abgesehen spürt man die persönliche Anteilnahme des Verfassers, der über Plotin schreibt wie über sich selbst, wenn er etwa von dessen «Erschütterung angesichts der Schönheit der Welt» und von dessen Suche nach dem verlorenen Paradies «auf der Rückseite der Dinge» fabuliert. Bei Plotin findet der dreiundzwanzigjährige Examenskandidat, was ihm selbst gefallen würde: das Wiedereintauchen in die griechische Welt, die Hellenisierung der christlichen Kultur. Plotins «aus orientalischen Religionen und griechischer Mythologie gewirktes Christentum» erscheint ihm beispielhaft für den mediterranen Kulturraum – «eine Erfahrung, die man nicht stillschweigend übergehen sollte».[79]
Die Schlussthese der Diplomarbeit gipfelt in der schon vom kommunistischen Funktionär im Kulturhaus von Algier aufgestellten Behauptung, dass der mediterrane und griechische Geist das judaistische Urchristentum mäßigte und zivilisierte. Den gleichen Gedanken, wenn auch in ungleich grellerer nationalistischer Aufmachung, findet man zur selben Zeit bei den rechten Autoren der Action française um Charles Maurras; diese wollen das Christentum «besänftigt und gefiltert» sehen durch das «großzügige Genie Frankreichs».[80]
Unbekümmert von solchen Nachbarschaften, wird Camus an seinem geophilosophischen Masterplan stets festhalten: Der griechisch-orientalisch-mittelmeerische Geist ist in seinen Augen der Zaubertrank, der die Welt verwandeln kann.
Die Mittelmeereuphorie der romanischen Intellektuellen, die Camus um 1935 begeistert aufgreift, hat eine lange und widersprüchliche Geschichte.[81] In Frankreich eroberte die Idee vom Mittelmeer als einer geistigen Landschaft in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die Köpfe der Intellektuellen, als Autoren aus dem Umkreis Saint-Simons nach Ägypten reisten, das 1798 von Bonaparte besetzt worden war. Als Sohn des französischen Kolonialismus mochte Camus die Entwicklung anders sehen, doch die Mittelmeer-Utopie der französischen Intellektuellen folgte der französischen Besatzungspolitik auf dem Fuß. Im Jahr 1832 feierte der Ökonom Michel Chevalier in seinem Buch Système de la Méditerranée den Traum von einem mediterranen «Hochzeitsbett», in dem Ost und West sich lieben würden. Araber, Juden und Europäer sollten am Mittelmeer den ersten Schritt zu einer Vereinigung tun, welche als Vorbild für einen universalen Menschenbund dienen könnte. Doch 1863 sprach Chevalier vor dem französischen Senat und plädierte für eine breit angelegte Kolonialisierung Algeriens. So ist die Utopie eines mittelmeerischen Synkretismus der Kulturen nie weit entfernt gewesen von der offiziellen kolonialistischen Ideologie der französischen Großmacht, welche die Kolonialisierung als zivilisierende Maßnahme, als «mission civilisatrice» schönredete.
Vom Austausch der Ideen, der den Saint-Simonisten vorschwebte, blieb im Second Empire bald nur der Abtransport der Waren und Rohstoffe aus den besetzten Mittelmeerländern. Aus der kulturellen Utopie wurde ein wirtschaftliches Kalkül, das seine nüchternen Zwecke ideologisch verkleidete. Einige der eifrigen Mittelmeerideologen waren sogar persönlich involviert in die koloniale Enteignungspolitik in Algerien. Andere, wie der rechtskonservative Autor Louis Bertrand, favorisierten unverhohlen die «Latinisierung Afrikas», sprich seine Unterwerfung unter die französische Leitkultur.
Diese Doppelnatur – zur Befreiungs- und zur Unterdrückungsideologie zu taugen – bleibt das schwierige Erbe der Mittelmeerutopie. Die Mittelmeerpolitik unter Napoleon III. fiel zwiespältig aus, einerseits kriegerisch und imperial, andererseits an einer Kooperation der mediterranen Völker interessiert. Auch die Dritte Republik hob in Algerien die Unterdrückung der arabischen Bevölkerung nicht auf, die seit 1881 durch den «Eingeborenencode» ihrer elementarsten Rechte beraubt wurde; sie profitierte jedoch vom Geist des Austauschs unter den vielen Völkern und Sprachen in den besetzten Gebieten.
Mit dem Sieg der Volksfront in Frankreich und in Spanien 1936 bekommt die mediterrane Utopie neuen Auftrieb. Im November 1935, kurz nach der Eroberung Äthiopiens durch die italienischen Faschisten, veranstaltet die «Académie méditerranéenne» eine Mittelmeerkonferenz in Monaco unter dem Titel «Mediterranismus und Humanismus». Jean Ballard gibt in den Cahiers du Sud in den dreißiger und vierziger Jahren zahlreiche Sondernummern zu den Themen «Der Islam und der Westen» (1935), der «mediterrane Mensch» (1943), die «griechischen Mythen» (1939) oder das «ewige Griechenland» (1948) heraus. Auch Camus wird Essays beisteuern.
In den dreißiger Jahren entwickelt sich der frankoalgerische Schriftsteller Gabriel Audisio zum wichtigsten Anwalt der Mittelmeeridee in Frankreich und in Algerien. Der im Jahr 1900 in Marseille geborene Sohn des späteren Theaterintendanten von Algier veröffentlicht in den Jahren 1935 und 1936 bei Gallimard zwei Bände mit Reisefeuilletons rund um das Mittelmeer, Jeunesse de la Méditerranée und Sel de la mer, die für Camus und seine Freunde Jules Roy, Jean Amrouche, Emmanuel Robles und Claude de Fréminville von großer Bedeutung sind.
Audisio vertritt eine über das lateinische Erbe weit hinausreichende Auslegung der Mittelmeeridee. Er erinnert daran, dass neben den Römern an den Ufern des Mittelmeers auch Berber, Araber, Spanier, Vandalen, Türken, Juden, Phönizier, Libyer und viele andere Völker gelebt haben. Rom sei untergegangen, das Mittelmeer sei ewig und der Traum der ganzen Welt. Noch vor Camus erklärt Audisio die konföderale und multikulturelle mittelmeerische Existenz zum Zukunftsmodell für die gesamte abendländische Welt. Ihre Maximen sind bescheiden, wenn nicht asketisch: gut leben und gut sterben, die Achtung der inneren und äußeren Natur, die Beschränkung auf das Elementare, die Koexistenz mit dem anderen. In einer kleinen Skizze beschreibt Audisio die Deutschen, wie sie womöglich, wären sie nur bei den südfranzösischen Boulespielern in die Schule gegangen, die Welt niemals in den Zweiten Weltkrieg gestürzt hätten.
«Ich bin sicher, dass die Deutschen hier mehr suchen als das angenehme Klima. Sie suchen das moralische Klima, vielleicht sogar das philosophische. Einer von ihnen, der die Bewohner von Toulon beim Boulespiel beobachtete, sagte mir, seine Landsleute hätten keine Probleme, wenn sie so sein könnten wie diese Leute. Er verstand die Einfachheit dieser Boulespieler, in der die ewigen und wirklichen Probleme unserer Existenz verborgen liegen: die Eroberung des alltäglichen Glücks und der friedliche Heroismus, das menschliche Maß nicht zu überschreiten. Gut leben und gut sterben.»[82]
Diese idyllische Spielart der mediterranen Ideologie, der Camus wie Audisio, Grenier und all die anderen jungen frankoalgerischen Intellektuellen begeistert folgen, steht am Ende der dreißiger Jahre in einem unauflösbaren Widerspruch zur imperialen Mittelmeerpolitik ihres Landes, die sich seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise noch verschärft hat.
So liegt von Anfang an ein Schatten auf dem «Sonnendenken» der mediterranen Intellektuellen. Die «pensée du midi», die Camus geprägt hat, entsteht im Umkreis privilegierter, durch die Bildungsanstalten der Dritten Republik erzogener Kolonistensöhne. Der großen Kluft, die sich zwischen ihrem sonnigen Mittelmeerdenken und der Wirklichkeit der französischen Kolonialherrschaft auftut, schenken die Mittelmeerphilosophen wenig Beachtung. Camus’ schwärmerische Mittelmeerrede im Kulturhaus von Algier geht darüber hinweg, dass sie in einem Land gehalten wird, in dem die arabische Bevölkerung keine Bürgerrechte hat und einer gesonderten Strafgesetzgebung unterliegt. Gabriel Audisio nimmt in seiner Rolle als Direktor der algerischen Tourismus- und Landwirtschaftsbüros sogar persönlich am kolonialen Ausbeutungsgeschehen teil. Viele Autoren, die der Mittelmeeridee anhängen, werden in den kommenden Jahren kollaborieren. Jules Roy, ein junger algerischer Autor, der mit Camus zur sogenannten mediterranen «algerischen Schule» gehört, wird sich mit seinem Essay «La France sauvée par Pétain», «Frankreich durch Pétain gerettet», dem Vichy-Regime andienen. Der südfranzösische Mittelmeersänger Jean Giono wird einer der zuverlässigsten Teilnehmer der intellektuellen Kollaboration werden und nach dem Krieg vom nationalen Schriftstellerkomitee als «Verräter» angeklagt.
Keiner der Mittelmeerautoren, auch Camus nicht, wird sich jemals offen gegen die französische Eroberung Algeriens aussprechen. Einzig der Dichter Jean Amrouche, Sohn einer vollständig assimilierten und zum Katholizismus konvertierten Berberfamilie, wird sich in den fünfziger Jahren gegen die französische Besatzung seiner Heimat auflehnen. Seinem Beispiel folgt dann der junge frankoalgerische Autor Jean Sénac – mit Camus wird er sich in dieser Frage überwerfen.
Das Sonnendenken hat sich kompromittiert und ist in Vergessenheit geraten. Neben den Großideologien des 20. Jahrhunderts wirkte das Mittelmeerdenken zu regional, zu defensiv und auch zu vage, um im Wettkampf der Gesellschaftstheorien und Lebensmodelle eine führende Rolle zu spielen. Die Sprengkraft, die in ihm liegt, wird seither unterschätzt.
Als Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 – auch im Namen Albert Camus’ – für die Wiederbelebung einer Mittelmeerunion warb, die an den europäischen Traum der Kreuzfahrer im Nahen Osten und der Kolonisten im Maghreb anknüpfen sollte, erinnerte seine Rhetorik an die Floskeln von der «zivilisatorischen Mission» der Grande Nation. So verwundert es nicht, dass sein präsidialer Restaurationsversuch einer großfranzösischen Variante der Mittelmeeridee im krisengeplagten Europa wenig Anklang fand. Dennoch hat die Idee nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Denn das regionale und konföderale Mittelmeerdenken hat die nationalen und politischen Großideologien überlebt und ist vielleicht die einzige Gesellschaftsutopie des 20. Jahrhunderts, die noch eine Zukunft hat.
Camus’ gesamter mittelmeerischer Begriffshaushalt – die Mittelmeerkultur, das Sonnendenken, die «pensée du midi» – geht zurück auf seine Vorstellung vom alten Griechenland. Er fühle sich als Grieche, er habe ein griechisches Herz, sagt er oft. Was versteht er darunter?
Camus’ Tagebuch der dreißiger Jahre nennt zwei deutsche Quellen, aus denen er seine Kenntnisse des Griechischen bezieht: Friedrich Nietzsche und den Nietzscheschüler Oswald Spengler. Gedanken und Zitate aus der Einleitung zu Spenglers Untergang des Abendlands füllen viele Seiten. Das 1917 mit dem ersten Band in Deutschland erschienene, sehr populäre und einflussreiche Buch ist für Camus eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Von Spengler übernimmt Camus nahezu unverändert einen ganzen Satz geschichtsphilosophischer Ideen: die Gegenwart Westeuropas mit der spätrömischen Untergangszeit zu vergleichen; «die Vertikaltendenz» des eroberungswütigen Westeuropäers dem maßvollen griechischen Geist entgegenzusetzen; die Kritik an den «weltstädtischen Gehirnmenschen», die, so Spengler, «aus der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie entwickelt haben».[83]
Auf der welthistorischen Landkarte des Münchener Privatgelehrten kommt den Griechen, den angeblich naiven Lieblingen der deutschen Studienräte, der wichtigste Gegenpart zum untergehenden Abendland zu. Passend zu dieser Rolle, schneidert Spengler den Griechen ein sanftes Seelenkleid. Da für die abendländische Volksseele schon die «Vertikaltendenz», die Tatkraft und das kriegerische Gegeneinander reserviert sind, bleiben den Griechen in diesem Historienbild nur die Interesselosigkeit am Lauf der Welt, das friedfertige Nebeneinander, die Willenlosigkeit, die Gleichgültigkeit, die Einfachheit und die Freude an der reinen Gegenwart. Camus resümiert Spengler: «Die Griechen haben als glückliches Volk keine Geschichte».[84] Dasselbe wird er immer wieder von den Algeriern behaupten, die er nach Art der deutschen Historienmaler ebenfalls zu bukolischen Griechen erklärt.
Camus’ Bild des Griechischen übertrifft in seiner Idyllik jedoch beinahe noch das seiner deutschen Erfinder, von Johann Joachim Winckelmann über Friedrich Hölderlin bis zu Oswald Spengler. An diesem von deutschen Philologen ersonnenen Phantom hält Camus noch ein Jahrzehnt später fest, als er in einer Sonderausgabe der Cahiers du Sud in seinem Essay «Helenas Exil» die unschuldigen Griechenlandträume der Deutschen unvermindert wiederholt:
«Für das griechische Denken war stets die Begrenzungsidee vorherrschend. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige noch die Vernunft, weil es nie etwas verleugnete, weder das Heilige noch die Vernunft. Es hat alles einbezogen, den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend. Unser Europa hingegen, das sich berufen fühlt, alles zu erobern, ist die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und es betet, sei es auch auf verschiedene Weise, ein Einziges an: den zukünftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und in diesem Augenblick stürzen sich düstere Erinnyen darauf und zerreißen es. Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft.»[85]
Europa, das sich in der Welt zu Tode siegt, muss ein Korrektiv finden: eine Kritik der abendländischen Vernunft. Camus zeigt sich in dieser Frage hoffnungsvoll. Das Korrektiv ist das griechische Erbe. Die Griechen, oder das, wofür Camus sie hält, sind der Beweis, dass es für Europa einen anderen, einen dritten Weg gegeben hätte und noch immer gibt. Anders als Spengler, der von seinem Schwabinger Privatgelehrtensitz auf das Ameisengewimmel der untergehenden Kulturen mit dem unbewegten Herzen eines Insektenforschers herabblickt, ist Camus selbst leidenschaftlich griechisch.
«Wieder einmal wird sich die Philosophie des Dunkels verflüchtigen über dem strahlend hellen Meer», schreibt er am Ende seines Griechen-Essays. Drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, drei Jahre nach dem Holocaust wird Camus noch immer an die versöhnende Zauberkraft des strahlend hellen Mittelmeers glauben. Er ist sicher: «Wir werden die Griechen wieder erreichen». Und: «Der Sinn der Geschichte von morgen ist anders, als man glaubt».
Dies ist kein Startschuss, um barfuß in den Unschuldsstand der griechischen Antike zurückzustürmen, sondern ein Aufruf zu einem «griechischen» Leben in der Moderne. Denn das Elend Europas, seiner in Hässlichkeit erstarrten Städte, seiner unbarmherzigen Kollektivideologien, seiner Freudlosigkeit ist, mit griechischen Augen betrachtet, einzig das Ergebnis einer Niederlage des mittelmeerischen Geistes.
«Die Menschen Europas, den Schatten preisgegeben, haben sich vom strahlenden Fixpunkt abgewandt. Sie vergessen die Gegenwart im Blick auf die Zukunft, den Gewinn der Menschen um des Rausches der Macht willen, das Elend der Vorstädte über durchlichteten Wohnsiedlungen und die tägliche Gerechtigkeit über einem eitlen verheißenen Land. Sie verzweifeln an der Freiheit der Person und träumen von einer befremdenden Freiheit der Gattung; sie lehnen den einsamen Tod ab und nennen Unsterblichkeit eine ungeheure kollektive Agonie. Sie glauben nicht mehr an das, was ist, an die Welt und den lebendigen Menschen; das Geheimnis Europas ist, dass es das Leben nicht mehr liebt. Seine Blinden haben kindisch angenommen, einen einzigen Tag des Lebens zu lieben sei gleichbedeutend mit der Rechtfertigung von Jahrhunderten von Unterdrückung. Deshalb wollten sie die Freude aus der Welt wegwischen und sie auf später verschieben. Die Ungeduld angesichts der Grenzen, die Abweisung ihres doppelten Wesens, die Verzweiflung, Mensch zu sein, warfen sie schließlich in eine unmenschliche Maßlosigkeit. Da sie die echte Größe des Lebens leugneten, mussten sie auf ihre eigene Vortrefflichkeit setzen. Mangels Besserem haben sie sich vergöttlicht, und ihr Elend begann: diese Götter haben blinde Augen».[86]
Man hat Camus stets als einen Gegner des Totalitarismus gelesen und darüber den Zivilisationskritiker und den Ästheten vernachlässigt. Doch in der «Theorie über den Mittelmeerraum»[87], die Camus vorschwebte, sollte alles zusammenkommen. Eine Kritik des hässlichen totalitären Denkens und eine Kritik dieses unvorstellbar hässlichen modernen Zweckbaus namens Europa. Die Schönheit ist für den Nietzscheschüler Camus ein Kriterium der Wahrheit. Je weniger Sinn und Ziel die Geschichte hat, umso schöner sollte das Leben sein. Eine andere Lebensrechtfertigung als die Schönheit kann es für Europa nicht geben. Am 15. Februar 1952 wird Camus dem Journalisten Pierre Berger entgegnen:
«Ich habe nicht gesagt, die Lösung aller Dinge liege im Mittelmeer. Ich habe lediglich gesagt, dass sich, nach 150 Jahren, die europäische Ideologie gegen die Begriffe der Natur und der Schönheit und folglich auch der Grenze formiert hat. Begriffe, die im Zentrum des mittelmeerischen Denkens standen. Ich habe gesagt, dass damit ein Gleichgewicht zerbrochen ist. Von den Küsten Afrikas aus, wo ich geboren wurde, sieht man das Gesicht Europas besser. Und man weiß, dass es nicht schön ist.»[88]